Politik in Zeiten nationaler Verzückung. Putins Botschaft zur Lage der Nation im Jahre 2014

Von Hans-Henning Schröder (Bremen)

Zusammenfassung
Die Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung, sein Rechenschaftsbericht über seine Politik fand in einer widersprüchlichen Situation statt. Einerseits kann sich der Präsident auf eine breite Zustimmung einer Bevölkerung stützen, die auf die Übernahme der Krim mit nationaler Verzückung reagiert hat, andererseits hat sich Russland international isoliert und seine Wirtschaft gleitet in eine Rezession ab. Parlament und Öffentlichkeit konnten in dieser Situation erwarten, dass der Präsident ihnen seine Vorstellungen über die Neuordnung im postsowjetischen Raum und angesichts der drohenden Krise auch die Grundzüge seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik präsentieren würde. Doch das tat er nicht. Putin trat ohne politische Vision auf, und ohne ein Handlungskonzept zur Überwindung der inneren und der äußeren Krise. Es scheint fast, als verschließe er die Augen vor den realen Problemen und verweigere Politik.

Wirtschaftskrise und patriotische Begeisterung

Russland befindet sich in einer ambivalenten Situation. Die Volkswirtschaft wird mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, doch steht die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Jahre 2014 hinter der Führung und unterstützt deren Politik.

In der Wirtschaft haben sich seit Jahren Probleme angestaut. Doch keine der verschiedenen Regierungsmannschaften seit 2003 hat die Kraft gefunden und den Raum bekommen, ernsthafte Reformen in Gang zu setzen. Die russische Wirtschaftsleistung basiert nach wie vor im Wesentlichen auf der Extraktion und dem Export von Roh- und Brennstoffen. Die verarbeitende Industrie ist schwach entwickelt, das Technologieniveau ist niedrig. Die Innovationsleistung ist unzureichend: Im Jahre 2013 hat Russland beim Europäischen Patentamt gerade einmal 1.168 Patente angemeldet gegenüber 22.292 chinesischen, 32.022 deutschen, 52.437 japanischen und 64.967 US-amerikanischen Patenten. International ist die russische Industrie nicht konkurrenzfähig, das Bankensystem ist schwach, der inländische Kapitalmarkt unterentwickelt. Die Verwaltung ist ineffizient, Eigentumsrechte sind nur unzureichend gesichert. Die vier »I« des Medwedewschen Modernisierungsprogramms von 2009 – Infrastruktur, Investitionen, Innovation und Institutionen – bezeichnen nach wie vor die Schwachstellen der russischen Volkswirtschaft. Glaubhafte Ansätze zur Überwindung der strukturellen Probleme hat es nach dem Scheitern dieser Reformpläne nicht mehr gegeben.

Im Jahre 2014 wird die Volkswirtschaft durch das Sinken der Ölpreise und die Sanktionen, die die EU und die USA gegen russische Unternehmer und russische Banken ausgesprochen haben, zusätzlich belastet. Die Wachstumsraten gehen gegen Null, die Preise steigen, für einen Ausbau und die Modernisierung der Industrie fehlen die Mittel. Investitionen gehen zurück, Kapital fließt ab. Nach Angaben der Zentralbank betrug der Nettokapitalexport des privaten Sektors allein in den neun Monaten von Januar bis September 2014 85,3 Mrd. US-Dollar (im ganzen Jahr 2013 waren es 61 Mrd. US-Dollar).

Die ökonomische Schwäche strahlt auf die soziale Situation aus. Die großen sozialen Unterschiede, die Kluft zwischen Arm und Reich bestimmen nach wie vor das gesellschaftliche Klima. Große Teile der Bevölkerung – die Staatsangestellten und die Beschäftigten der »alten« Industrien – sind auf staatliche Transfers angewiesen. Der Rückgang der staatlichen Einnahmen und die Preissteigerungen der letzten Monate werden sich auf diese Gruppe auswirken. Weiten Teilen der Bevölkerung droht eine Verschlechterung des Lebensstandards. Wie sich diese Entwicklung auf das soziale Klima auswirken wird – ob sich die Unzufriedenheit gegen die Eliten richten wird, oder ob es zu einem nationalen Schulterschluss gegen den »äußeren Feind« kommt –, ist schwer zu prognostizieren.

Das politische und gesellschaftliche Klima stellte sich aber ungeachtet aller Probleme aus Sicht der Regierung positiv dar. Die Übernahme der Krim in den russischen Staatsverband wurde von 80 % der russischen Bevölkerung begrüßt. Präsident und Regierung schwammen auf einer Welle patriotischer Euphorie. Die Umfragewerte stiegen steil und signalisierten einen breiten plebiszitären Rückhalt für das Regime.

In diesem Moment wirtschaftlicher Krise und politischer Begeisterung trat der Präsident mit seiner Botschaft zur Lage der Nation vor beide Häuser des Parlamentes. Mit Recht konnten die Abgeordneten und die Öffentlichkeit erwarten, dass der Präsident ihnen seine Vorstellungen über die Neuordnung im postsowjetischen Raum und angesichts der drohenden Krise auch die Grundzüge seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik präsentieren würde. Finanz- und Wirtschaftsminister, aber auch der Vorstandvorsitzende der Sberbank, der größten Bank des Landes, hatten in den Wochen zuvor wiederholt auf die großen Probleme hingewiesen. Nun hatte der Präsident das Wort.

Der Rahmen der Botschaft

Einmal im Jahr ist der Präsident gehalten, vor der Föderalversammlung, die beide Häuser des Parlaments umfasst – die Duma und den Föderationsrat –, Rechenschaft über die Regierungsarbeit abzulegen. In den letzten Jahren hatte er zudem dem Parlament zu einem anderen Zeitpunkt noch eine eigene »Haushaltsbotschaft« präsentiert, die die Finanz- und Budgetpolitik darlegte. 2014 wurden beide Berichte in einer Rede zusammengefasst und einer Versammlung präsentiert, die nicht nur beide Häuser des Parlaments umfasste, sondern auch zahlreiche geladene Gäste. Die Botschaft an die Föderalversammlung änderte somit ihren Charakter. Die Rechenschaftslegung des Präsidenten wurde als Demonstration nationaler Einheit und politischer Macht ausgerichtet.

Diese Inszenierung wurde auch nicht durch den Angriff auf das Zentrum Grosnyjs gestört, den Insurgenten des »Imamats Kaukasus« in der Nacht vom 3.auf den 4. Dezember unternahmen. Wenigstens zwei Gruppen von Aufständischen besetzten das Pressehaus und eine Schule im Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt. Im Verlauf der Feuergefechte mit Sicherheitskräften, die bis in den Vormittag des 4. Dezembers anhielten, wurden zehn Angehörige der Sicherheitskräfte getötet und 28 verwundet. Die Untergrundkämpfer, deren Zahl mit neun angegeben wird, wurden »vernichtet«.

Noch während im abgesperrten Zentrum Grosnyjs das Pressehaus brannte und Gefechtslärm zu hören war, trat Präsident Putin in Moskau vor die versammelte Elite. Die Ereignisse in Tschetschenien erwähnte der Präsident nur ganz beiläufig. Das Oberhaupt der Region, Ramsan Kadyrow, saß ruhig unter den Zuhörern, obgleich seine Pressestelle am Morgen erklärt hatte, die »konterterroristische Operation« in Grosnyj fände unter Kadyrows persönlicher Leitung statt.

Dass die politische Führung den größten Terroranschlag, der in Russland seit langem stattgefunden hatte, souverän ignorierte, gab Putins Auftritt vor der Föderalversammlung von Anfang an einen Beigeschmack von Unwirklichkeit. Dieser Eindruck bestätigte sich auch im Verlauf der 70-minütigen Rede. Der Präsident wich den brennenden wirtschafts- und innenpolitischen Fragen aus, er entwickelte keine politischen Konzepte, betonte aber immer wieder die nationale Größe und Geschlossenheit.

Einerseits die Krim und Russlands Kraft …

Inhaltlich zerfiel die »Botschaft« 2014 in zwei Teile, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in Sprachduktus und Charakter deutlich unterschieden. Der erste Block, der den Konflikt mit der Ukraine und die Politik im postsowjetischen Ausland thematisierte, schwelgte in patriotischer Romantik und nationalen Phrasen, der zweite, der sich mit dem Mikromanagement begrenzter wirtschaftlicher und sozialer Probleme befasste, war dagegen von ernüchternder Sachlichkeit.

In der Substanz war der erste Teil der Rede, der sich mit der Russland-Ukraine-Krise, der Übernahme der Krim und der Haltung der Außenwelt befasste, eher mager. Putin rekapitulierte knapp die offizielle russische Version, die »dem Westen« und »den Kräften« in Kiew die Schuld an der Entwicklung zu schob, und beschuldigte die USA und ungenannte westliche Partner, gegenüber Russland eine Politik der Eindämmung zu betreiben – teilweise sogar einen Zerfall und eine Zergliederung Russlands »nach jugoslawischem Vorbild« zu wünschen. Diese Darstellung kleidete der Redner in eine barocke nationale Rhetorik, in der von Einheit, Solidarität, Schicksalhaftigkeit, dem »souveränen und starken Staat« die Rede war, der »fähig [sei], seine Landsleute zu schützen, ehrenvoll Wahrheit und Gerechtigkeit durchzusetzen«, vom »tiefen Verständnis von Sinn und Bedeutung allgemeinnationaler Interessen«, der Unteilbarkeit, »Zielgerichtetheit des tausendjährigen Wegs unsere Vaterlandes«, dem Christentum als geistig einender Kraft und dem Nationalstolz. Immer wieder beschwor der Präsident die eigene Stärke: »Und wir glauben an uns. Daran, dass wir viel vermögen und alles erreichen…«, »…wir sind stark und uns unserer selbst sicher«, »… mit Russland von einer Position der Stärke aus zu sprechen, ist sinnlos«.

