Belarus-Analysen

Ausgabe 54 (05.04.2021), S. 9–11

Die Antwort der EU auf die Krise in Belarus: Solidarität oder untätiges Zusehen?

Von Katsiaryna Shmatsina (Belarussisches Institut für Strategische Studien BISS, Minsk)

Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU können als Fallstudie dienen, wie die EU im Umgang mit dem autoritären Regime buchstäblich jede denkbare Strategie einsetzte. In den 26 Jahren unter Lukaschenka als Präsident hat die EU als Reaktion auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen Belarus Sanktionen verhängt, hat die Unterstützung für die Zivilgesellschaft ausgebaut und mehrere Versuche einer Annäherung unternommen, wobei dem offiziellen Minsk ein Vertrauensvorschuss hinsichtlich einer Liberalisierung erteilt und technische Hilfe zur Modernisierung der Institutionen in Belarus angeboten wurde. In den letzten Jahren – einem weiteren Zyklus der Annäherung seit 2015 – hat es fast schon als schlechter Ton gegolten, in der öffentlichen Diskussion mit europäischen Politiker Kritik an Lukaschenkas Regime vorzubringen. Das allgemein akzeptierte Narrativ lautete vielmehr, dass es beim gegenseitigen Verständnis von Minsk und Brüssel Fortschritte gebe. Die EU neigte dazu, Bereiche gemeinsamer Grundlagen zu betonen, wie etwa die Zusammenarbeit bei unpolitischen, sensiblen Bereichen, unter anderem der technischen Hilfe im Rahmen der Östlichen Partnerschaft.

Die Krise nach den Wahlen von 2020 hat die Beziehungen der EU zu Belarus auf den Anfang zurückgeworfen, wobei das in den letzten Jahren Erreichte weggewischt und die westliche Politik in Richtung offizielles Minsk vor den Kopf gestoßen wurde. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, wurde nicht nur dadurch überschritten, dass in Reaktion auf die friedlichen Proteste über 30.000 Menschen festgenommen wurden, was die Zahlen aus früheren Jahren bei Weitem übersteigt, beispielsweise die 700 Festgenommenen vom Dezember 2010. Wichtiger noch war die rote Linie, die mit Hunderten Berichten über unmenschliche Behandlung und Folter in den Haftzentren überschritten wurde, wie auch mit mehreren Todesfällen, die es aufgrund vorsätzlicher Gewalt seitens der Polizei gab. Die Repressionen halten bis heute an; täglich werden Aktivisten festgenommen. Fortgesetzt werden auch die Versuche des Regimes, jedwede Initiative jener Bürger zu brechen, die Kritik am Regime artikulieren und sich den Protesten anschließen könnten.

Die Implikationen, die diese Entwicklung für die Sicht der EU auf Belarus hat, sind derart, dass nun eines klar ist: Die frühere Strategie der EU einer technokratischen Demokratieförderung wird zukünftig nicht mehr möglich sein. Sämtliche Errungenschaften früherer Jahre und die scheinbare Aufgeschlossenheit des offiziellen Minsk gegenüber dessen europäischen Gegenüber, etwa die Reputation von Wladimir Makej als progressiver und aufgeschlossener Außenminister, schrumpften drastisch zusammen, als das Regime auf einen Überlebensmodus um jeden Preis schaltete und staatlichen Terror sowie Straffreiheit der Polizei für den Tod von Protestierenden zu rechtfertigen suchte. Der Austausch von institutioneller Expertise in der Verwaltung und die Entwicklung von Infrastrukturprojekten hatten während der Annäherungsphase ihren Zweck erfüllt. Mit Blick in die Zukunft allerdings, falls es Lukaschenka gelingt, den Status quo aufrechtzuerhalten, wäre es sinnlos, einen ähnlichen Rahmen für die Zusammenarbeit herzustellen, da dies allein den Interessen des Regimes in Belarus dienen würde.

