Schleppende Reformen führen zu Zweifeln an NATO-Unterstützung
Im Frühjahr 2014 hat die Russische Föderation die Halbinsel Krim annektiert und einen bis heute andauernden Krieg in der Ostukraine entfacht. Die ukrainischen Streitkräfte waren nicht in der Lage, diesen Angriff auf die Souveränität des Landes abzuwenden und sich zu verteidigen; sie erlebten im Donbas eine Reihe von Niederlagen. Dieser Krieg beförderte die Notwendigkeit für systematische Militärreformen auf der politischen Agenda in Kyjiw ganz nach oben. 2015 wurde ein weitreichendes Reformprogramm verkündet, das von der NATO und den westlichen Partnern mit Nachdruck unterstützt wurde und zu Verbesserungen bei der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte führte. Angesichts der russischen Aggression versichert die NATO der Ukraine weiterhin ihre unerschütterliche Solidarität. Die Kritik an dem langsamen Tempo der Reformen, das auf interne Faktoren zurückzuführen ist, etwa die anhaltende Korruption, die konservative, »sowjetische« Denkweise der militärischen Führung, die zögerlichen Fortschritte bei der Stärkung der für eine demokratische zivile Kontrolle über die Streitkräfte erforderlichen Institutionen, sowie das Fehlen einer klaren politischen Linie, haben zu Zweifeln an der Effizienz der kostspieligen Hilfsprogramme der NATO-Partnerstaaten geführt. Die Bedeutung, die interne Hindernisse in der Ukraine wie auch in anderen postsowjetischen Ländern für die jeweiligen Militärreformen haben, ist gut dokumentiert und steht außer Zweifel. Es wäre allerdings falsch, die Schuld für die Probleme in den Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine allein Kyjiw zuzuschreiben. Unterschiedliche Ansichten zu den Prioritäten bei den Reformen im Verteidigungsbereich seit 2014, Widersprüche in den Erfolgskriterien für die Reformen sowie das Fehlen einer klaren Vision darüber, welche Art Streitkräfte die Ukraine braucht, haben ebenfalls zu den Problemen in der Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine beigetragen.
Prioritäten der Verteidigungsreformen seit 2014
Die Ansichten der NATO und der Ukraine zu den Prioritäten der Reformen im Verteidigungsbereich seit 2014 gehen zum Teil auseinander. Das hat auf beiden Seiten zu einer gewissen Enttäuschung und Desillusionierung geführt. Die NATO hat die Annexion der Krim als ernstliche Bedrohung für die transatlantische Sicherheit gewertet. Das Bündnis hat das Vorgehen der Russischen Föderation in den schärfsten Tönen verurteilt und der Ukraine beträchtliche Unterstützung angeboten. Die Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine gehen bis in die 1990er Jahre zurück und markierten ihren Anfang, als die Ukraine als eines der ersten Länder der »Partnerschaft für Frieden« (»Partnership for Peace«, PfP) beitrat. Das Programm wurde 1994 ins Leben gerufen, um im euro-atlantischen Raum »die Stabilität zu erhöhen, Bedrohungen für den Frieden zu minimieren und gestärkte Sicherheitsbeziehungen aufzubauen«, und zwar auf der Grundlage »eines Eintretens für demokratische Prinzipien«. 1997 unterzeichneten die Staatschefs der Ukraine und der NATO-Staaten eine Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft (»Charter on a Distinctive Partnership«), auf deren Grundlage die NATO-Ukraine-Kommission eingerichtet wurde, ein entscheidungsbefugtes Gremium für die Zusammenarbeit und zur Weiterentwicklung der Beziehungen. 1998 wurde unter der Ägide der NATO-Ukraine-Kommission eine »Gemeinsame Arbeitsgruppe der NATO und der Ukraine für Reformen im Verteidigungsbereich« geschaffen. Zur Unterstützung der Zusammenarbeit vor Ort waren das Informations- und Dokumentationszentrum der NATO und das NATO-Verbindungsbüro seit 1997 bzw. seit 1999 in der Ukraine aktiv. Sie sollten die ukrainische Öffentlichkeit über die NATO und den Nutzen einer Zusammenarbeit informieren und die Reformen im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich unterstützen. Nach der Annexion der Krim hat die NATO diese Zusammenarbeit erheblich verstärkt und ein umfassendes Hilfspaket (»Comprehensive Assistance Package«) verabschiedet, das aus 16 Projekten zum Kapazitätsaufbau und Treuhandprojekten (»Trust Funds«) besteht, auf die man sich 2016 auf einem NATO-Gipfel geeinigt hatte. Zudem wurde die Ukraine 2010 als einer der sechs Partner mit vertieften Mitwirkungsmöglichkeiten (»Enhanced Opportunities Partners«) anerkannt, was dem Land einen »verstärkten Zugang zu Interoperabilitätsprogrammen und -übungen« ermöglichte. Eine Reihe bilateraler Ausbildungsmissionen, die von NATO-Partnern geleitet werden, bieten weiterhin Ausbildung und Kapazitätsaufbau für ukrainische Streitkräfte vor Ort.
Die NATO-Unterstützung für die Ukraine wurde zwar seit 2014 ganz beträchtlich intensiviert, doch hat sich die grundlegende Richtung der Zusammenarbeit bei Reformen im Verteidigungsbereich nicht geändert. Sie gilt weiterhin vor allem Reformen im Verteidigungs- und Sicherheitssektor im weiteren Sinne, sowie einer Unterstützung mit nichttödlicher Ausrüstung. Der Schwerpunkt wird stark auf eine demokratische Entwicklung gelegt, die auf lange Sicht die Basis für den Aufbau effektiverer Streitkräfte und eine glaubhafte militärische Abschreckung gegenüber Russland darstellt. Mit anderen Worten: Die Förderung gemeinsamer Normen und Werte und der Aufbau demokratischer Institutionen hat Vorrang vor rein militärischen Aspekten von Reformen, etwa vor taktischer und technologischer Kompatibilität. Die schleppenden Fortschritte im ersteren Bereich haben in der NATO für einige Zweifel hinsichtlich der Effizienz der kostspieligen militärischen Hilfsprogramme gesorgt.
Aus Sicht der Ukraine stellen die Annexion der Krim und die anhaltende russische Aggression eine existenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit und die territoriale Unversehrtheit dar, die eine grundlegende Revision der strategischen Prioritäten und Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit nötig machte. Seit 1994 hatte das Land in unterschiedlichem Maße positiv mit der NATO interagiert, doch die fehlende politische Geschlossenheit innerhalb des Landes hinsichtlich der geopolitischen Orientierung haben bis 2014 systematische Reformen im Verteidigungsbereich behindert. Bis weit in die 2000er Jahre hinein wurde bei Reformen kaum mehr als eine Verkleinerung der kostspieligen und ineffizienten Streitkräfte unternommen, die das Land aus sowjetischer Zeit geerbt hatte. Unter der strikt prowestlichen Führung von Präsident Wiktor Juschtschenko wurde 2005 zu einem gewissen Grad klar, welche Art Streitkräfte die Ukraine wollte. Juschtschenko sprach sich mit Blick auf eine Vollmitgliedschaft intensiv für einen Ausbau der Interoperabilität mit der NATO aus. Aus seiner Sicht war das ganz im Interesse der Ukraine, nämlich als Mittel für eine systematische und nachhaltige Transformation des Militärs wie auch zur Förderung einer breiteren demokratischen Entwicklung. Das »Staatliche Programm für die Entwicklung der Streitkräfte der Ukraine für die Jahre 2006–2011« gab dem Aufbau stark reduzierter, aber sehr gut ausgebildeter Streitkräfte Vorrang, die vor allem für eine Beteiligung an multinationalen Einsätzen geeignet sind. Als Juschtschenko 2010 von Wiktor Janukowytsch abgelöst wurde, erfuhr die explizit NATO-freundliche Orientierung eine Wendung. Das Militär wurde von nun an geradezu mutwillig vernachlässigt. Gleichzeitig wurden Pläne vorangetrieben, die Streitkräfte weiterhin zu reduzieren.
Die Annexion der Krim hat die strategischen Prioritäten und das Verständnis für die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine drastisch zugespitzt. Alle Unklarheiten hinsichtlich der geopolitischen Ausrichtung, die sich bei früheren verteidigungspolitischen Planungspapieren in einer neutralen oder bündnisfreien sicherheitspolitischen Orientierung widergespiegelt hatten, wurden beseitigt, nachdem Russland in der Militärdoktrin von 2015 als militärischer Gegner bezeichnet wurde. Gegenüber den nun notwendig gewordenen Fähigkeiten zur Bewältigung einer größeren bewaffneten Aggression durch einen gegnerischen Staat trat die Einsatzbereitschaft für den Fall kleinerer Kampfeinsätze in den Hintergrund. Kyjiw wählte unzweideutig den euroatlantischen Weg und formalisierte 2017 verfassungsrechtlich das Ziel einer vollständigen Interoperabilität mit der NATO bis spätestens 2020 sowie eine anzustrebende Vollmitgliedschaft in dem Bündnis. Angesichts der ungleich größeren militärischen Stärke des mächtigen Nachbarn wurde dies als der einzig realistische Weg hin zu einer glaubhaften militärischen Abschreckung gegen eine mögliche russische Aggression betrachtet. Angesichts der eindeutigen und präsenten Gefahr, der sich die Ukraine gegenübersieht, wurden Militärreformen im engeren Sinne als dringlichste Priorität betrachtet (insbesondere durch den Zugang zu neuesten Technologien und die taktische Ausbildung der Streitkräfte). Einzelne NATO-Mitglieder wie die USA haben zwar damit begonnen, der Ukraine tödliche Waffen zu liefern, während sich andere NATO-Staaten wie Deutschland vehement dagegen aussprechen. In offiziellen Mitteilungen werden »umfassende Reformen im Sicherheits- und Verteidigungssektor« angestrebt. Diese werden als unerlässlich »für die demokratische Entwicklung der Ukraine und die Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit« betrachtet. In Kyjiw hat dies zu einer gewissen Enttäuschung geführt, weil es als implizites Signal verstanden wurde, dass die NATO ungeachtet starker Solidaritätsbekundungen die prekäre Sicherheitslage der Ukraine nicht mit der gleichen Dringlichkeit wahrnimmt.
Die schleppenden Fortschritte bei den politischen Aspekten der Reformen haben in der NATO Zweifel an der Entschlossenheit der Ukraine zu einer demokratischen Entwicklung aufkommen lassen. Zudem wurde die Effizienz der kostspieligen Hilfsprogramme zunehmend hinterfragt. Dass in der Ukraine zu Kriegszeiten den militärischen Fähigkeiten Vorrang eingeräumt wird, bedeutet allerdings nicht, dass weitergefasste Reformen nicht als notwendig oder wünschenswert betrachtet werden. Das wird anhand der fortgesetzten Arbeit im ukrainischen Parlament deutlich, durch die die rechtliche Grundlage für eine zivile Aufsicht gestärkt werden soll. Schließlich zeigen die Erfahrungen, die in Entwicklungs- und Transformationsländern mit Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich gemacht wurden, dass grundlegende Veränderungen am System der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte, die zu Kriegszeiten unternommen werden, sich extrem schwierig gestalteten oder gar unmöglich waren.
Erfolgskriterien für Reformen
Zusätzlich zu den unterschiedlichen Ansichten über die Prioritäten von Reformen im Verteidigungsbereich, die sich im sicherheitspolitischen Umfeld nach 2014 ergeben, hat auch die fehlende Klarheit darüber, was es für ein Land bedeutet, als NATO-interoperabel eingestuft zu werden, die Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO beeinträchtigt, insbesondere aus Kyjiwer Sicht. Der Internetseite der NATO von 2021 zufolge haben sich die Beziehungen zwischen dem Bündnis und der Ukraine seit den frühen 1990er Jahren »zu einer der gehaltvollsten Partnerschaften der NATO entwickelt«. In offiziellen Stellungnahmen wurde wiederholt bekräftigt, dass diese Partnerschaft kein einseitiger Prozess sei, sondern von gegenseitigem Nutzen. Als die Ukraine 2020 einer der sechs Partner mit vertieften Mitwirkungsmöglichkeiten (»Enhanced Opportunities Partners«) der NATO wurde und damit zu Ländern wie Schweden, Finnland und Australien aufrückte, wurde dieser Status ohne Hinweis auf den Krieg mit Russland zuerkannt, dafür aber aus Anerkennung für den »bedeutenden Beitrag«, den die Ukraine in der Vergangenheit bei NATO-geführten Operationen und Missionen geleistet habe. Die Ukraine hatte solche Operationen seit den 1990er Jahren mit Fachkräften unterstützt, unter anderem in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak. 2010 schloss sich die Ukraine der Schnellen Eingreiftruppe (»Rapid Response Force«) der NATO an, die von dem Bündnis als »höchst einsatzbereite und technologisch moderne internationale Streitmacht« beschrieben wird. Das Land war das erste Nichtmitglied, das 2019 die Zertifizierung einer Einheit von Sondereinsatzkräften zur Beteiligung an der Schnellen Eingreiftruppe erhielt. Über die unmittelbare Unterstützung der Einsätze hinaus haben ukrainische Truppen regelmäßig an Manövern der NATO und einzelner Mitglieder des Bündnisses teilgenommen.
Die Ukraine hat über Jahrzehnte reiche Erfahrungen mit Einsätzen an der Seite von NATO-Truppen gesammelt, und die jüngsten Reformen sowie das Paket für verstärkte Hilfestellung (»Enhanced Assistance Package«) haben die operativen Fähigkeiten des Landes im Einklang mit NATO-Standards weiter gestärkt. Die ukrainischen Streitkräfte sind aus militärischer Sicht sehr viel stärker interoperabel als es die der mitteleuropäischen Staaten Ende der 1990er Jahre waren, als diese Länder NATO-Mitglieder wurden. Sie verfügten damals weder über viel Erfahrung durch internationale Operationen, noch hatten sie zum Zeitpunkt des Beitrittsangebots systematische Militärreformen abgeschlossen. Gleichwohl gilt die Ukraine, wie erwähnt, aufgrund der Defizite bei der demokratischen Entwicklung als weit von einer vollen Interoperabilität entfernt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte die NATO ihre rein militärischen Verteidigungsanstrengungen um breiter angelegte, auf gemeinsame Normen und Demokratie ausgerichtete Ziele erweitert. Diese geänderten Prioritäten spiegelten sich in der Aufgabenstellung der »Partnerschaft für Frieden« (»Partnership for Peace«, PfP) und dem Programm »Membership Action Plan« (MAP) wider, das 1999 gestartet wurde. Die Erwartungen an das Demokratisierungsniveau der Anwärterstaaten variierten in der Vergangenheit und sind nie in Stein gemeißelt gewesen. Die Arbeit an Reformen zur Korruptionsbekämpfung und für mehr Rechtstaatlichkeit dauert in mehreren der jüngsten NATO-Mitgliedstaaten immer noch an. Vor dem Hintergrund, dass die Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine stark ist und bereits so viele Jahre besteht, haben diese offensichtlich wechselnden Eckpfeiler für – militärische wie politische – Interoperabilität in Kyjiw für Enttäuschung gesorgt. Es wurde nämlich als Signal aufgefasst, dass die Leistungen und Beiträge der Ukraine nicht angemessen gewürdigt und belohnt werden. Darüber hinaus herrscht in der Ukraine zunehmend das Gefühl, dass es nicht um die Erfüllung einer Reihe von Erwartungen geht, sondern eine NATO-Mitgliedschaft im Fall der Ukraine vielmehr eine politische Frage ist, die selbst bei umfassenden und erfolgreichen Reformen nicht zu ihren Gunsten entschieden werden könnte. Präsident Wolodymyr Selenskyj formulierte es im September 2021 so: »Die Ukraine klopft an eine Tür, die niemand öffnen will«.
Welche Art Streitkräfte braucht die Ukraine?
Die NATO und die Ukraine sind sich einig, dass die unmittelbaren Ziele von Reformen im Verteidigungssektor in der Herstellung von NATO-Interoperabilität und einer glaubhaften militärischen Abschreckung gegenüber Russland bestehen. Allerdings bleibt die Frage offen, ob diese Ziele notwendigerweise miteinander vereinbar sind. Bedeutet der Schwerpunkt einer Einhaltung der NATO-Standards durch beide Seiten, dass dies zu Lasten einer Bewertung der Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine geht, die der spezifischen Bedrohungslage des Landes Rechnung trägt? Insbesondere durch den Umstand, dass Interoperabilität nicht unbedingt mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft angestrebt wird, müssen die Erfahrungen aus der bisherigen Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine berücksichtigt werden. Die ukrainischen Reformen im Verteidigungsbereich standen seit Mitte der 1990er Jahre unter dem Einfluss von Prioritäten des Bündnisses. Kyjiw eiferte den Entwicklungen im Westen nach und verschob den Fokus zunehmend weg von einer konventionellen Kriegsführung zwischen Staaten hin zu Kriegsszenarien der »neuen Art«. Vor allem das »Staatliche Programm für die Entwicklung der Streitkräfte der Ukraine für die Jahre 2006–2011« skizzierte Pläne für etwas, das die britische Verteidigungsexpertin Deborah Sanders als »Paradigma-Armee« bezeichnet hat. Es ist der Idealtypus eines modernen Militärs auf Basis des nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelten US-Modells, also eine schlankere, professionellere Streitkraft, ausgerüstet mit modernen Technologien und für das gesamte Spektrum an Konflikten schnell einsetzbar, vor allem für multinationale Operationen. Die Krim-Annexion hat deutlich gemacht, dass eine Ausrichtung der Militärreformen an den Prioritäten des Bündnisses kaum geholfen hat, das Land auf eine mögliche militärische Aggression durch Russland vorzubereiten.
Erst einmal sind einige wichtige Aspekte zu klären, um die Frage beantworten zu können, welche Art Streitkräfte die Ukraine braucht. Da in der näheren Zukunft eine Vollmitgliedschaft unwahrscheinlich ist, braucht es mehr Klarheit, wie eine Interoperabilität dazu beitragen kann, dass die Verteidigungserfordernisse der Ukraine angesichts eines aggressiven Russlands erfüllt werden. Einer der oft kritisierten internen Faktoren in der Ukraine, die wirksamen Verteidigungsreformen im Wege steht, ist das zögerliche Verhalten konservativer Militärführer. Sie sind nicht fähig, das sowjetische Denken über Krieg und Kriegsführung hinter sich zu lassen und stellen ein Hindernis auf dem Weg zu einer Interoperabilität mit der NATO dar. Für NATO-Mitglieder, die mit der Ukraine bei deren Verteidigungsreformen zusammenarbeiten, sind Konsultationen zur Aktualisierung der Doktrinen ein besonders wichtiges Handlungsfeld. Man ist enttäuscht, wie schleppend die Fortschritte bei der Verarbeitung und Einführung moderner NATO-Konzepte sind, etwa im militärischen Bildungsestablishment der Ukraine. Eine konservative militärische Führung, die sich Reformen und Neuerungen entgegenstellt oder sie behindert, ist keine exklusiv ukrainische Erfahrung, und es steht außer Frage, dass in den Streitkräften der Ukraine ernstliche Veränderungen vonnöten sind. Wenn es allerdings um eine Erneuerung der Doktrinen geht, insbesondere auf höchster strategischer Ebene, gibt es größere Probleme als nur die Bewegungsunfähigkeit konservativer Generäle. Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte die modernen NATO-Konzepte und die Terminologie vollständig verinnerlichen sollten, käme das Land als Nichtmitglied dem Aufbau einer glaubhaften Abschreckung gegenüber Russland kein Stück näher.
Die ukrainische Militärdoktrin und die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit werfen schwierige Fragen auf. Sollten diese unbeantwortet bleiben, bliebe das für die Zukunft der Partnerschaft der Ukraine mit der NATO nicht ohne Folgen.
Schlussfolgerungen
Die NATO und die Ukraine werden bald auf 30 Jahre Zusammenarbeit zurückblicken können. Es gab in dieser Partnerschaft zwar auch Probleme, doch gestaltete sie sich meist positiv, mit anhaltendem Engagement von beiden Seiten. Die Ukraine hat seit den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen beträchtlichen Beitrag zu den Operationen der Allianz gleistet. In jüngerer Zeit hat Kyjiw seine Entscheidung für einen euroatlantischen Weg klar verkündet. Die NATO wiederum hat das Land unterstützt, vor allem bei Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich. Als sich die Ukraine ab 2014 einem feindseligen militärischen Vorgehen durch Russland gegenübersah, hat die NATO ihre entschiedene Unterstützung und Solidarität deutlich gemacht. Die Unterstützung bei den Reformen im Sicherheits- und Verteidigungssektor wurde erheblich verstärkt, und diese Maßnahmen haben bereits Früchte getragen. In den letzten Jahren hat es allerdings Anzeichen für zunehmende Dissonanzen in den Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine gegeben. Auf Seiten der Allianz herrscht eine gewisse Enttäuschung über das Tempo der Reformen in der Ukraine. In der Ukraine wiederum wächst das Gefühl, dass die NATO mehr tun könnte, um das Land beim Aufbau von Kapazitäten zur Abschreckung eines künftigen feindseligen Vorgehens Russlands zu unterstützen. Auch wenn Kyjiw zweifellos eine Reihe gewichtiger interner Faktoren in Angriff nehmen muss, die erfolgreichen Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich im Wege stehen, so ist es für die Probleme in der Partnerschaft dennoch nicht allein verantwortlich. Auch die NATO muss sich eine Reihe ernster Fragen über ihr Verhältnis zur Ukraine stellen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder
Die beiden Autorinnen arbeiten derzeit an dem Gemeinschaftsprojekt »Was für ein Militär will und braucht die Ukraine. Untersuchungen zur Bedeutung des strategischen und politischen Kontexts für Militärreformen«, das von der British Academy/Leverhulme Trust gemeinsam mit dem britischen Department for Business, Energy and Industrial Strategy gefördert wird.