Belarus-Analysen

Ausgabe 56 (27.07.2021) — DOI: 10.31205/BA.056.01, S. 2–5

»Der Genozid am Belarusischen Volk« als politischer Diskurs und Strafverfolgungspraxis

Von Felix Ackermann (Deutsches Historisches Institut, Warschau)

Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird die Verbindung zwischen offizieller Geschichtspolitik der Republik Belarus und der Verfolgung von Anhängern:innen der Protestbewegung beleuchtet. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie das sowjetische Narrativ vom Genozid am belarusischen Volk infolge der Massenproteste nach dem Spätsommer 2020 aktualisiert wurde, um es ideologisch, politisch und juristisch gegen Oponent:innen des Regimes von Aljaksandr Lukaschenka zu richten. Im Frühjahr 2021 nahm die daraus resultierende aktive Verfolgung eine neue Wendung gegen die polnische Minderheit innerhalb der Republik Belarus.

Der Genozid am Belarusischen Volk

Am 22. März 2021 gab Aljaksandr Lukaschenka mit seiner Rede zum 78. Jahrestag der Zerstörung von Chatyn den neuen Tonfall einer radikalisierten staatlichen Geschichtspolitik vor. Das unter deutscher Besatzung zerstörte Dorf ist eine Chiffre für die 186 Ortschaften, die nach der Vernichtung seiner Bewohner:innen und Behausungen nicht mehr aufgebaut wurden. Außerdem wird dort an die 433 verbrannten und wieder aufgebauten Dörfer erinnert. Am Beginn der Rede bezieht sich Lukaschenka auf sowjetische Versatzstücke, die als Begründung einer neuen Art von Nation als Reaktion auf die national-sozialsozialistische Vernichtung verweisen: »Diese Wahrheit ist schrecklich, diese Erinnerung wiegt schwer. Vergegenwärtigen Sie sich, dass die Besatzer und ihre Helfer, örtliche Polizisten über 9.200 belarusische Dörfer, von ihnen mehr als 5.000 zusammen mit den Einwohnern verbrannt haben. Wir wissen, wie das alles beginnt. Es beginnt mit der Idee rassischer und genetischer oder beliebiger anderer Überlegenheit der einen Völker über andere; mit der Unterscheidung Höherer und Niederer. Es ist schrecklich, dass diese Theorien heute noch Anhänger in der ganzen Welt finden. Aber zum Glück ist die faschistische Ideologie unseren Belarusen fremd, deren genetisches Gedächtnis zu ihrer nationalen Immunität wurde.« Mit einem kleinen rhetorischen Eingriff bringt Aljaksandr Lukaschenka den geschichtspolitischen Pfeil in Stellung. Er blendet in der Rede den Holocaust aus und verengt den Nationalsozialismus in der besetzten BSSR auf die Verfolgung von Slaw:innen: »In diesem Gedächtnis liegt viel Schmerz und Leid. In ihm wird eine tragische historische Erfahrung aufbewahrt. Es ist eine Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg nicht einfach nur ein Krieg war. Er wurde zur geplanten Auslöschung unserer slawischen Völker,« heißt es weiter. Diese Formel genozidaler Gewalt gegen Belarus:innen (und die hier nicht explizit erwähnten Russ:innen und Ukrainer:innen) wendet Lukaschenka schon im nächsten Satz gegen die belarusische Protestbewegung, in dem er ihr unterstellt, Anhänger:innen nationalsozialistischer Ideologie zu sein: »An diesem Jahrestag der Tragödie von Chatyn möchte ich mich an die wenden, die bewusst versuchen die Symbole des Nationalsozialismus wiederzubeleben.« In der Ansprache wird deutlich, dass Lukaschenka explizit diejenigen Bürger der Republik Belarus meint, die im Spätsommer und Herbst 2020 betont gewaltfrei unter der weiß-rot-weißen Flagge gegen seine Herrschaft demonstriert hatten. Bedenkt man, dass der Zweite Weltkrieg auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus etwa zwei Millionen Opfer gefordert hat, sind die folgenden Formulierungen unhaltbare, ehrabschneidende und boshafte Unterstellungen: »Ich wende mich an all diejenigen, die davon überzeugt sind, dass der Faschismus die Zivilisation in unser Land gebracht habe. An die, die die Mörder heroisieren, an die, die sich vor weiß-rot-weißen Flaggen verneigen, unter denen der Genozid am belarusischen Volk vollzogen wurde.« Die behauptete Verherrlichung dient allein der rhetorischen Begründung der mit dieser Rede angekündigten Verfolgung der politischen Gegner:innen: »Wir haben uns dieses Problems angenommen. Wir werden beweisen und der ganzen Welt zeigen, was Genozid ist, und dass die, die uns heute zu belehren versuchen, wie wir zu leben haben, dass sie zumindest darauf kein Recht haben.« In dieser allgemein gehaltenen Formulierung ist sowohl die folgende Stoßrichtung der Geschichtspolitik in Richtung Litauen und Polen als auch gegen die eigene Bevölkerung in der Republik Belarus angelegt. Im zweiten Teil der Rede verstärkt Lukaschenka die rhetorische Anmaßung noch, in dem er das Ausmaß nationalsozialistischer Gewalt auf die heutige Protestbewegung projiziert.

An der Argumentation der Rede lässt sich ablesen, was bereits in den Monaten seit August 2020 öffentlich sichtbar wurde: Aljaksandr Lukaschenka hatte als Reaktion auf das historische Ausmaß der Proteste beschlossen, dass er Hunderttausende friedliche Demonstrierende und ihr gemeinsames Symbol bürgerschaftlichen Protests – die weiß-rot-weiße Flagge – zu Anhänger:innen des Nationalsozialismus und die Flagge zu einem faschistischen Symbol erklärt. Er hatte bereits zuvor immer wieder behauptet, dass es eine ideologische Linie gebe, die von den belarusischen Kollaborateuren der deutschen Besatzern über die Emigration bis hin zur Nationalbewegung am Ende der Sowjetunion führen. Nun begann Lukaschenka eine angebliche Kongruenz zwischen der Ideologie des Nationalsozialismus und der Protestbewegung zu behaupten. Zentral dafür war die Einstuftung der weiß-rot-weißen Flagge als extremistisches Symbol. Zu dieser hatte Lukaschenka noch 2020 den öffentlichen Startschuss gebenen, der im Folgenden von ihm untergegebenen Diensten als Aufforderung zum Übergang von Geschichtspolitik hin zu Strafverfolgung verstanden wurde. Noch 2019 war im Zuge der Vorbereitung einer Novelle des Gesetzes zur Extremismusbekämpfung nach Beratungen mit Hochschulen, der Akademie der Wissenschaften, dem KGB und anderen Diensten, die weiß-rot-weiße Flagge als nationales Symbol eingestuft und nicht verboten worden. Die Argumentation der entscheidenden Gutachten verwies auf die Rolle der Flagge 1918 und 1991 als Hoheitszeichen eines in Gründung befindlichen belarusischen Staats. Auch Aliaksandr Lukaschenka war 1994 nach den einzigen freien Wahlen der Republik Belarus noch unter dieser weiß-rot-weißen Flagge als Staatsoberhaupt vereidigt worden. Im Frühjahr 2021 wurde die neue offizielle Bewertung der Flagge verbunden mit einer neuen geschichtspolitischen Kampagne. Dazu gaben für Geheimdienste und Staatsideologie zuständige Einrichtungen ein klar verständliches Codewort aus: Genozid.

Die Aktualisierung des Narrativs vom »Genozid am Belarusischen Volk« hatte zur Folge, dass die Staatsanwaltschaft im Mai 2021 Ermittlungen aufnahm, um ein Untersuchungsverfahren wegen »Genozid am Belarusischen Volk« einleiten zu können. Dazu sandte die Generalstaatsanwaltschaft mehrere Gesuche um Amtshilfe an Einrichtungen in Deutschland, von denen sie annahm, dass sie über Dokumentationen der Nachkriegs-Prozesse u. a. in Nürnberg verfügen. In sozialen Netzwerken wurde kolportiert, dass im Juni 2021 in zeitlicher Nähe zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in Minsk systematisch überlebende Hälftlinge deutscher Konzentrationslager sowie ehemalige Zwangsarbeiter telefonisch unter Druck gesetzt wurden, um nach mehreren Jahrzehnten nochmals Auskunft über ihre Erlebnisse zu geben. Dabei wird einerseits in Kauf genommen, dass diese Überlebenden durch den staatlichen Zwang zur Auskunft erneut traumatisiert werden. Andererseits gibt es Anzeichen dafür, dass die neuerlichen Ermittlungen nicht der Feststellung von Täterschaft dient, sondern in erster Linie Aussagen zu Tage fördern sollen, die ermöglichen, die weiß-rot-weiße Flagge in Verbindung mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Allgemeinen oder konkreten Erschießungen im Besonderen zu bringen. Es ist also davon auszugehen, dass das Ermittlungsverfahren Teil der gezielten Diffamierung und versuchten Delegitimierung der Protestbewegung ist. Diese staatliche Geschichtspolitik und die aus ihr resultierende Strafverfolgung sind also nur Mittel zum Zweck, der Erzählung der Protestierenden von der Möglichkeit friedlicher Selbstbestimmung eine Erzählung eines bereits vollzogenen Genozids entgegen zu setzen.

Struktureller Antisemitismus und die Verfolgung der polnischen Minderheit

Die staatliche Aktivierung von Strafverfolgung eines Genozids am Belarusischen Volk erfolgte in Lukaschenkas Rede sowie in weiteren öffentlichen Verlautbarungen zum Thema ohne die explizite Erwähnung der etwa 500.000 Opfer des Holocausts auf dem Gebiet der BSSR. Zugleich werden die in der besetzten Sowjetunion sowie im besetzten Polen ermordeten Juden stets in die aufgerundete Opferzahl von »jedem dritten Belarusen« aufgenommen. Diese bewusste Manipulation steht ganz in der Tradition sowjetischer Erinnerungstafeln, die an den Erschießungsstellen des »Holocaust by Bullets« »Ermordete sowjetische Zivilisten« vermerken. Die politische Forcierung einer Genozid-Erzählung bei gleichzeitig weitgehender Auslassung des Holocausts ist an sich ein antisemitischer Akt.

In unmittelbarer zeitlicher Nähe kam es in den Monaten April und Mai 2021 zu einem deutlichen Anstieg offen antisemitischer Aussagen in Staatsmedien. Diese richteten sich gegen konkrete Personen, die als Juden dargestellt und beleidigt wurden – wie etwa im Fall des Düsseldorfer Historikers Alexander Friedman, der wiederholt auf den Seiten der vom Präsidialamt herausgegebenen Zeitung Sowjetskaja Belorussija offen angegriffen wurde. Zusätzlich versuchen die Akteur:innen der Staatspropaganda systematisch, die Protestbewegung als Ergebnis eines geheimen Plans ausländischer Mächte darzustellen. In dieser Vorstellung vermengen sich konkrete Hinweis auf angebliche jüdische Vorfahren einzelner Akteur:innen in der Protestbewegung mit der strukturell antisemitischen Vorstellung von »vaterlandslosen Gesell:innen«, die sich von ihrer Heimat abgewandt haben und gegen Geld für fremde Mächte tätig werden. Diese Versuche, die Protestbewegung zu diffamieren, sind strukturell antisemitisch, auch wenn sie sich nicht in erster Linie gegen die jüdische Minderheit in Belarus richten.

Die entscheidende Veränderung im Frühjahr 2021 war die Übertragung dieser strukturell antisemitischen Erklärung der Proteste als angebliches Machwerk ausländischer Agenten auf Polen und Litauen als Staaten, von denen aus die Protestbewegung mithilfe von Geheimdiensten koordiniert werde. Als Beleg kann eine bestellte Demonstration am Tag nach der Chatyn-Rede Lukaschenkas vor der Botschaft der Republik Polen in Minsk gedeutet werden, auf der unter anderem ein Plakat »Gegen einen neuen Genozid am Belarusischen Volk« zu sehen war. Die groben ideologischen Holzschnitte der für Propaganda zuständigen Träger des Lukaschenka-Regimes sind inzwischen so überzogen und von jeder empirischen Wirklichkeit abgekoppelt, dass in »Sowjetskaja Belorussija« selbst Behauptungen abgedruckt werden, die Protestbewegung oder die Sanktionen vonseiten der EU bewirkten angeblich 2021 einen Genozid.

Der diskursiven Vorgabe eines angeblichen Angriffs aus Polen und Litauen auf Belarus folgte noch im März 2021 die Strafverfolgung wichtiger Vertreter der polnischen Minderheit, die im Nordwesten der Republik in einem von den belarusischen Behörden nicht anerkannten und von Polen aus unterstützten Bund der Polen organisiert ist. Neben der Vorsitzenden Andżelika Borys und dem Publizisten Andrzej Poczobut wurden im März an den Tagen nach Lukaschenkas Rede in Chatyn drei weitere Polinnen verhaftet, die in kleineren Ortschaften Bildungsarbeit auf Polnisch organisiert hatten. Borys erhielt zunächst eine Arreststrafe von 15 Tagen, weil sie – wie in den Jahren zuvor – im März den traditionellen Frühjahrsmarkt zu Ehren des Hl. Kasimiir organisiert hatte. Poczobut wird zur Last gelegt, dass er im Februar 2021 in Brest einen Workshop zur Geschichte der Verfemten Soldaten organisiert hatte, die nach Auflösung der Heimatarmee weiter in den Wäldern in den ehemaligen Ostgebieten der Republik Polen verharrten und punktuell sowjetische Funktionsträger sowie vereinzelt russisch-orthodoxe Bauern angriffen. Dabei wurde noch auf den dritten Teil des § 130 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus zurückgegriffen, der etwa analog zum Straftatbestand der Volksverhetzung in Deutschland angelegt ist. Dabei wird einer ganzen Gruppe zur Last gelegt, sie würden den Nationalsozialismus verherrlichen. Die Polnische Schule in Brest, wo der Workshop stattgefunden hatte, wurde wegen angeblicher Gesetzesverletzungen geschlossen. In kleineren Ortschaften wie Baranawitschy und Walkawysk erfolgten Kontrollen von Sprachschulen, bei denen der Eindruck entstand, es würden sowohl die Polnisch-Lehrer:innen als auch ihre Schüler:innen in den Fokus der Strafverfolung geraten.

Ziel der punktuellen Verhaftungen von Vertreter:innen der polnischen Minderheit in Belarus ist einerseits eine symbolische Reaktion auf die Unterstützung der Protestbewegung vonseiten der Republik Polen – etwa in Form des von Polen aus operierenden Satellitenfernsehens Belsat oder des Telegram-Kanals Nexta. Andererseits dient die öffentliche Hetzjagd auf Pol:innen in Belarus vor allem der Abschreckung nach Innen. So wird eine große und sichtbare ethnische Minderheit als Sündenbock angeprangert und in Verbindung mit dem Argument, dass ihr Protest von außen gesteuert sei, werden die Inhaftierten gezielt unter Druck gesetzt, das Land zu verlassen. Damit wird indirekt nahe gelegt, dass diese Möglichkeit allen Pol:innen – und Protestierenden – offen stehe. Die Struktur dieses Vorgehens erinnert an antisemitische Kampagnen in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren in Polen und der Sowjetunion.

Das Gesetz zur Verhinderung der Rehabilitierung des Nationalsozialismus

Eine Veränderung des juristischen Rahmens ergab sich durch die Nivellierung des Gesetzes zur Bekämpfung von Extremismus, das so überarbeitet wurde, dass jede Form von Protest – egal ob als Gemeinschaft im Hinterhof, als Marsch durch das Stadtgebiet oder als große nicht genehmigte Demonstration als Form von Extremismus verfolgt werden kann. Eine besondere Bedeutung spielt dabei die neue Interpretation von vormals staatlichen Symbolen – allen voran der weiß-rot-weißen Flagge sowie dem auf Belarusisch als Pahonia bezeichneten Wappen. Auf Drängen des KGB sollen diese Symbole ebenso wie der Ruf »Es lebe Belarus« als nationalsozialistische Symbole behandelt werden. Dass dieser verleumdende Modus der Bekämpfung jeglicher Form von Bürgerprotest vonseiten des Staats die Grundlage zukünftiger Verfolgungen ausmacht, ist am Wortlaut des neuen Gesetzes zur Verhinderung der Rehabilitierung des Nationalsozialismus zu erkennen, das so geschrieben wurde, dass jede Protestform mit der weiß-rot-weißen Flagge als öffentliche Verherrlichung des Nationalsozialismus gedeutet werden kann. Dabei kommt es zu der im Umgang mit der Flagge bereits aufgezeigten semiotischen Verschiebung.

