Belarus-Analysen

Ausgabe 50 (08.07.2020) — DOI: 10.31205/BA.050.02, S. 7–10

Belarus vor den Wahlen: Einige soziologische Aspekte

Von Andrei Vardomatski (Belarusian Analytical Workroom, Warschau)

Zusammenfassung
Niemand hatte angenommen, dass die Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus sich als derart dramatisch herausstellen würden, wie es derzeit zu beobachten ist. Noch vor einem halben Jahr schien es, als würden sie lediglich eine Wiederholung der öden Wahlen von 2015. Die vielzähligen Stände der Initiativgruppen der alternativen Kandidaten, die mehrere Hundert Meter langen Schlangen von Leuten, die jedem Kandidaten, nur nicht Aljaksandr Lukaschenka ihre Unterschrift geben wollen, und das Erscheinen von ganz neuen potenziellen Kandidaten haben diese Wahlen überraschend und unberechenbar gemacht. Es gibt zwei Gründe, weswegen sie mit früheren Wahlen nicht vergleichbar sind: das Coronavirus und die gegenwärtige wirtschaftliche Lage von Belarus. In ihrem Zusammenspiel haben diese beiden Faktoren einen kumulativen Effekt. Die Lage der Wirtschaft ist im Vorfeld der Wahlen eine Art Schwarzpulver und das Coronavirus die Zündschnur dazu. Der Beitrag untermauert diese These mit einigen soziologischen Daten.

Die globale Covid-19-Pandemie, die Belarus wie auch die ganze Welt erfasst hat, förderte zwei wichtige Merkmale des belarussischen Staatsapparats und seiner Funktionsweise zu Tage. Das erste besteht in einer mangelnden Effizienz bei der Bewältigung von Krisensituationen; zweitens wird die Bevölkerung nicht ehrlich über die tatsächliche Lage im Land informiert. Das belegen einige empirische soziologische Daten.

Die größte internationale komparative soziologische Studie zum Thema Covid-19 ist der »International COVID19 Survey«, der in 58 Ländern durchgeführt wurde. Die Studie wurde durch Wissenschaftler von 12 der weltweit führenden Universitäten (u. a. Oxford, Harvard und Cambridge) erstellt. Die Befragung erfolgte online. Der Belarusian Analytical Workroom ist der offizielle Repräsentant dieser Studie auf dem Gebiet der Republik Belarus. Vom 20. März bis zum 6. April 2020 wurden weltweit über 100.000 Personen befragt, davon 3.300 in Belarus.

Das Besondere der Covid-19-Pandemie besteht in ihrer außerordentlichen Dynamik und Wechselhaftigkeit in jeder ihrer Phase. Die Zahlen in den Grafiken zeigen, dass das Land zu dem Zeitpunkt, als die Pandemie gerade Belarus erreicht hatte, sich jenseits der weltweiten Tendenzen befand. Gegenwärtig (Stand: 17. Juni) ist die Zahl der Infizierten in Belarus mit 6.573,81 Fällen pro einer Million Einwohner die höchste in ganz Europa und die nach Chile, Peru und den USA die vierthöchste in der Welt.

1.

In der Grafik 1 werden die Defizite in der Reaktion der Regierung auf die Pandemie dargestellt, wie sie in der Bevölkerung wahrgenommen werden. Die Einschätzung des Vorgehens der Regierung in Bezug auf den Ausbruch der Corona-Epidemie erfolgte auf der Skala »völlig überzogen«, »etwas überzogen«, »angemessen«, »etwas unzureichend« und »völlig unzureichend«.

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Der Index für eine »unzureichende« Reaktion liegt in Bezug auf die belarussische Regierung bei 0,864 und in Bezug auf die Gesellschaft bei 0,610. Das ergibt hinsichtlich der Regierung den zweiten Platz unter 58 Ländern. Je höher dieser Wert, desto unzureichender ist in der Wahrnehmung die Reaktion der Regierung des betreffenden Landes. Einen höheren Wert weist allein die Türkei auf (0,916). Dichtauf folgen die Vereinigten Staaten (0,851), Russland (0,845) und Indonesien (0,838). Die Belarussen bewerteten also die Wirksamkeit des Vorgehens ihrer Regierung als höchst unzureichend. Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Weg, den das Land bei der Bekämpfung des Coronavirus eingeschlagen hat (Verzicht auf strenge Quarantäne-Maßnahmen), sich von dem in den Nachbarländern und in anderen Staaten in Europa unterscheidet.

2.

Gleichzeitig befindet sich die Bewertung dessen, wie die Gesellschaft in Belarus auf die Pandemie reagiert hat, im Rahmen des weltweiten Durchschnitts (Grafik 2). Hier geht es vor allem um die Hilfe, die in der Gesellschaft zum Kampf gegen die Epidemie organisiert wurde (das Sammeln von Geldern, die Beschaffung und Lieferung von Masken, Desinfektionsmitteln und Schutzausrüstung für die Ärzte in den Kliniken). Das wurde in der Gesellschaft schneller organisiert als durch den Staat. Allerdings ließ der Staat nach einer gewissen Zeitspanne natürlich eine entsprechende Produktion anlaufen.

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Die Reaktion der Gesellschaft – nicht der Regierung – auf die Coronakrise wurde von den Belarussen sehr viel besser bewertet als die Reaktion der Regierung. Dadurch entstand bei den Menschen der Eindruck, dass es die Gesellschaft, und nicht der Staat war, die die Ärzte bei deren heldenhafter, gefährlicher Arbeit unter infektiösen Bedingungen tatsächlich unterstützt hat, und dass es die Gesellschaft war, die den Erkrankten geholfen hat. Tagtäglich erfuhren die Belarussen von Hilfe, die entweder von einer Nichtregierungsorganisation, von einer privaten Firma oder schlichtweg von einer Privatperson geleistet wurde.

Es sei hier betont, dass es nicht nur wichtig ist, die einfache Anzahl der Belarussen zu wissen, die mit der Reaktion ihrer Regierung unzufrieden sind. Um die Spezifik des Geschehens in Belarus zu verstehen, müssen diese Zahlen mit anderen Ländern verglichen werden. Unzufriedene gab es auch in anderen Staaten, unter anderem in hochentwickelten Ländern wie Deutschland oder den USA. In Belarus jedoch ist das Niveau der Unzufriedenheit praktisch das weltweit höchste, was dann im Kontext der Wahlen in Protestverhalten mündete.

3.

Die Beachtung der Regeln des sogenannten epidemiologischen »vermeidenden Handelns« (Einhaltung eines Abstands von mindestens zwei Metern) ist ein gesonderter Aspekt, an dem sich die Reaktion der Gesellschaft auf die Pandemie ablesen lässt. Auch hier können wir beobachten, dass Belarus wiederum jenseits des allgemeinen weltweiten Trends lag. Zu Beginn der Epidemie hielten sich die Belarussen nur in geringem Maße an dieses Gebot, was auf die inkonsequente Informationspolitik des Staates zurückzuführen ist.

4.

Die offizielle Informationspolitik fand in der Bevölkerung kein Vertrauen. Grafik 3 zeigt das äußerst geringe Vertrauen gegenüber amtlichen Informationen über die Corona-Lage (hinsichtlich der Frage, ob die verbreiteten Informationen stimmen).

Wenn wir vom Coronavirus als von einem Zünder für die gegen Lukaschenka gerichteten Stimmungen sprechen, dann sind damit in erster Linie nicht die medizinischen Folgen der Pandemie gemeint, sondern die sozialen und politischen. Das Coronavirus war gleichsam ein magischer Kristall, der vielen Belarussen deutlich gemacht hat, wie unangemessen das System des Staates ist. Die unzureichende Informierung der Bevölkerung bekam nun einen existenziellen Sinn: Die Bevölkerung nicht über eine Verschlechterung ihrer tatsächlichen wirtschaftlichen Lage zu informieren, ist eines. Etwas ganz anders aber ist es, wenn den Menschen in beschnittener, entstellter Form über die Opfer des Coronavirus berichtet wird; das erzeugt eine andere emotionale Ladung. Die Bevölkerung war unzufrieden, mit welcher Frequenz Informationen erfolgten, mit dem Umfang der Informationen und damit, dass die Einschätzung der Zahl der Erkrankten nicht stimmig schien. Die vom Präsidenten in halb scherzhafter Manier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus (»Wodka und Trecker«), und dass er diese äußerst gefährliche Krankheit als Psychose interpretierte, hat die Menschen schlichtweg aufgebracht. Fragen von Leben und Tod erzeugen Motivationen von ganz anderer Kraft als der Rubel, der im Geldbeutel fehlen könnte. Daher kam es lokal zu existenziellen informationellen »Ausbrüchen« – durch Ärzte, die über die schwierige Lage in den Kreiskrankenhäusern berichten, und durch einfache Leute, die von den Opfern in den größeren und kleineren Städten erzählen. Die Menschen sahen um sich herum das eine – die Erkrankten –, und erfuhren aus den staatlichen Medien etwas ganz anderes, nämlich Erfolge der Medizin. Es ist eine Distanz entstanden, eine Kluft zwischen der eigenen, individuellen informationellen Erfahrung der Menschen und dem Bild, das ihnen von den staatlichen Medien vermittelt wird. Wenn dies jedoch früher Routinefragen der wirtschaftlichen Lage betraf, dann ging es jetzt tatsächlich um Fragen von Leben und Tod.

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Das alles wurde alles durch die Möglichkeit verstärkt, dass die Menschen durch einen Mausklick im Internet Vergleichsinformationen über die Lage in anderen Ländern abrufen können. In der Gesellschaft wurde das schnell als eine Art Parallele zur Informationspolitik der sowjetischen Regierung kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe 1986 wahrgenommen, als die sowjetischen Medien den Menschen in Belarus den Unfall und die damit verbundenen Gesundheitsgefahren lange verheimlichten.

Die fehlgeleitete Informationspolitik gegenüber der Bevölkerung wurde durch eine herablassende, erniedrigende Rhetorik in den staatlichen Medien und aus dem Munde des ersten Mannes im Staate ergänzt, was die Reaktionen verstärkte und die Stimmung anheizte: Ein Arzt, der sich bei der Arbeit bei einem Erkrankten angesteckt hat, musste sich anhören, dass er selbst an seiner Infizierung schuld sei, weil er den Abstand nicht eingehalten habe. Und die Angehörigen eines verstorbenen älteren Menschen bekamen die Frage zu hören: Warum ist der überhaupt auf der Straße rumgelaufen? Ohne Mitgefühl für die Opfer des Virus und Respekt für die heldenhafte Arbeit des medizinischen Personals unter diesen Bedingungen. Dieser fehlende Respekt ist in der Tat ein Faktor, der die öffentliche Meinung negativ geladen und aufgeheizt hat.

Das alles hatte zu Folge, dass sich vor den Wahlen die Motivation zur Stimmabgabe vollkommen verändert hat: Es geht nicht mehr darum, für wen man seine Stimme abgibt, sondern gegen wen. Die Motivation kehrte sich ins Negative: Ich werde nicht dem Kandidaten X meine Stimme geben, der das beste Wirtschaftsprogramm vorlegt; sondern gegen Lukaschenka. Jedem, nur nicht Lukaschenka.

5.

Der zweite zentrale Grund, der zu der Pandemie hinzukommt und ein derart vehementes Engagement der Wahlaktivisten und diese Unzufriedenheit der Wähler hervorgerufen hat, ist die eigene katastrophale Einschätzung der wirtschaftlichen Lage. Grafik 4 zeigt die negative Entwicklung auf.

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In den Messungen des Belarusian Analytical Workroom hat es eine derartige Verschlechterung der Werte seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr gegeben. Stellt man einen Vergleich zwischen dem März 2020 (dem Beginn der Pandemie) und dem Dezember 2019 an, so ergibt sich aus Grafik 4, dass die Einschätzung der Makrosituation als »schlecht« von 38 auf 61 Prozent zugenommen hat, was einer Verschlechterung um 23 Prozent entspricht. Das hatte es weder während der Wirtschaftskrisen von 2008, 2011 oder 2015 gegeben, noch in der Zeit der sogenannten »Sozialschmarotzer-Unruhen« des Jahres 2017.

Wichtig ist, dass diese Umfrage bereits vor der massiven Verbreitung des Coronavirus in Belarus begonnen wurde (der Zeitraum erstreckt sich vom 11. März bis zum 6. April). Die Ergebnisse lassen sich als relativ milde betrachten, doch bereits hier zeigen sie eine drastisch gestiegene Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer wirtschaftlichen Lage.

Somit haben in Belarus die beiden Faktoren Wirtschaft und Corona-Epidemie im Zusammenspiel die aufgeheizte Atmosphäre vor den Wahlen erzeugt, die von der Weltöffentlichkeit jetzt mit Interesse verfolgt wird.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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