Bislang ist die Reaktion der EU auf die Krise in Belarus proaktiv gewesen. Die EU hat Sanktionen verhängt und Kontakte zu den belarusischen Behörden ausgesetzt. Gleichzeitig wurden Finanzhilfen in die belarusische Zivilgesellschaft geleitet. Mehrere Mitgliedstaaten der EU, darunter die baltischen Staaten, sind äußerst aktiv gewesen, um das Thema Belarus in Brüssel und darüber hinaus ins Rampenlicht zu bringen. So hat Swjatlana Zichanouskaja auf Einladung Estlands informelle Treffen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen abgehalten. Litauen setzte sich für den Einsatz der Prinzipien universeller Jurisdiktion ein und nahm Ermittlungen zum gewaltsamen Vorgehen des Regimes gegen die Protestierenden auf, nachdem gemäß dem Moskauer Mechanismus der OSZE ein Berichterstatter zu Belarus ernannt worden war. Deutschland und die Tschechische Republik haben ähnliche Untersuchungen begonnen, um in Richtung der belarusischen »Silowiki« das Signal zu senden, dass diejenigen, die in die Gewalttaten verstrickt sind, zur Verantwortung gezogen werden, sobald sie die EU-Grenze übertreten. Regelmäßige Treffen europäischer Entscheidungsträger mit Vertretern der demokratischen Opposition erlauben es, das Vorgehen in Bezug auf Belarus zu koordinieren und eine bedarfsorientierte Antwort auszuarbeiten, wie weiterer Druck auf das Regime ausgeübt und die Zivilgesellschaft unterstützt werden könnte.

Allerdings gibt es auch bestimmte Grenzen, wie weit der politische Wille der EU zur Herstellung eines echten Wandels in Belarus reichen würde. Schließlich haben die bislang verhängten Sanktionen keinen substanziellen Druck auf Lukaschenka und dessen Kumpane erzeugt. Gestützt auf den Inhalt der drei Sanktionspakete scheint es leichter zu sein, jene Richter und Polizisten auf die Liste zu setzen, die an den Repressionen beteiligt waren. Sehr viel komplizierter ist es aber, große Unternehmen ins Visier zu nehmen, insbesondere jene, die womöglich Verbindungen zu Unternehmen in der EU haben. Die langwierige Krise wirft auch die Frage auf, wie eine langfristige Antwort der EU aussehen könnte, falls Lukaschenka sich an der Macht halten sollte. Es ist von zentraler Bedeutung, dass der Westen nicht in die Falle neuer Liberalisierungsversprechen des belarusischen Regimes tappt oder Lukaschenkas Versuchen zuzustimmen, einen nationalen Dialog ohne Beteiligung der echten demokratischen Opposition zu orchestrieren. Auch werden in Brüssel die Entscheidungen in Bezug auf Belarus unter Einberechnung einer potenziellen Antwort durch Russland getroffen.

Ungeachtet all der genannten Einschränkungen kann und sollte die EU bei der Unterstützung der Menschen in Belarus, die für ihren Kampf für Freiheit tagtäglich einen hohen Preis zahlen, eine Rolle spielen. Die aktuelle Krise ist für die Zukunft der Demokratie in Belarus von entscheidender Bedeutung: Die Konsolidierung der belarusischen Gesellschaft gegen das Regime hat – verglichen mit früheren Jahren – qualitativ ein neues Niveau erreicht. Die EU sollte solidarisch an der Seite der Belarus_innen stehen und sich auf die ihr zur Verfügung stehenden Mittel für politischen Druck konzentrieren. Die Unterstützung einer Vermittlung durch die OSZE könnte hier der nächste logische Schritt sein.

