Belarus-Analysen

Ausgabe 56 (27.07.2021), S. 7–9

Wie wird die belarusische Transformation aussehen?

Von Ryhor Astapenia

Zusammenfassung
Dieser Artikel wurde am 30.06.2021 auf https://newbelarus.vision/ auf Belarusisch veröffentlicht.

Die Belarusen stehen vor einer Mauer – wie können sie sie überwinden?

Die Revolution hat bislang nicht stattgefunden. Zentraler Faktor für einen Machtwechsel ist gesellschaftlicher Druck, und das einzige Mittel, über das die Gesellschaft verfügt, ist die Straße. Momentan gibt es diesen Faktor praktisch nicht mehr und es ist unklar, ob er zurückkehrt, da er eine bestimmte Fügung von Umständen braucht, die es im vergangenen Jahr gab.

Auslöser der Proteste im letzten Jahr war der Wahlkampf. Die Regierung hat das verstanden und lokale Wahlen für die Zukunft komplett abgesagt. Ob das Referendum über die neue Verfassung zu einem Auslöser werden kann, ist bislang ungewiss. Man sagt zwar, dass Lukaschenka die Legitimität des Referendums wichtig sei, doch interessiert ihn das gerade weniger, er hat andere Sorgen. Bezüglich innerer und äußerer Legitimität wird er sich kaum bemühen, denn er hat alles auf die Karte der rohen Gewalt gesetzt.

Im Umfeld der Opposition werden Möglichkeiten des Drucks nicht diskutiert. Wozu soll man die Menschen aufrufen? Für die neue Verfassung zu stimmen? Lukaschenka schneidet sie auf sich zu, sie wird noch weniger demokratisch als die bestehende sein und ein neues, nicht durch Wahl legitimiertes Organ enthalten – die Allbelarusische Nationalversammlung. Dieses Organ soll zumal weitreichende Machtbefugnisse erhalten. Die geltende Verfassung sah vor, dass die zentralen Machtorgane durch Wahl bestimmt werden. Auch wenn das im Moment nur bedingt so umgesetzt wird, steht es doch wenigstens geschrieben.

Ruft man dazu auf, gegen die neue Verfassung zu stimmen, könnte die Amtszeit des Präsidenten bis 2025 dauern. Stimmt man für die neue, besteht immerhin die Hoffnung auf Neuwahlen.

Eine weitere Option wäre, zum Boykott aufzurufen. Ein solcher Aufruf ist aber durch die belarusische Gesetzgebung verboten. Zudem kann eine Kampagne für einen Boykott demobilisierende Effekte haben und einem Aufschwung der Proteste entgegenstehen. Wirtschaftliche Probleme, der Druck der westlichen Sanktionen, der Druck Russlands – all das ist weniger bedeutsam als die Straße. Ohne Druck von der Straße bleibt als einzige Hoffnung ein von der Regierung vorgeschlagener Machtwechsel.

Das Pendel ist so weit in Richtung Diktatur ausgeschlagen, dass die Bewegung in die Gegenrichtung unausweichlich ist

Als im vergangenen Jahr die großen Straßenproteste stattfanden, sollte die Verfassungsreform nach Lukaschenkas Auffassung das Mittel sein, einen Machtwechsel zu imitieren. Doch als der Protest als politischer Faktor an Kraft verlor, änderte sich ab dem Winter auch die Bedeutung dieser Reform. Nun soll sie das Führungsregime auch ohne Lukaschenka absichern.

Dabei gibt es mehrere Varianten:

Vorgezogene Wahlen nach dem Referendum

Lukaschenka tritt nicht mehr an, steht aber der Allbelarusischen Nationalversammlung vor, auf die ein großer Teil der Befugnisse des Präsidenten übergeht. Viele prognostizieren für diesen Fall allerdings eine Parallelstruktur, die zum Bruch der Eliten führen wird und damit zu einer Erosion des Regimes bis zum Zusammenbruch.

Es gibt zahlreiche Beispiele in der Geschichte für autoritäre Führer, die auch ohne formale Führungsposition weiterhin die volle Macht über ein Land ausüben: Den Xiaoping im China der 1970er–1990er, Slobodan Miloševič im Jugoslawien der 1990er, Wladimir Putin während der Präsidentschaft Medwedews, oder auch Nasarbajew in Kasachstan.

Lukaschenka tritt nach Präsidentschaftswahlen vollständig ab und übergibt die Regierung einem Nachfolger

Dies wäre die optimalste Variante für Belarus, da sich jeder Nachfolger durch die Logik des politischen Prozesses gezwungen sähe, einen Prozess der Entlukaschenisierung einzuleiten. Nur so können die Macht, die Legitimität gegenüber der Bevölkerung und der Nomenklatur, erhalten und eine Demokratisierung mit wirtschaftlichen Reformen begonnen werden. Das Pendel ist so weit in Richtung Diktatur ausgeschlagen, dass die Bewegung in die Gegenrichtung unausweichlich ist.

Hier ist der Prozess der Entstalinisierung nach dem Tod Stalins erwähnenswert, in dem jeder Nachfolger – Beria, Malenkow und später Chruschtschew – eigene Varianten des Abrückens von vorangegangenen totalitären Praktiken präsentierte.

Lukaschenka hat sich jedoch zu den folgenden drei Fragen noch nicht festgelegt:

Inhalt der Verfassung und Konfiguration der einzelnen Machtorgane;Seine eigene Position im zukünftigen Machtgefüge;In welchem Maß die Haltung Russlands zu berücksichtigen ist. Noch immer taktiert er, laviert und kalkuliert mit verschiedenen Varianten.

