»Russland – das verstehe ich, Ukraine – das verstehe ich nicht«

Von Guido Hausmann (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg/Universität Regensburg)

Zusammenfassung
Wenn Deutschland heute zögert, sich politisch und militärisch für die Ukraine einzusetzen, dann spielen auch historische Erfahrungen und kulturelle Traditionen eine wichtige Rolle. Eine vergleichende geschichtliche Perspektive der deutschen Beziehungen zu Russland und zur Ukraine.

Wenn deutsche Politiker (und Historiker) bis vor kurzem über die Ukraine sprachen, kamen sie im zweiten oder dritten Satz meist auf Russland zu sprechen, häufig mit dem Hinweis auf die notwendige Differenzierung zwischen Putin oder der politischen Führung auf der einen Seite und der im Moment unterdrückten russischen Gesellschaft auf der anderen Seite. Sie sprachen dann am liebsten über Russland weiter, denn über die Ukraine fiel ihnen nur wenig ein. Erst in jüngster Zeit, nach Butscha, ersetzte betretenes Schweigen Verweise auf das Russland jenseits von Putin und seines Gefolges. Die starke deutsche Orientierung auf Russland, die sich in solchen Sprechweisen spiegelt, stieß international auf viel Kritik, vor allem der weitere deutsche Import von fossilen Brennstoffen aus Russland. Der moralische Tonfall dieser Kritik ist dabei verständlich, nur zu verständlich. Zwar lässt sich die Kritik auch auf manche Nachbarstaaten Deutschlands beziehen, die jedoch nicht die gleiche wirtschaftliche und politische Bedeutung wie Deutschland haben. Doch bieten solche moralische Invektive zu wenig Erklärungskraft. Eine vergleichende historische Perspektive der deutschen Beziehungen zu Russland und zur Ukraine kann hier Erklärungen beisteuern und sie soll hier mit dem Risiko der Vereinfachung versucht werden.

Als im 18.–19. Jahrhundert in Europa moderne Staatlichkeit entstand, wurde das Russische Reich eine von politischen Revolutionen ungefährdete hegemoniale und imperiale Macht im östlichen Europa, zumal nach den Teilungen des frühneuzeitlichen Großreichs Polen-Litauen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die moderne deutsche Staatsbildung zog sich gleichzeitig nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 jahrzehntelang bis zur Bildung des Zweiten Kaiserreiches 1871 hin. Für die deutschen Beziehungen zu Russland waren dabei die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen der Romanowdynastie und den deutschen Fürstenhäusern sowie politische Bündnisse in der Zeit der napoleonischen Kriege und der Bismarckzeit im Vergleich zur grundsätzlichen Hochachtung vor der Staatsbildung Russlands von geringerer Bedeutung, die als kulturelle Leistung angesehen wurde. Heute spricht man auch von Russland als einer historischen Nation. Vielfältige wirtschaftliche (z. B. Siemens & Halske), wissenschaftliche und kulturelle Verflechtungen ergänzten die dynastischen und politischen Beziehungen. Trotz Verwerfungen überlebten sie im 20. Jahrhundert auch Revolutionen, ideologische Gegensätze (Rapallo, Hitler-Stalin-Pakt) und Kriegsfeindschaften und drückten sich in Westdeutschland in politischen (»Ostpolitik«) und wirtschaftlichen (Röhren-Erdgas-Geschäfte von Mannesmann und Thyssen seit 1970) Sonderbeziehungen Westdeutschlands zur Sowjetunion aus, die mit Russland gleichgesetzt wurde.

