Ran Ichay über das vormalig sowjetische Zentralasien und den palästinensisch-israelischen Konflikt

Von Marilyn Stern (Middle East Forum, Philadelphia)

Zusammenfassung
Ran Ichay, Direktor des Jerusalem Centre for Applied Policy (JCAP), war vormals als Israels Botschafter in Kasachstan tätig. Er sprach am 4. Dezember bei einem Webinar des Middle East Forum (Video unter https://www.youtube.com/watch?v=tdHowBqckk8) im Interview mit Alex Selsky, Senior Advisor des Israel Victory Project (IVP) des Middle East Forum. Im Folgenden sind Ichays Kommentare zusammengefasst. Die Zentralasien-Analysen übernehmen eine ins Deutsche übersetzte Version der Zusammenfassung des Webinars mit freundlicher Genehmigung des Middle East Forum.

Das Entstehen der zentralasiatischen Länder in den 1990er Jahren hat Jerusalem eine »neue, frische Grundlage« zur Entwicklung bilateraler Beziehungen geboten. Obwohl die Region »das sowjetische Erbe gegenüber der Welt geerbt hatte (…) hatte sie im Konkreten nichts damit zu tun.« Mit der Unabhängigkeit waren die zentralasiatischen Länder frei, die Parameter ihrer Beziehungen zu anderen Ländern selbst zu bestimmen.

Israels Beziehungen mit der Sowjetunion und dem Ostblock waren allgemein politisch angespannt. Doch in der postsowjetischen Periode fand Israel plötzlich »zwischen zwölf und zwanzig neue Länder« vor, die in der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa entstanden waren. Diese Gelegenheit hat den Israelis eine »Tabula rasa« in den internationalen Beziehungen geboten – eine unbeschriebene Tafel, auf der sie unbelastet von vorgefassten Vorurteilen losschreiben konnten, in einer Region, die dem neu gegründeten jüdischen Staat und seinem zionistischen Vorhaben zuvor feindlich gegenüberstand.

Ichays Amtsantritt als Botschafter in Kasachstan begann 2006, kurz nach dem Ende von Israels umstrittenen zweiten Libanonkrieg. Der heutige Präsident Kasachstans, Kassym-Dschomart Tokajew, der damals Außenminister war, nahm Ichays Beglaubigungsschreiben mit einem bedeutungsvollen Satz entgegen: »Zwischen unseren Ländern gibt es keine Widersprüche.« Der Stellenwert dieses Grußes, der auch vom kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew wiederholt wurde, lag in seiner Bedeutung, dass die Kasachen, und auch einige andere zentralasiatische Länder, dringendere Probleme als den israelisch-palästinensischen Konflikt hatten.

Trotz des anhaltenden russischen Einflusses in den Ländern Zentralasiens sind die dortigen Staaten unabhängig und mehr von praktischen Überlegungen geleitet. In Kasachstan lebt die größte russische Minderheit in Zentralasien, und Russland würde sich nur einmischen, wenn Israel dessen Interessen in Zentralasien beeinträchtigen sollte. Letztlich ist Russland mit anderen Angelegenheiten beschäftigt. Für Israel erweisen sich die etwa eine Million russischsprachigen Bürger, die aus der Sowjetunion nach Israel emigriert sind, als Vorteil in der Verständigung mit Kasachstan und den zentralasiatischen Ländern.

Obwohl der Iran mit den zentralasiatischen Ländern über eine gemeinsame Küstenlinie am Kaspischen Meer verbunden ist, haben Kasachstan und andere Länder in der Region ihre Beziehungen mit Israel nicht zurückgestuft. So sehr die zentralasiatischen Länder den Iran auch brauchen, »Ich denke mit Hinblick auf die eigenen Interessen im Kaspischen Meer braucht der Iran sie mehr.«

Nach dem Überfall auf Israel am 7. Oktober haben der Präsident und der Außenminister Kasachstans das einzigartige Verhältnis zwischen Israel und der Region bewahrt und die Hamas direkt verurteilt. Neu ist, dass es trotz der eindeutigen israelischen Kriegsführung gegen die Hamas von den zentralasiatischen Staaten keine scharfen Verurteilungen Israels gibt. Es ist bezeichnend, dass sie zwar keine Sympathie für Israel äußern, aber auch keine Erklärungen gegen Israel abgeben.

