Belarus-Analysen

Ausgabe 63 (18.11.2022), S. 2–5

Ist das belarusische Regime als Marionettenregime zu betrachten? 
Was bedeutet das für den Westen?

Von Aleh Hulak (Belarusisches Helsinki-Komitee)

Zusammenfassung
Die Abhängigkeit Lukaschenkas von einer Unterstützung aus Russland erreichte während der Präsidentschaftswahlen von 2020 eine kritische Dimension. Der von Russland entfesselte Krieg gegen die Ukraine hat die geopolitische Polarisierung weiter verschärft. Es herrscht jetzt verbreitet die Ansicht, Lukaschenkas Regierung sei nur noch ein Marionettenregime. Man kann annehmen, dass dem nicht so ist. Sollte das Erwartungen nähren, dass man in den Beziehungen zur Europäischen Union zu einer Taktik schrittweiser »Tauwetterperioden« zurückkehren kann? Auch hier ist die Antwort »Nein«, weil sich das Stimmungsbild in Belarus nach den für Lukaschenka katastrophalen Wahlen ganz essenziell gewandelt hat. Repressionen sind nun zum wirksamsten gesellschaftspolitischen Instrument in Belarus geworden. In dem Beitrag werden die Faktoren diskutiert, die eine Demokratisierung von Belarus bewirken könnten, wie auch ein mögliches Vorgehen des Westens in diesem Zusammenhang.

Ist das Regime noch selbständig?

Die Abhängigkeit des belarusischen Regimes von einer Unterstützung durch Russland, die bereits nach der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste von 2020 zugenommen hatte, hat sich weiter verschärft, nachdem Lukaschenka in eine Unterstützung des russischen Angriffskriegers gegen die Ukraine verwickelt wurde. Selbst das Gerede offizieller belarusischer Kreise von einer multivektoralen Außenpolitik hat aufgehört – es wurde auf Russland gesetzt. Die These von einer Marionettenrolle Lukaschenkas wird von diversen Experten und Politikern aller Ebenen vertreten. Meiner Ansicht nach ist dies jedoch nicht ganz so eindeutig. Hier ist eine Reihe von Aspekten zu berücksichtigen.

Die Bewegungsfreiheit der belarusischen Regierung hat sich in der Tat erheblich verringert. Wenn es früher noch möglich war, mit Hilfe von Absprachen mit der Europäischen Union oder mit einzelnen Mitgliedstaaten der EU zu operieren, so hat sich das Multivektorale jetzt zu einer Beteiligung unterschiedlicher Intensität an dem russischen Angriffskrieg gewandelt. Allerdings muss auch darauf verwiesen werden, dass Minsk auf offizieller Ebene insgesamt vor allem versucht, seinen Status als eigenständiges Subjekt und seine Selbständigkeit zu bewahren. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist die jüngste Visite Lukaschenkas in Abchasien am 28. September 2022. Offiziell ist er gar nicht richtig in Abchasien gewesen und hat sich nicht mit einem abchasischen Präsidenten getroffen. Wie es in der Sparte »Reisen« (und nicht »Staatsbesuche«) auf der offiziellen Webseite des belarusischen Präsidenten heißt, handelte es sich um einen »Besuch historischer Stätten an der nordöstlichen Küste des Schwarzen Meeres und ein Treffen mit Aslan Bschanija«.

Selbstverständlich fielen die unmittelbaren Reaktionen europäischer und georgischer Politiker sowie in den Medien eindeutig negativ aus, doch nach einigen Monaten wird diese Reise, falls keine ernstzunehmende Bestätigung einer Anerkennung des abchasischen Gebildes folgt, kaum als großer Aufreger in Erinnerung bleiben. Dies gilt umso mehr angesichts der Kriegsereignisse in der Region. Auch bei dieser Frage wurde die Position korrigiert. In den Äußerungen hat sich der Ton von siegestrunken in Richtung eines »wir halten dagegen« und »wir halten Russland den Rücken frei« verschoben.

Es ist schwer zu sagen, welche »Trümpfe« Lukaschenka in diesem Spiel mit Putin einsetzt, in einem Spiel, bei dem er vollkommen von dessen wirtschaftlicher und politischer Unterstützung abhängig ist. Allerdings nutzt er auch das Bedürfnis Putins nach einem Verbündeten wie ihm bis zum letzten aus, umso mehr in einer Situation, in der Putin der Sinn nicht nach »innerem Zwist« steht.

Natürlich geht es jetzt vor allem um Taten, und nicht um militärische Verlautbarungen, etwa darum, welcher Verband auf belarusischem Territorium neu gebildet wird, und ob dieser lediglich Einheiten der ukrainischen Armee binden soll oder sich aktiv einschalten wird. Es wäre meiner Ansicht nach eine starke Vereinfachung, dies als Reich von Putins Wünschen zu betrachten. Es ist durchaus möglich, diese Lage derart zu interpretieren, dass Lukaschenka nicht sonderlich an einen Sieg Putins glaubt und Pläne darüber macht, wie es ihm nach Putins Ende ergehen könnte.

Wäre mit einem neuen Tauwetter in den Beziehungen zur EU zu rechnen?

Die Wahrung von Lukaschenkas Rolle als eigenständiges Subjekt darf allerdings auch nicht überwertet werden. Bedeutet dies etwa, dass es eine Aussicht gibt, die Beziehungen zur EU »auf null zu setzen«, die politischen Gefangenen freizubekommen und das belarusische Regime in einen europäischen Kontext »einzubinden«? Für solche Erwartungen gibt es keinerlei Grundlage. (Die Frage, warum solche Erwartungen sich früher nicht bewahrheitet haben und wie für die europäische Gemeinschaft die Lehren hieraus aussehen, ist ein wichtiges Thema, das einer eigenen Erörterung bedarf). Es lässt sich aber im Großen und Ganzen immerhin feststellen, dass die nach 2015 vom Westen verfolgte Strategie einer Regulierung der Beziehungen zum Regime Lukaschanka und einer kritischen Kooperation nicht von einer entsprechenden Taktik unterfüttert wurde. Für Lukaschenka war dies eine Frage des politischen Überlebens. Letztendlich hat dieser Prozess die deklarierten Ziele verraten, und die vom Regime diktierten Arbeitsbedingungen wurden angenommen, um den Prozess weiter am Laufen zu halten. Der Umstand, dass bei dieser Taktik Mechanismen einer kritischen Prüfung hinsichtlich der tatsächlichen Ergebnisse fehlten, führte dazu, dass dieser Prozess praktisch den Interessen des Regimes in Belarus untergeordnet wurde. Die in Belarus verbliebenen internationalen Organisationen verfolgen weiterhin diesen Ansatz und setzen ihre Finanzierung fort, wobei sie noch schärferen Forderungen des Regimes nachkommen, praktisch allein um der Möglichkeit Willen, ihr Funktionieren im Land fortzuführen.

In letzter Zeit wurde intensiv erörtert, was von den Versprechungen nach einer Amnestie für politische Aktivisten zu halten ist. Allerdings ist hier zu beachten, dass keinerlei Korrelation zwischen einer Amnestie und der Dynamik der Repressionen besteht und diese Andeutungen in keiner Weise durch organisatorische Handlungen der Regierung gestützt werden. Es ist klar, dass Erklärungen dieser Art bis zu einem Beginn entsprechender Schritte in der Praxis eben genauso so, nämlich nur als reine Erklärungen betrachtet werden sollten. Ein Gesetzentwurf über eine Amnestie, der vor einigen Tagen im Repräsentantenhaus der Nationalversammlung auftauchte, zieht wohl einen Schlussstrich unter die Hoffnungen, die viele hegen, dass nämlich auf diesem Wege ein beträchtlicher Teil der politischen Gefangenen freikommen könnte. Der bekannte Anwalt Sergej Sikratskij hat es erschöpfend wie folgt formuliert: »Wenn man sich den veröffentlichten Gesetzentwurf zur Amnestie anschaut, dann hat das Regime sich bei den beiden Varianten – nämlich entweder die politischen Gefangenen freizulassen oder aber Platz für [neue] politische Gefangene zu schaffen – für die zweite Variante entschieden«.