Imaginationen Russlands waren ein wichtiger Teil dieser Beziehungen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Russland zu einer Projektionsfläche deutscher Befindlichkeit und kultureller Orientierungssuche. Zwar hatte Russland in vielen europäischen Ländern seit dem 16. Jahrhundert ein doppeltes Image und galt auf der einen Seite als asiatisches und barbarisches und auf der anderen Seite als christliches und sich europäisierendes Land. Es bot auch, vor allem im 18. Jahrhundert, vielfältige Chancen für Ärzte, Ingenieure und andere Fachkräfte und Gelehrte aus den deutschen Ländern. Im 19. Jahrhundert, im Zeitalter von Romantik, Nationsbildung und der Formierung moderner politischer Strömungen, wurde Russland jedoch zu einer breiteren gesellschaftlichen Projektionsfläche. Hier fand man sowohl den frommen russischen Bauern, den loyalen Monarchisten und Revolutionsgegner (und sogar einige Liberale) als auch, aus Sicht der deutschen Arbeiterbewegung, den reaktionären Gegner und bestimmte sich jeweils selbst in Abgrenzung zu oder in Übereinstimmung mit Russland. Die starken emotionalen Ausschläge dieser Beziehung setzten sich im 20. Jahrhundert fort und wurden in West- und Ostdeutschland in vielfältiger Weise transformiert, vor allem durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit seiner massenhaften und extremen Gewalt. Die Gorbatschow-Euphorie vom Ende der 1980er Jahre und die Zählung der 27 Millionen sowjetischen Toten im deutsch-sowjetischen Krieg 1941–45 als ausschließlich russische Tote weisen darauf hin, wie stark die deutsche Gesellschaft die Sowjetunion mit Russland gleichsetzte. Die deutsche Enttäuschung über sich entgrenzende russische Kriegsgewalt in der Ukraine im Jahr 2022, die zu einem Entsetzen über die russische Armee und das Schweigen der russischen Gesellschaft angesichts der Kriegsverbrechen überging und jetzt in eine Sprachlosigkeit vieler Politiker mündet, erklärt sich auch aus diesen spezifischen historischen Prägungen, ohne dass deren jeweilige Kontexte außer Acht gelassen werden sollen.

Deutschland und die Ukraine sind demgegenüber beinahe ausschließlich im 20. Jahrhundert, und hier bis zum Ende des Jahrhunderts fast nur auf tragische Weise miteinander verbunden. Zwar gab es auch mittelalterliche Verflechtungen (z. B. das Magdeburger Recht in vielen ukrainischen Städten) und frühneuzeitliche Wahrnehmungen ukrainischer Ereignisse (z. B. des großen Kosakenaufstands in der Ukraine Mitte des 17. Jahrhunderts) im deutschen Sprachraum, doch führten sie zu keinen nachhaltigen kulturellen und emotionalen Bindungen, wie sie etwa in Polen und mit Abstrichen in Österreich mit der Ukraine entstanden. Entscheidend dafür war auch die fehlende ukrainische Staatlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert.

Im 20. Jahrhundert prägten vor allem deutsche Massengewalt und die Beteiligung bei ukrainischen Staatsbildungen die ungleichen Beziehungen zur Ukraine. Die deutsche Massengewalt gegenüber Ukrainern am Ende des Ersten Weltkrieges als Teil der Besatzung im Jahr 1918 ist heute kaum mehr im hiesigen historischen Bewusstsein präsent. Dagegen wächst in den letzten Jahrzehnten das Bewusstsein für die deutschen Gräueltaten in der Ukraine in den Jahren 1941–44, seit den 1990er Jahren zum Beispiel auf lokaler Ebene für das Schicksal ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Doch erst langsam wird in Deutschland das wahre Ausmaß dieser Massengewalt bekannt. Fast gar nicht mehr im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent ist, dass die beiden entscheidenden ukrainischen Versuche, im 20. Jahrhundert einen eigenen Staat zu gründen, eng mit Deutschland verknüpft waren. In der Ukraine ist man sich dagegen dieser politischen Ebene der ukrainisch-deutschen Beziehungen sehr bewusst. Im Jahr 1918 erkannten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn die Ukraine im Frieden von Brest-Litowsk als eigenen Staat an, der sich angesichts weiterer imperialer Ansprüche (von Sowjetrussland und etwas später von Polen) aber nicht halten konnte. Die Unterstützung ukrainischer Staatlichkeit am Ende des Ersten Weltkrieges war auch gegen Sowjetrussland gerichtet. Die deutsche politische Elite, besonders die militärische, fand auch aufgrund fehlender Staatlichkeit keine Bindung an die Ukraine, wie eine Äußerung von Generalfeldmarschall Hermann von Eichhorn (1848–1918), Oberbefehlshaber der deutschen Besatzungstruppen in der Ukraine im Jahr 1918 zeigt: »Russland – das verstehe ich, Ukraine – das verstehe ich nicht.« Dennoch setzten ukrainische Nationalisten wenige Jahrzehnte später erneut auf die Deutschen, als sie beim Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1941 einen ukrainischen Staat ausriefen. Doch Hitler und die Nationalsozialisten hatten daran keinerlei Interesse, sehr wohl dagegen an wirtschaftlicher Ausbeutung und rassistischer Gewalt. Bei ihrer Verehrung für den politischen Führer der ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera übersehen manche Ukrainer heute das unheilige Bündnis, das er und andere mit den Nationalsozialisten eingingen, da sie ihn als antirussischen Kämpfer sehen. Hierzulande weiß man dagegen bis heute gar nichts über diese Verbindung und nur wenig über die Orte und Dimensionen deutscher Massengewalt in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg.