Einerseits wird Nationalsozialismus im Gesetzestext wie folgt definiert: eine »totalitäre Ideologie (Doktrin) und Praxis, die von Hitler-Deutschland, seinen Verbündeten und Satelliten von 1933 bis 1945 angewandt wurde, verbunden mit totalitären terroristischen Herrschaftsmethoden, die offizielle Rangordnung aller Nationen in Bezug auf ihren Wert und Propaganda, die die Überlegenheit bestimmter Nationen über andere fördert, begleitet von Verbrechen gegen Frieden und Sicherheit.« Andererseits erhalten so viele staatliche Einrichtungen einen Auftrag zur Bekämpfung der Verherrlichung des Nationalsozialismus, dass der Gesetzestext für ganz unterschiedliche Tätigkeiten eingesetzt werden kann. Dazu gehören neben der Staatsanwaltschaft, dem Ministerium des Inneren auch die Akademie der Wissenschaften sowie auf lokaler Ebene die örtlichen Exekutiv- und Verwaltungsbehörden. Sie haben den Auftrag zur Überwachung eines breiten Spektrums von Kultur, Medien und Wissenschaft, aber auch Gewerkschaften, Parteien und religiöse Organisationen. Durch die neue Deutung der weiß-rot-weiße Flagge und anderer Symbole, die von 1991 bis 1995 Staatssymbole waren, als nationalsozialistische Symbole, lässt sich auf Grundlage dieses Gesetzes praktisch jeder Bürger und jede Bürgerin der Republik Belarus verfolgen, die eine von der Staatsmacht abweichende Meinung haben. Dabei spielen ihre konkreten ideologische Orientierung und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus überhaupt keine Rolle, denn bei diesem Verweis handelt es sich nur um eine narrative Struktur, um jede Form von Protest als Inkarnation des Bösen darzustellen.

Abschließend lässt sich feststellen, dass in Belarus staatliche Stellen sowohl die Protestbewegung als auch die Historiographie zum Zweiten Weltkrieg als Teil eines angeblich hybrid geführten Krieges gegen den belarusischen Staat darstellen. Wadsim Lakisa, der Direktor des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Akademie der Wissenschaften formulierte das auf einer Konferenz zum 80. Jahrestag des Überfalls des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion im Juni 2021 in Hrodna so: »Seit dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges sind achtzig Jahre vergangen. Und es scheint, dass wir alles wissen. Es gibt Tausende von wissenschaftlichen Artikeln, Dutzende von Monographien, Sammelausgaben, dokumentarische Bücher. Aber wer hätte gedacht, dass wir wieder ›kämpfen‹ müssen. Wir befinden uns in einem Zustand der hybriden Kriegsführung, ein Element davon ist der Versuch, die Geschichte zu verzerren und die Rolle des sowjetischen Volkes beim Sieg über den Faschismus zu nivellieren. Es ist wichtig, die historische Wahrheit zu verteidigen, sie zu bewahren.« Genau deshalb sei die Wiederaufnahme von Ermittlungen zum Straftatbestand des Genozid an Belarus:innen wichtig, ebenso wie die Verhinderung der Rehabilitierung des Nationalsozialismus. Abschließend behauptet er erneut und ohne empirische Grundlage, dass die nationalsozialistische Ideologie heute sowohl in Deutschland, unter den Kollaborateuren des Deutschen Reichs wie unter ihren (geistigen und direkten Bluts-)Nachfahren – gemeint sind die Anhänger der Protestbewegung – noch immer weit verbreitet sei, weil sie nicht nur keine Buße gezeigt hätten, sondern aktiv versuchen, ihre Ideologie zu verbreiten.

Dieses Zitat ist wichtig, um zu verstehen, dass es den verantwortlichen Personen in der Republik Belarus 2021 nicht um eine aktive Auseinandersetzung um einzelne Interpretationen des Zweiten Weltkriegs geht. Stattdessen versuchen sie den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« als Ressource im Konflikt mit einem Großteil ihrer eigenen Bevölkerung nutzbar zu machen. Diesen Konflikt verstehen Lakisa und Lukaschanka als Krieg. Sie führen ihn zugleich nach Innen gegen die Bürger:innen, die noch immer gegen die Gewalt des Regimes eintreten, und nach außen gegen die EU-Staaten, die die Sanktionen gegen Lukaschenka unterstützt haben. Weil es sich dabei in der Gedankenwelt von Aljaksandr Lukaschenka nicht um einen metaphysischen, sondern um realen Krieg handelt, ist es nur folgerichtig, dass nach der symbolischen Ausgrenzung der Protestbewegung, die strafrechtliche Verfolgung begann. Diese wird im Alltag von mehr als 530 politischen Gefangenen zu physischer Gewalt.

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