Es gibt jedoch zwei verschiedene Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen Israel und den zentralasiatischen Ländern zu betrachten, die am besten vor dem Hintergrund des Konfliktes im Nahen Osten verstanden werden. Formal verlangt die arabische Welt, dass die zentralasiatischen Länder in internationalen Foren gegen Israel abstimmen und ihm keine Unterstützung im israelisch-palästinensischen Konflikt anbieten. »Auf der formalen Ebene stimmen sie auf allen internationalen Foren und wann immer sie können gegen uns. Aus ihrer Sicht ist dies notwendig, weil es das ist was die arabische Welt verlangt.«

Jedoch ist Kasachstan praktisch »das in den Beziehungen der Region zu Israel am weitesten fortgeschrittene zentralasiatische Land.« Der Grund hierfür liegt darin, dass es seinen neugeborenen Staat als »historischen Nachfolger« von Israels eigener Wiederherstellung als jungem Staat in der internationalen Arena betrachtet. So haben Kasachen und auch andere geäußert: »Wir gehen jetzt denselben Weg, den ihr vor fünfzig, sechzig, siebzig Jahren gegangen seid. Ihr habt das gut gemacht, und wir möchten genauso gut abschneiden wie ihr. Zeigt uns das, geleitet uns.« Dieses Gefühl der Freundschaft bildet die »recht einzigartige« Grundlage, auf der Israel seine Aktivitäten mit Zentralasien aufbaut.

Ein weiterer wichtiger Punkt in Bezug auf die zentralasiatischen Länder ist, dass sie muslimische Länder sind und als solche mit den anderen muslimischen Ländern der weiteren Region in Verbindung stehen. Allerdings unterscheiden sie sich von anderen regionalen muslimischen Ländern dadurch, dass ihre Variante des Islam kulturell und nicht politisch ist und religiöse Anhängerschaft in diesen »sunnitischen säkularen« Ländern kein vorrangiger Faktor ist. Die Tatsache, dass der Islam weder in Kasachstan noch in Usbekistan Staatsreligion ist, ist Abbild dieser Realität. Daher überrascht es nicht, dass die Bemühungen von Saudi-Arabien und Iran, den Islam in Zentralasien zu stärken und dabei ihre eigenen Interessen zu fördern, nicht aufgegangen sind.

Israelis in Kasachstan fühlen sich sicher, da »es ein Land ohne Antisemitismus ist.« Die Aufrechterhaltung von guten politischen sowie wirtschaftlichen Beziehungen in der Region hat auch eine strategische Komponente, da Zehntausende kasachische Juden eine regionale Verbindung repräsentieren, die Israel mit seinen Glaubensgenossen teilt.

Zentralasiens »Carte-blanche«-Haltung gegenüber Israel muss dennoch »dem Gesetz der großen Zahlen« im internationalen Forum Rechnung tragen. Zentralasiatische Länder haben mehrere Botschaften in arabischen und muslimischen Ländern, aber nur eine Botschaft in Israel. Die gleiche Diskrepanz spiegelt sich auch in den Hauptstädten Zentralasiens wider [Anmerkung der Redaktion: neben Kasachstan unterhält mittlerweile auch Usbekistan eine Botschaft in Tel Aviv, israelische Botschaften existieren mittlerweile in Astana, Taschkent und seit 2023 auch in Aschgabat]. Dennoch ermöglicht das zweistufige Verhältnis zwischen den von der internationalen Dynamik beeinflussten Formalitäten und den von der Praxis geprägten Beziehungen »vor Ort«, dass Israel sein Know-how, seine Wissenschaft und seine Produkte wirtschaftlich in eine aufgeschlossene Region exportieren kann.

Aus dem Englischen von Richard Schmidt

Quelle: https://www.meforum.org/65305/ran-ichay-on-former-soviet-central-asia-and

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