Die Mischung von Feindbildern, Bedrohungsszenarien und lautstarker Selbstvergewisserung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Es scheint fast, als sei der Präsident, dessen Land gerade in die Rezession abgleitet, sich seiner selbst doch nicht so sicher, als sei das ganze patriotische Pathos nur ein Pfeifen im dunklen Walde. Doch wichtiger als die Angstrhetorik war ein anderes Moment: Die ganze Argumentation war rückwärtsgewandt, es gab keine Formulierung, die erkennen ließ, wie sich die russische Führung eine Lösung der Russland-Ukraine-Krise vorstellte. Im Gegenteil: Indem der Präsident die Krim als heiligen Boden, als russischen »Tempelberg« beschrieb und die erfolgreiche Abwehr Hitlers beschwor, der Russland habe vernichten und hinter den Ural zurückwerfen wollen, verstellte er jeden Weg für einen Kompromiss. Den »Tempelberg« gibt man nicht auf, einem »Hitler« macht man keine Zugeständnisse. Diese Vergleiche machen es unwahrscheinlich, dass die russische Führung sich in absehbarer Zeit bereit finden wird, Kompromisslösungen mit der Ukraine auszuhandeln. Die Putin-Administration ist im Moment Gefangener der eigenen nationalistischen Propaganda.

… andererseits Eigentum und unternehmerische Freiheit

»Ehrliche Arbeit, Privateigentum und unternehmerische Freiheit«, damit leitetet Putin zum zweiten, konkreten Teil der Botschaft über, seien ebenso wichtige konservative Werte wie Patriotismus und Respekt vor der Geschichte, den Traditionen und der Kultur des eigenen Landes. Wer aber nun eine Bewertung der schwierigen wirtschaftlichen Lage erwartete, wurde zunächst enttäuscht. Putin thematisierte Detailfragen, wie den übermäßigen Druck der Justizorgane auf das kleine und mittlere Unternehmertum, sprach sich für Steuererleichterungen aus und bot den Unternehmern einmalig die »volle Amnestie« für Kapital an, dass nach Russland zurückgebracht werde. Er plädierte für eine weitere Verbesserung des Geschäftsklimas, für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur und die Schaffung von Industrieparks in den Regionen.

Erst spät wandte sich der Präsident den aktuellen Problemen zu. Für die Rubelschwäche gab er Spekulanten die Schuld und forderte von der Zentralbank Gegenmaßnahmen. Er verwies auch auf die kritische Abhängigkeit von ausländischen Technologien und ausländischer Produktion. Importsubstitution sei daher eine langfristige Priorität – auch über die gegenwärtige Krise hinaus. Banken wolle er durch Mittel aus dem Wohlfahrtsfonds unterstützen. Putin plädierte ferner für eine bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen und die Bekämpfung von Diebstahl und Unterschlagung, insbesondere bei Beschaffungsaufträgen des Verteidigungsministeriums. Auch die Ausbildung von Ingenieuren und Facharbeitern wollte er verbessert sehen.

Schließlich wandte er sich der Sozialpolitik zu, lobte die Fortschritte bei der Bevölkerungsentwicklung und im Gesundheitswesen, sprach über Schulbildung und kündigte an, den sozial tätigen Nichtregierungsorganisationen größere Spielräume einräumen zu wollen.

All diese Einzelmaßnahmen verdichtete der Redner nicht zu einem wirtschaftspolitischen Konzept. Wie die russische Führung auf die drohende Rezession reagieren will, wie die künftige Wirtschaftspolitik aussehen soll, darüber schwieg sich der Präsident aus.

Ein Präsident ohne Perspektiven

Für europäische Beobachter und für russische Wirtschaftspolitiker und Geschäftsleute war Putins Botschaft an die Föderalversammlung eine Enttäuschung. Denn sie bot keine Lösungen an, weder für die verfahrene Situation in der Ostukraine noch für die angeschlagene Volkswirtschaft, die in die Rezession abzugleiten droht. Es schien fast so, als sei das Elitenkartell, das die Putin-Administration trägt, zutiefst zerstritten, unfähig, eine gemeinsame Politik zu formulieren. Urteilt man nach der Ansprache, dann gibt es im Umfeld des Präsidenten zwei Fraktionen: auf der einen Seite reaktionäre Nationalisten ohne Verständnis für Wirtschaft und internationale Politik und auf der anderen Wirtschaftsbeamte, die sich auf die Behandlung von Detailproblemen zurückgezogen haben und die Formulierung einer Wirtschaftspolitik verweigern.

Der Präsident trat ohne politische Vision und ohne ein Handlungskonzept zur Überwindung der inneren und der äußeren Krise auf. Gewiss wird Putin gerade von einer Welle nationaler Verzückung getragen, doch nutzt er diesen Rückhalt nicht, um endlich jene Reformen einzuleiten, die seit Jahren anstehen. Mehr noch, er verschließt die Augen vor den realen Problemen und verweigert Politik. Es scheint, als ließe Putin seine dritte Amtszeit ebenso nutzlos verstreichen wie schon die zweite.

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