  1. Während die Diskussion über ein neues Sanktionspaket stattfinden, ist es wichtig, jene konkreten Unternehmen ins Visier zu nehmen, die mit dem Regime verbunden sind, auch wenn diese versuchen könnten, ihre Kommunikationskanäle in die EU-Institutionen zu nutzen und gegen solche Listen zu lobbyieren. Sanktionen allein werden Lukaschenka nicht zum Abtritt zwingen. Erhöhen sich jedoch für die regimenahen Eliten die Kosten für die Unterstützung des Regimes, könnten sie ihre Entscheidung zur Aufrechterhaltung des Status quo überdenken.
  2. Ein weiterer wichtiger Schritt wäre, auf einer Vermittlung durch die OSZE zu bestehen. Hier kommt der Faktor Russlands ins Spiel: Einerseits könnte eine Entscheidung für die OSZE für Moskau akzeptabel sein, da Russland Mitglied der OSZE ist und somit in den Prozess eingebunden wäre. Gleichzeitig neigt Wladimir Putin jedoch zu einem exklusiven Dialog mit Lukaschenka und versucht aus der Krise auf seine Art Kapital zu schlagen – ohne Diskussion mit dem Westen. Dabei steht es in der Macht der EU, mit der russischen Führung eine Diskussion über mögliche Lösungen der Krise in Belarus zu beginnen, und zwar angesichts des Umstandes, dass das Regime in Belarus ohne Moskaus Unterstützung nicht überleben würde. Russland und die EU haben offensichtlich entgegengesetzte Ansichten zu einer Lösung für Belarus. Moskau würde wohl kaum einem Szenario zustimmen, bei dem der belarusische demokratische Protest siegt. Gleichwohl gibt es für Szenarien, die für beteiligten Seiten akzeptabel wären, einen Diskussionsspielraum mit Moskau. Die EU kann die Stimme der Führung der Demokratiebewegung in Belarus verstärken, die zu einem offenen Dialog mit Russland aufruft und behauptet, bei dem Protest gehe es allein um einen inneren Wandel in Belarus und nicht um eine geopolitische Orientierung des Landes. Damit soll versichert werden, dass eine neue Führung in Belarus sich nicht von Russland abwenden werde. Neben anderen Argumenten ist es wichtig, dem Kreml zu vermitteln, dass Versuche, Lukaschenka zu halten oder ihn durch jemanden aus der Nomenklatura oder eine moskaufreundliche Figur zu ersetzen, in den Augen einer höchst mobilisierten Gesellschaft in Belarus nicht hinnehmbar wären. Für die Belarus_innen läge die einzige akzeptable Lösung in einem Kandidaten oder einer Kandidatin, der oder die in den Augen der Bevölkerung tatsächlich Legitimität genießt.
  3. Schließlich ist eine Unterstützung für die Zivilgesellschaft in Belarus vonnöten, unter anderem für jene Aktivisten, die angesichts der drohenden Strafverfolgung gezwungen waren, das Land zu verlassen, oder jene, die den Mut haben, in Belarus zu bleiben und sich täglich der Gefahr von Repressionen auszusetzen. Die EU hat bereits im Rahmen des Solidaritätsprogramms EU4Belarus erhebliche finanzielle Hilfen bereitgestellt. Besonders bemerkenswert ist, dass die EU die Appelle der demokratischen Kräfte in Belarus berücksichtigt hat, die gefordert hatten, die Mittel über Kanäle jenseits der belarusischen Behörden zu übertragen. Mit Blick auf die Zukunft sollte die Umsetzung von Hilfsprogrammen wie etwa jenen, die gefährdeten belarusischen Wissenschaftler_innen und Studierenden Mobilität gewähren, mit belarusischen Initiativen vor Ort koordiniert werden. Darüber hinaus sollte – falls möglich – nicht nur eine Organisation als Kanal für Hilfsgelder dienen, damit die Vielfalt der belarusischen Initiativen gewahrt bleibt und nicht eine Verteilung von oben nach unten gefördert wird, bei der eine Gruppierung sämtliche Ressourcen konzentrieren könnte.

Es gibt keine eindeutige Lösung für die Krise in Belarus. Allerdings sind Komponenten vorhanden, die zu einem demokratischen Wandel beitragen: Die Gesellschaft in Belarus ist in einem Maße mobilisiert, dass klar ist: das Regime genießt zweifellos keine Legitimität. Die demokratischen Kräfte in Belarus sprechen mit einer Stimme und erhalten auf internationaler Bühne Aufmerksamkeit. Die EU wiederum verfügt über das Potenzial, Belarus ins Rampenlicht zu stellen und die Forderungen nach einem Dialog und Vermittlung zu verstärken und weiterzutragen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

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