Erst bei der Gründung des ukrainischen Staates im Jahr 1991 spielte Deutschland keine zentrale Rolle mehr als imperialer Akteur, sondern erkannte die Ukraine zügig an. Das war nicht gegen Russland gerichtet, und die ukrainische Staatsgründung war bis heute ein Erfolg. Welche Auswirkungen die deutschen Erfahrungen mit der Ukraine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die politischen und gesellschaftlichen Beziehungen bis heute haben, ist schwierig festzustellen, zumal es in Westdeutschland zwischen 1945 und 1991 weder entwickelte wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zur Ukraine noch eine historische Erforschung der Ukraine gab.

Die deutsch-ukrainischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts hatten aber Auswirkungen: Im Vergleich zu den Beziehungen zu Russland sind sie gesellschaftlich weniger breit, intensiv und emotional geblieben. Bis vor Kurzem gab es auch kaum politische und gesellschaftliche Brückenbauer zwischen beiden Ländern wie die Brüder Klytschko. Zwar berichteten die deutschen Massenmedien im Jahr 2004 über zwei, drei Monate lang intensiv über die Orange Revolution in Kyjiw, aber zehn Jahre später, als der Euromaidan das mediale Interesse an der Ukraine erneut anzog, war das Wissen über diese vorangegangene Revolution schon wieder verloren gegangen. Wird sich das jetzt wiederholen oder gibt es eine Änderung in Politik und Gesellschaft? Es lohnt sich dabei auf einen Kenner Deutschlands wie den ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch zu hören, der sich noch kürzlich sehr skeptisch über Deutschland äußerte: »Acht Jahre lang hat sich niemand in Deutschland für die Ukraine interessiert«; und »der Respekt vor Einflusssphären steht für die Deutschen an oberster Stelle.« (18.2.2022) In der Tat, Deutschland ist ein sehr russophil geprägtes Land, dass zum Beispiel in großer Zahl Seifenopern über die russische Natur und Kultur im Fernsehen angeboten bekommt und verschlingt, aber gleichzeitig keine Filme über die Ukraine, ihre Kultur und Geschichte. Die ukrainische Literatur ist eine Ausnahme, Musik und Malerei aus der Ukraine gibt es faktisch nicht im Angebot. Gleichzeitig verändert sich mit der russischen Massengewalt in der Ukraine aber etwas. Es scheint in Politik und Gesellschaft ein langer Abschied von Russland einzusetzen. Oder täuscht der Eindruck, der russophile Teil der Gesellschaft ist nur »auf Tauchstation« gegangen und wartet darauf, dass »ein anderes Russland« an die Oberfläche tritt?

Wenn Deutschland heute zögert, sich politisch und militärisch für die Ukraine einzusetzen, dann spielen auch historische Erfahrungen und kulturelle Traditionen eine wichtige Rolle. Ihre Spuren sind zum Beispiel deutlich in einem kürzlichen Beitrag von Jürgen Habermas (»Krieg und Empörung« SZ 29.04.2022) zu erkennen, wenn er über Atomwaffen und (bloße) Emotionen in politischen Beziehungen reflektiert und dahinter der politische Respekt vor Russland und der fehlende Respekt für die Ukraine zu spüren ist. Endlich aber beginnen sich die deutschen Beziehungen zur Ukraine von den Beziehungen zu Russland zu emanzipieren. Deutschland hat dafür lange gebraucht und die euro-atlantische Einbindung ist dafür wesentlich. Die politische Elite blickt sprachlos auf Russland, aber beginnt auch erst, eine Sprache für die Ukraine und mit Ukrainern zu finden (Konvulsionen wie die Nicht-Einladung, nicht Ausladung, des deutschen Bundespräsidenten eingeschlossen), die sie über Mitleid über erfahrende Gewalt hinaus als politische Subjekte anerkennt.

Der Text ist ursprünglich erschienen am 19. Mai 2022 im OstBlog Spezial des IOS Regensburg, https://ukraine2022.ios-regensburg.de/deutschetraditionen01/.

Zum Weiterlesen


Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS