30 Jahre umsonst?

Von Jens Siegert (Moskau)

Demokratie sei »ein mühsames Lern- und Selbsterziehungsprojekt, das nicht über Nacht und erst recht nicht alleine durch externe Mächte installiert werden kann«, schreibt die Historikerin Hedwig Richter in ihrem 2020 erschienenen Buch »Demokratie. Eine deutsche Affäre«. Auch Deutschland galt in dieser Hinsicht lange als unverbesserlich, die Deutschen nicht fit oder gar nicht geschaffen für Demokratie. Genau dieselben Argumente hört man immer wieder über Russland. In Russland, von Russinnen und Russen, aber auch außerhalb des Landes.

Die russische Affäre mit Demokratie war tatsächlich bisher eine eher unglückliche. Immer wenn das Land, meist in einer tiefen Krise, mit ein wenig Volksherrschaft liebäugelte, ließ die Restauration nicht lange auf sich warten. Die autoritären Herrscher verbreiteten dann, nicht die Krise, sondern die demokratischen Irrwege hätten das Land in Unordnung und Chaos gestürzt. Das zeige nur ein weiteres Mal: Demokratie sei nichts für dieses so besondere Land. Das russische Volk sei für Demokratie nicht geschaffen. Als jüngster Beweis muss oft gerade der Zerfall der Sowjetunion herhalten, für den Michail Gorbatschow und seine Öffnungspolitik in der Perestroika verantwortlich gemacht werden. Den drohenden weiteren Zerfall Russlands, so diese Erzählung, habe nach den chaotischen 1990er Jahren unter Boris Jelzin erst Wladimir Putins harte Hand aufhalten können. Kurz: Eine ernsthafte russische Affäre mit Demokratie halten die Restauratoren für eine fatale Mesalliance.

Die Affäre mit Demokratie beginnt in Russland ziemlich spät. Wegen der Unfähigkeit des Zarenreiches, auf die Herausforderungen der modernen Zeiten zu reagieren, kam es 1905 zu einer ersten Revolution. Der Druck auf den reformunwilligen und vielleicht auch reformunfähigen Zaren Nikolaus II. wurde so groß, dass er einer Verfassung zustimmte, der ersten in der Geschichte Russlands. Doch nach vier kurzen Anläufen mit vier immer weniger repräsentativen Parlamenten war schon wieder Schluss. Erst der Krieg und dann die Revolution besiegelten das Ende.

Der zweite Versuch, nach der Februarrevolution von 1917 war sogar noch schneller zu Ende. Die neue, demokratische Regierung hatte ein schweres Erbe angetreten: ein ausgeblutetes, fast bankrottes Land, das zudem politisch zerrissen war. Im November übernahmen die Bolschewiki die Macht. Später erzählten auch sie, das Land vor Chaos und Zerfall gerettet zu haben. Das Neue an ihrer Herrschaft war aber, dass sie reklamierten, im Namen von Demokratie zu handeln, allerdings einer besseren, gerechteten Demokratie. Viele Befürworter von Demokratie glaubten an diese neue Form, auch weil das politische System des bald Sowjetunion genannten Staates tatsächlich viele Anzeichen eines demokratischen Gemeinwesens hatte: Es gab Wahlen, Parlamente, scheinbar unabhängige Gerichte und später, ab 1936 unter Stalin, sogar eine Verfassung. Doch das alles war nur Fassade. Schon bald bestimmte allein Stalin, was im Land geschah, wer leben durfte und ebenso, wer sterben musste.

Nach seinem Tod und aufgrund des Entsetzens über den Blutrausch und die sich selbst verschlingende Partei- und Geheimdienstmaschine folgte eine kurze Periode des Tauwetters. Die Menschen wurden nun nicht mehr willkürlich und systematisch umgebracht, sondern (meist) nur noch eingesperrt. Womit wir bei der nächsten, einer zarten Affäre eines Teils Russlands mit der Demokratie, bei den Dissidenten, wären.

Die Dissidentinnen und Dissidenten verfielen auf einen einfachen, aber wirksamen Trick die Fassadendemokratie zu entlarven. Sie wandten sich an die kommunistische Führung ihres Landes, die behauptete im Namen des Volkes zu regieren: Wir haben eine Verfassung. Wir haben Gesetze. Wir wollen ihnen nur zu ihrem Recht verhelfen. So entwickelten sie mit der Zeit eine Sprache des Rechts, wie das später genannt werden sollte. Oberflächlich betrachtet bekam die Sowjetmacht das Problem mit den Dissidenten mit Repressionen in den Griff. Gemessen an der Gesamtbevölkerung blieben sie eine verschwindend kleine Gruppe. Aber mit dem Verweis auf (demokratische) Rechte hatten die Dissidenten eine Saat gelegt, die 20 Jahre später aufgehen sollte.

Mit der Perestroika begann Russlands nächste Affäre mit Demokratie. An der Peripherie entstanden, in den Sowjetrepubliken, mal mehr (Ukraine und Baltikum), mal weniger (vor allem in Zentralasien) starke nationale Unabhängigkeitsbewegungen. Auch in Russland stand die Frage nach den Opfern des stalinistischen Terrors im Vordergrund. Über allem drohte die Unfähigkeit der sowjetischen Wirtschaft, wenigstens den bescheidenen sowjetischen Wohlstand weiterhin zu sichern. Demokratie war in Russland auch deshalb attraktiv, weil sie im Westen Teil eines Systems war, das auch materiell ein besseres Leben versprach. Bald zwangen Massenbewegungen die müde gewordene Diktatur in die Knie.

Die Veränderung erfolgte demokratisch. Die beiden bisher wohl freiesten Wahlen in der russischen Geschichte fanden noch in der Sowjetunion statt. 1990 wurde eine neue Volksvertretung mit erstmals nicht von der Kommunistischen Partei vorgegeben Kandidatenlisten gewählt. 1991 folgte die Wahl von Boris Jelzin zum Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Gorbatschow und die Perestroika im August hörte die Sowjetunion am 25. Dezember 1991 auf zu existieren. Im neuen Russland gab es also zwei frei gewählte Institutionen im Land: das Parlament, den Obersten Sowjet, und den Präsidenten Jelzin. Diese zweifellos demokratische Legitimation der beiden höchsten Repräsentanten des Volkes war etwas Neues und bis dahin Unerhörtes in der russischen Geschichte.

Beide Institutionen verfolgten jedoch ganz unterschiedliche Ziele. Im Parlament hatten weiter Kommunisten die Mehrheit, die das Ende der Sowjetunion ebenso ablehnten, wie die Einführung einer neuen Wirtschaftsform. Präsident Jelzin dagegen ernannte eine Reformregierung, deren wichtigste Aufgabe der Übergang zur Marktwirtschaft war. Fast zwei Jahre lang, von Dezember 1991 bis Oktober 1993, dauerte dieser Machtkampf. Alle Versuche, zwischen Präsident und Parlament zu vermitteln, scheiterten. Es kam zu keinem Kompromiss. Beide Seiten beanspruchten die ausschließliche Macht für sich. Beide hatten weder eine Vorstellung noch die Erfahrung, wie in einem demokratischen Staat Macht auf Dauer geteilt werden kann und muss. Im Übrigen genauso wenig wie ein großer Teil der Bevölkerung. Am Ende dieses Ringens gewann mit Jelzin derjenige, der sich die Macht über die Panzer und Gewehre sichern konnte.

Mitte Dezember 1993 ließ Jelzin über eine neue Verfassung abstimmen und auf ihrer Grundlage gleich ein neues Parlament wählen. Neben der in Verfassungsdingen unziemlichen Eile bestehen Zweifel, ob tatsächlich die erforderlichen 50 Prozent der Wahlberechtigten für die Verfassung gestimmt hatten. Sie sind ein wichtiger Grund, warum viele Menschen die Verfassung von 1993 bis heute ablehnen. Bei den nächsten Präsidentenwahlen, im Mai 1996, sicherte sich Boris Jelzin den Sieg gegen seinen kommunistischen Herausforderer Gennadij Sjuganow durch eine beispiellose Kampagne durch eine kleine Gruppe phantastisch reicher Unternehmer (der bald so genannten Oligarchen). Jelzin und seine Unterstützer rechtfertigten dieses undemokratische Vorgehen damit, dass es ihm um Demokratie, Marktwirtschaft und Wohlstand gegangen sei und er eine Rückkehr zu Kommunismus, Diktatur und Armut verhindern wollte. Der Westen stütze Jelzin und legte so den Grundstein für das heutige Misstrauen vieler Menschen, dass es ihm tatsächlich um Demokratie und nicht nur seine Interessen gehe.

Die Wirklichkeit war selbstverständlich komplizierter. Es gab in den 1990er Jahren zwar zweifellos unvergleichlich viel mehr Freiheit in Russland als jemals zuvor, aber die Demokratie blieb schwach. Die junge Marktwirtschaft zeigte sich von ihrer hässlichsten, weil fast völlig ungehemmten Seite. Einige wenige wurden sehr reich, während die Masse der Menschen noch mehr verarmte. Von Wohlstand in diesem Jahrzehnt kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Zwischen 1991 und 1998 sank die Wirtschaftsleistung in Russland um etwa 50 Prozent. Im August 1998 brach dann das Kartenhaus aus Misswirtschaft, schwachem Staat, Korruption und ausländischen Krediten zusammen.

Bis heute verbinden die meisten Menschen in Russland deshalb Demokratie nicht in erster Linie mit Freiheit, sondern mit Chaos, Armut und einem schwachen Staat. Demokratie, so scheint es vielen, schützt eher die Starken vor den Schwachen als umgekehrt. Ein Jahr nach dem Fast-Staatsbankrott ernannte der schon längere Zeit kranke und kaum noch amtsfähige Boris Jelzin Wladimir Putin zum Premierminister und am Silvestertag 1999 zu seinem vorerst kommissarischen Nachfolger. Im März 2000 gewann Putin die Präsidentenwahlen, nicht zuletzt, weil er sich als das völlige Gegenteil von Jelzin präsentierte: jung, gesund, tatkräftig.

Wladimir Putin war geschickt, aber er hatte auch Glück. Entscheidend für seinen Erfolg war, dass die russische Wirtschaft schon vor seinem Amtsantritt wieder zu wachsen begonnen hatte. Das hatte vor allem drei Gründe, und nur für den dritten zeichnete Putin selbst verantwortlich: die Abwertung des Rubels nach der kurzfristigen Zahlungsunfähigkeit des Staates im August 1998 um das Sechsfache, die wie ein riesiges staatliches Konjunkturprogramm wirkte; ein fast ein Jahrzehnt lang rasant wachsender Ölpreis sowie Direktinvestitionen aus dem Ausland als Reaktion auf eine stabilere politische Situation und vorsichtige Wirtschaftsreformen in Putins erster Amtszeit. Zwar wurden auch unter Putin die Reichen schneller reicher als die Armen weniger arm, aber fast ein Jahrzehnt lang stiegen fast für alle Jahr für Jahr Renten und Gehälter. Gleichzeitig begann Putin damit, viele politische Beteiligungs- und Freiheitsrechte Stück für Stück wieder einzuschränken.

Das ging solange gut, bis auch Russland 2008/2009 die Auswirkungen der Weltfinanzkrise zu spüren bekam. Inzwischen hatte Putin Dmitrij Medwedjew zum Präsidenten gemacht, weil ihm die Verfassung eine weitere, eine dritte Kandidatur verweigerte. Präsident Medwedjew reagierte auf die Krise mit der Ankündigung, Russland müsse sich modernisieren. Für viele Menschen war klar, dass sich dafür nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch etwas ändern müsse. Als Putin jedoch im September 2011 erklärte, er werde bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im März 2012 erneut antreten, machte sich, vor allem bei jungen und gebildeten Menschen in den großen Städten, Enttäuschung breit. Der stillschweigende Konsens der 2000er Jahre zeigte Risse und zerbrach schließlich angesichts der hemmungslos zugunsten der Kremlpartei Einiges Russland gefälschten Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011.

Zwei oder drei Monate lang sah es so aus, als könnte sich etwas ändern. Die ersten Massendemonstrationen seit Putins Machtantritt schienen seine Herrschaft erstmals ernsthaft gefährden zu können. Doch dann schlugen er und sein Staat zurück. Demonstranten wurden in manipulierten Verfahren zu langen Haftstrafen verurteilt und binnen kurzer Zeit beschloss das Parlament mehr als 30 neue Gesetze, die alle nur ein Ziel hatten: Die Macht Putins und des von ihm geschaffenen politischen Regimes zu festigen und die Rechte und Freiheiten der Opposition zu beschneiden. Mit der Annexion der Krim im März 2014 erfand sich Putin dann vollends neu. War er bisher vor allem als Garant für Wohlstand und Sicherheit aufgetreten, inszenierter er sich nun als derjenige, der Russland wieder von den Knien erhob und ihm seinen Status als Großmacht zurückgab – was dem Land in den Augen einer sehr großen Mehrheit auch zustand.

Der Zerfall der Sowjetunion und der Abstieg Russlands von einer der beiden Supermächte stellte für viele Menschen in Russland eine tiefe Kränkung dar. Putin hatte in ihren Augen diese Demütigung nun geheilt. Man sprach von einem neuen Konsens in der russischen Gesellschaft, dem Krimkonsens. Der trug bis etwa 2018. Dann begann die nationale Euphorie abzuflauen und die alltäglichen Nöte drängten wieder in den Vordergrund: die schwelende Wirtschaftskrise, die seit Jahren sinkenden Einkommen, die allgegenwärtige Korruption, die Umweltprobleme, die Defizite im Gesundheitswesen und in der Bildung. 2020 kam noch die Pandemie hinzu. Es gab erste Anzeichen, dass angesichts dessen immer mehr Menschen im Land einer neuen Affäre mit mehr Demokratie nicht abgeneigt zu sein schienen.

Es gibt noch ein zweites Narrativ über Putins Regierungszeit: Sie sei auch die Zeit des Aufstiegs einer immer stärker werdenden russischen Zivilgesellschaft. Je mehr Freiheiten Putin einschränkte, je härter er mit seinen Gegnern umging, umso entschlossener, professioneller, aber auch jünger und politischer wurden diejenigen, die sich das alles nicht gefallen lassen wollten. Der oppositionelle Politiker Alexej Nawalnyj versteht es von allen bisher am besten, diese neuen Stimmungen in politische Aktion(en) umzuwandeln. Heute gibt es im ganzen Land Bürgerinitiativen. Das politische System unter Präsident Putin weist viele Elemente eines autoritären, ja inzwischen gar eines diktatorischen Staates auf, aber es gibt trotzdem immer noch viele Menschen in Russland, die um ihre Rechte und Freiheiten kämpfen und versuchen, ihre Interessen auch gegen diesen Staat durchzusetzen.

War also alles umsonst? Ich bin überzeugt, dass die russische Affäre mit Demokratie längst noch nicht zu Ende ist. Umgekehrt: Sie hat gerade erst angefangen. Das Lewada-Zentrum fragt seit Anfang der 1990er Jahre regelmäßig, was die Menschen von Demokratie halten. In diesen 30 Jahren hat sich stets eine stabile Mehrheit von zwischen 70 bis 80 Prozent für ein demokratisches Russland ausgesprochen. Warum aber wählen dann so viele Menschen Putin und Parteien, die ihre demokratische Rechte einschränken? Eine zentrale Rolle in der Akzeptanz von Demokratie spielt die Garantie von Wohlstand. Die Umfragen des Lewada-Zentrums zeigen, dass fast zwei Drittel der Bevölkerung der Meinung ist, das heutige Russland sei ein demokratisches Land. Zumindest demokratischer als in den 1990er Jahre unter Präsident Boris Jelzin – mit einer steigenden Tendenz.

Wem das widersprüchlich erscheint, hat Recht. Aber so sind Menschen nun einmal. Auch in Russland. Der Blick in andere Länder zeigt, dass die Transformation zu Demokratie selten gradlinig und schon gar nicht schnell gelingt. Wir sollten es also auch hier mit dem irischen Dramatiker Samuel Beckett halten: Ever tried? Ever failed? No Matter! Try again! Fail again! Fail better!

Anmerkung des Autors: Der Text basiert auf dem Kapitel »Demokratie. Eine Affäre« meines im Juli 2021 in der Edition Körber erschienenen Buches »Im Prinzip Russland. Eine Begegnung in 22 Begriffen«.

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