Wie immer versucht Lukaschenka, die Frage des eigenen Machterhalts hier und jetzt zu lösen. Und dafür ist eine unabdingbare Voraussetzung, dass er außenpolitisch seinen Status als eigenständiges Subjekt bewahrt. Allerdings ist es auch wichtig zu berücksichtigen, dass die Ereignisse vom Sommer 2020 gezeigt haben, wie sehr sich das Bild im Innern grundlegend gewandelt hat. Zu einem der wichtigen Elemente des Herrschaftssystems in Belarus hatte schon immer Einschüchterung sowie Repressionen gegen Andersdenkende gehört. Solange letztere (zumindest die aktiven von ihnen) nicht eine klare Mehrheit bildeten, waren die Repressionen lediglich ein Instrument zur Schaffung eines Oppositionsghettos. Sobald es jedoch mehr Kritiker des Regimes gab als jene, die mit ihm einverstanden sind, wurde dieses Herrschaftsinstrument zum entscheidenden Faktor. Daher (und umso mehr angesichts der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage) kann das Regime es sich schlichtweg nicht erlauben, der Gesellschaft gegenüber eine Schwächung des zentralen Regulierungsinstruments – der Repressionen – erkennen zu lassen. Die Prozesse in Belarus, die nach den Wahlen 2020 einsetzten, unterscheiden sich grundlegend von jenen früherer Jahren, bei denen es eine wellenartige Bewegung aus Repressionen und »Tauwetter« hin zum nächsten Zyklus gegeben hatte. Die Repressionen haben jetzt einen anderen Charakter, eine andere Dimension und gehen weiter; ihre Intensität ist unverändert, und es gibt keinerlei Grund, von einem Rückgang in der Zukunft auszugehen. Anders gesagt: Unter den gegebenen Umständen ist eine hinreichend umfassende Erfüllung der Forderungen des Westens nur dann möglich, wenn die Aufgabe des Machterhalts schon nicht mehr lösbar ist und es bei Verhandlungen dann bereits um persönliche Garantien für jene Repräsentanten des herrschenden Regimes geht, die abtreten.

Welche Entwicklung muss heranreifen, damit es in Belarus zu einem Machtwechsel kommt?

Das Regime in Belarus besteht nicht nur aus seinem Anführer, sondern auch aus einer riesigen Bürokratievertikale, die auch den Block der Silowiki umfasst. Von der Loyalität dieser Vertikale hängt die nachhaltige Stabilität des Regimes ab, besonders jetzt. Daher ist es wichtig, das Bild des belarusischen Bürokraten näher zu untersuchen. Worauf beruht seine Loyalität? Die Beibehaltung und Aufrechterhaltung ausreichend großer materieller Anreize ist hier natürlich nicht das Einzige, was eine Rolle spielt.

Ein besonderes Merkmal dieser belarusischen Vertikale besteht darin, dass all seine Vertreter sich unter Präsident Lukaschenka dem System angeschlossen haben; ihre gesamte Karriere hing und hängt in Vielem von ihm ab. Anders gesagt: Sie nehmen sich selbst als austauschbar wahr, während Lukaschenka die Konstante ist, das Faktum. Hierin besteht ein grundlegender Unterschied zu Systemen, in denen Machtwechsel vorgesehen sind und erfolgen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass die Bürokraten sich an eine Ordnung gewöhnt haben, die auf einer Konstanz der Macht und einer »Handsteuerung« beruht und berechenbar ist. Dementsprechend sind Demokratie, mögliche Machtwechsel und Selbstverwaltung gleichbedeutend mit Chaos, also einer für sie absolut fremden Welt. Die Berechenbarkeit und Lenkbarkeit (mit Stabilität als höchstem Wert), an die sich die Bürokraten gewöhnt haben, wurde die ganze Zeit über durch russische Unterstützung und durch Lukaschenka persönlich aufrechterhalten. Dieser hatte sich im Großen und Ganzen durchaus gelungen durch aufkommende Schwierigkeiten mit der russischen Führung manövriert.

Hierin ist einer der Gründe zu sehen, warum das System insgesamt seine Geschlossenheit wahrte, als es im Sommer 2020 zur Krise kam. Eine Alternative zum herrschenden Regime erschien den Bürokraten wie eine Gesamtausgabe all ihrer Ängste. Die Unterstützung, die Putin (wenn auch mit einiger Verzögerung) demonstrativ zeigte, stärkte die Erwartungen, dass der Status quo erhalten bleiben würde.

Diese Menschen fangen erst dann an, über ihre Perspektiven nachzudenken, wenn ihnen klar wird, dass die bestehende Ordnung nicht weiterbestehen kann, dass das System, von dem sie ein Teil sind, nicht mehr lebensfähig ist. Wichtig ist es, zu berücksichtigen, dass die Bürokraten im Staatsapparat nicht durch ein Rechtsbewusstsein »belastet« sind; bei ihnen entspringt das Recht ihrem Dienst, auf keinen Fall umgekehrt. Zudem repräsentieren sie wohl schwerlich ein Verwaltungssystem, das auf Institutionen beruht.

Die bestehenden Modelle in Belarus und Russland werden von ihnen offensichtlich nicht als Systeme für wirtschaftlichen Wettbewerb aufgefasst. Im Unterschied zu sowjetischen Zeiten besteht jetzt nicht die Aufgabe, den »kollektiven Westen« wirtschaftlich und technologisch einzuholen oder gar zu überholen. Daher auch setzt man auf maximale Krise und Konfrontation, auf atomare Erpressung als einziges Instrument, mit dem die eigene Subjekthaftigkeit bekräftigt und der »kollektive Westen« zu Zugeständnissen genötigt werden sollen. In dem Weltbild der Angehörigen einer Machtvertikale, die auf den Werten der [sowjetischen] Industrialisierung aufgebaut ist, wird alles vom Kampf um die Ressourcen bestimmt, und respektieren bedeutet da, ängstlich zu sein.

Hiermit wären wir unmittelbar am Wesenskern der Wasserscheide angelangt, an einer existenziellen Wahl. Hinter dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine steht nicht eine territoriale Frage. Es geht darum, welches System sich angesichts der großen Krise und der militärischen Bedrohung als effizienter und nachhaltiger erweist. Die Demokratie mit ihren Freiheiten der Person, ihrer Rechtstaatlichkeit und ihren vielfältigen Institutionen, oder die autoritäre Vertikale mit ihrer Staatszentriertheit und fehlenden Machtwechseln? Die regimefreundlichen Wirtschaftswissenschaftler und Politologen versuchen ihren Anhängern weiszumachen, dass es zwar alle schwer haben, dass wir aber an Schwierigkeiten gewöhnt sind und die Zeit für uns arbeitet, während der »kollektive Westen« ohnehin »verfault«. Die Wähler sind dort ohnehin aufgebracht und die Krise treibt sie nur weiter an. Jenen Menschen, die Vorwände suchen, um in ihrer kleinen Welt zu verbleiben, liefert die Propaganda Material zur Wahrung des nötigen Vorwands, um den Anschein zu wahren. Das bedeutet nicht, dass ein belarusischer Bürokrat seine Zukunft in Russland sieht. Allerdings kann er sich auch nicht vorstellen, wie er ohne russische Unterstützung auskommen soll.

Aufgrund dieser Haltungen sehen die Vertreter des Systems keine Notwendigkeit, einen Ausweg zu suchen, und sie haben keine Motivation für Kompromisse. Im Gegenteil: Die Dialogbereitschaft auf Seiten des existenziellen Gegners wird so eingeschätzt, dass »die uns mehr brauchen als wir sie«, und sie wird als Zeichen der Schwäche angesehen. Die systemischen Lücken in der Verwaltung des russischen Militärs und der verflogene Mythos von der weltweit zweitstärksten Armee dürften wohl bestimmte Gedanken darüber in Gang setzen, ob ihre Erwartungen angemessen sind. Das ist allerdings längst nicht ausreichend, um Prozesse einer kritischen Reflexion anzustoßen.

Hieraus ergibt sich diese Schlussfolgerung:

Die europäischen Politiker und Meinungsführer müssen bei der Vertretung ihrer wertegeleiteten Positionen konsequent bleiben und ihre Grundsätze im wirtschaftlichen wie im militärischen Bereich bekräftigen. Die Suche nach Kompromissen würde von den autoritären Regimen als Schwäche des Systems wahrgenommen und sie zu einer Fortführung ihrer Politik der Erpressung und der Eskalation des Konfliktes ermuntern.

Und was ist mit der Zivilgesellschaft?

Das Jahr 2020 mit der Coronapandemie und den Präsidentschaftswahlen bedeutete einen sehr starken Anstoß, dass die belarusische Gesellschaft sich weiterentwickelt und aktiver wird sowie Bürgersinn und Zusammenhalt zunehmen. Hunderttausende Belarus*innen schlossen sich der Kampagne zu Sammlung von Mitteln zur Bewältigung allgemeiner Probleme an, die der Staat nicht rechtzeitig lösen konnte oder nicht lösen wollte. Sehr viele Menschen machten praktische Erfahrungen mit Selbstorganisation, Selbstverwaltung und Initiativen, die sie früher nicht hatten.

Der Urnengang wurde zu einem Wendepunkt für Hunderttausende Belarus*innen. Sie sahen die Willkür der Regierung und waren empört. Diese Willkür hatte sie seit langem umgeben, sie allerdings bislang nicht direkt empfindlich betroffen. Die rechtswidrigen und grausamen Repressionen sorgten für Forderungen nach rechtmäßigen Verfahren und fairen Gerichten.

Das wohl Wichtigste, was die Menschen empfanden und dessen sie sich bewusst wurden, war, das sie, also diejenigen, die nicht einverstanden sind, in der Mehrheit sind, dass Lukaschenka die Wahlen ganz deutlich verloren hat, und dass es nun neue Oppositionsführer*innen und Aktivist*innen gab. 2020 haben die Belarus*innen gespürt, dass sie siegen können. Das ist etwas Neues, was dabei helfen kann, die »anerzogene Hilflosigkeit« zu überwinden.

Durch den Druck der in ihrer Grausamkeit und Dauer beispiellosen Repressionen gelang es dem Regime, die Protestwelle zu brechen. Das kann die Menschen aber nicht dazu zwingen, sich einfach damit abzufinden. Einige hunderttausend aktiver Menschen haben das Land verlassen (es fehlen hierzu ausreichend genaue Daten, doch könnten es nach verschiedenen Schätzungen zwischen 200.000 und 700.000 gewesen sein). Die meisten befinden sich jetzt in EU-Ländern. Auch wenn dies für Belarus einen gewissen Verlust für die Zukunft bedeuten könnte, so eignen sich diese Menschen dafür in Europa, einem demokratischen Gemeinwesen, Fähigkeiten und Lebenserfahrung an. Hierbei geht es nicht um Tourismus oder Einkaufstouren, sondern um das Eintauchen in einen Kontext, bei dem es darum geht, wie diese Gesellschaften und ihre Institutionen funktionieren. Das ist für die Bereitschaft und das Verständnis zukünftiger Reformen von sehr großer Bedeutung.

Nach Angaben von Menschenrechtlern haben die belarusischen Behörden seit dem August 2020 schon über 1.000 NGOs aufgelöst. Die bedeutet jedoch nicht, dass letztere ihre Tätigkeit eingestellt haben. Viele aktive Organisationen sind in Nachbarländer gezogen und führen dort ihre Tätigkeit fort. Natürlich erforderten neue Bedingungen auch neue Ansätze, und derzeit erfolgt eine intensive Suche nach Arbeitsformen und -methoden unter den neuen Bedingungen. Und das unter anderem im Hinblick darauf, dass sich die Zielgruppen jetzt sowohl in Belarus als auch in europäischen Ländern befinden.

Zudem sind viele neue Initiativen entstanden, und zwar von Menschen, die schon im Sommer 2020 Geschmack an Aktivität gefunden haben.

Der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, und der Umstand, dass Lukaschenkas Regime Belarus in diesen Krieg hineingezogen hat, werden nachhaltig wirksame Faktoren sein, die im Bewusstsein der Belarus*innen den Gedanken verfestigen werden, dass ein Machtwechsel und eine Loslösung von Russland notwendig sind.

Hieraus ergibt sich folgende Empfehlung:

Für westliche Akteure wäre es wichtig, sich auf die Unterstützung und die Stärkung der Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen zu konzentrieren, und zwar sowohl jener, die im Lande geblieben sind wie auch jener in den europäischen Nachbarländern. Eine Weiterentwicklung der organisatorischen Strukturen sowie eine Stärkung der professionellen Fertigkeiten der Aktiivist*innen, eine Vermittlung der Grundlagen von Bürgersinn und eine Förderung der Aktivitäten dürfte eine wichtige Ressource für die Vorbereitung und Beförderung eines Wandels in Belarus sein, wie auch zur Schaffung einer positiven Agenda für einen Wandel und positive Reformen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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Analyse

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Der belarusische Sicherheitsapparat ist unerlässlich für den Machterhalt des de facto abgewählten Staatspräsidenten Aljaksandr Lukaschenka. Es handelt sich um ein geschlossenes System, in das kaum jemand vertieften Einblick erhält. Bemühungen der oppositionellen Kräfte Angehörige der Sicherheitsstrukturen zum Überlaufen zu bewegen fruchteten bislang kaum. Doch es gibt vereinzelt Anzeichen, dass die Loyalität gegenüber dem Machthaber bröckeln könnte. Die beispiellose Polizeigewalt gegenüber unschuldigen Bürger*innen, verübt durch Spezialeinheiten der Miliz, sind ein maßgeblicher Faktor für das verlorengegangene Vertrauen in staatliche Institutionen. (…)
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Sechs Fragen an fünf Expert*innen Am 10. Oktober kündigte Aljaksandr Lukaschenka die Bildung eines gemeinsamen Truppenverbands mit Russland an. Diese Nachricht hat viel Aufmerksamkeit in den Medien sowie in Expertenkreisen verursacht. Wir haben sechs Fragen zu diesem Thema an fünf Expert*innen gestellt. Ihre Antworten finden Sie in unserer neuen Rubrik »Kurz nachgefragt«.
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