Maximales Hinauszögern

Lukaschenka selbst lässt keinerlei Zukunftsvision erkennen, er weiß nicht, wie die Dinge anders funktionieren könnten. Selbst die Organisation einer Pro-Regierungspartei bremst er aus. Ihm passt es besser, alles so zu lassen, wie es ist, ohne reale Reformen. Daher ist das das Basisszenario.

Das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gruppierungen, das bis 2020 bestand, wurde im August zerstört. Deshalb müssen wir über Termini und unser Verständnis von führenden Klassen sprechen. Mit Sicherheit träumt die Mehrheit von ihnen davon, dass Lukaschenka verschwindet und ein neuer Führer an die Macht kommt, der das System neu in Gang bringt.

Momentan ist jedoch das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gruppen gestört. Es gibt Probleme im wirtschaftlichen Bereich, einen Anstieg des Einflusses der Sicherheitskräfte, um aber an eine eigenständige Transformation denken zu können, muss sich wieder ein Gleichgewicht einstellen, ein gegenseitiges Einvernehmen zwischen den Gruppen.

Beamte ohne wirkliche Macht

Das belarusische autoritäre Regime ist ein System der absolut personifizierten Macht, in deren Rahmen die Nomenklatur kein politisches Subjekt darstellt. Eigeninteressen dieser Klasse sind schwer einschätzbar. Sie ist eher atomisiert und auf clanähnliche, dienststellenbezogene Interessen zersplittert. Es gibt keine übergeordnete Struktur, die die Interessen dieser Gruppierung bündeln könnte.

Dennoch zeichnet sich eine Entwicklung ab, vor allem eine Zunahme an politischer Bedeutung der Sicherheitskräfte. Erstes Anzeichen dafür war die Ausstattung des Sicherheitsrats mit zusätzlichen Befugnissen. In den letzten Monaten war eigentlich nur davon zu hören.

Lukaschismus bewahren, Lukaschenko nicht

Noch einige Jahre lang werden wir uns innerhalb einer diskontinuierlichen »Transformation« bewegen, die von oben gesteuert wird. Adepten wie Pjatrouski oder Dawydska versuchen jedoch, eine Differenzierung einzuführen: es gibt einerseits Lukaschenka, andererseits Lukaschismus. Ihr überwerft euch mit Lukaschenka, und wir sichern derweil den Lukaschismus.

Lukaschenka ist stets geneigt, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Mit Veränderungen tut er sich schwer, und seien sie nur formaler Natur. Seine ganze Politik besteht aus Taktiken für ein Jahr, für ein halbes Jahr, nicht mehr.

Die wichtigste Frage ist, wie die Regierungsgegner sich in dieser Transformation verorten.

Protest in den Köpfen oder ewige Prokrastination

Selbst wenn auf den Straßen kein Protest stattfindet, existiert er doch in den Köpfen der Sicherheitskräfte und Beamten, gleich einem Damoklesschwert. Aus der Phobie heraus, dass auch nur kleine Anzeichen von Schwäche die Situation nur verschlimmern werden, kann Lukaschenka kaum Entscheidungen treffen.

Daher ist das Szenario der Prokrastination am wahrscheinlichsten. Das ewige Finden von Gründen, warum nichts getan werden muss. Man kann ein Referendum abhalten, verschiebt dafür aber die lokalen Wahlen immer weiter nach hinten.

Wenn die Transformation hinausgezögert wird, erhöht sich mit jedem Monat die Wahrscheinlichkeit eines spontanen und chaotischen Ausbruchs, einer unkontrollierbaren Situation.

Die Unmöglichkeit des Wahlerfolgs als Motor für Reformen

Der Protest als Einflussfaktor auf politische Reformen funktioniert mittelbar. Die Menschenmassen auf den Straßen ließen Moskau Lukaschenka zu Reformen auffordern. Doch der Protest verschwand und die Reformen kamen ins Stocken.

Lukaschenka resümiert: alle müssen niedergeschlagen werden, es darf keine Schwäche geben. Deshalb ist es unmöglich, auch nur im Anschein einen Dialog mit der Bevölkerung zu führen. Selbst das Projekt von Jury Waskrasenski (Redaktion: ehem. Mitglied des Wahlstabs von Wiktar Babaryka) führte zu keinem Ergebnis.

Mit der Benennung eines Nachfolgers ist es nicht getan…

Die Benennung eines Nachfolgers steht aktuell nicht im Vordergrund, viel wichtiger ist: wird dieser die Macht halten können, wenn sich die Bevölkerung einmischt und wie im Vorjahr demonstriert. Wenn Lukaschenka abtritt, wird es Frustration innerhalb der Sicherheitskräfte und anderer Organe geben. Wenn die Menschen wieder auf die Straße gehen, wie sollen dann die OMON-Truppen reagieren? Ihr Schicksal wird nicht mehr so klar sein wie zuvor.

Überleben

Die belarusische demokratische Bewegung sammelt Menschen und Ideen und wartet auf ein günstiges Zeitfenster. So handeln alle demokratischen Initiativen in autoritären Systemen.

Als man Emmanuel Joseph Sieyès, einen der politischen Vordenker der Französischen Revolution, fragte, was er während der Zeit der Terrorherrschaft getan habe, antwortet er schlicht: »Ich habe überlebt.«

Damit beschäftigen sich entsprechend alle gerade.

Man muss auf den Tag »X« oder die Stunde »Y« vorbereitet sein und Transformationspläne für die Zukunft erarbeiten.

Belarus ist bereits ein »Schurkenstaat«, der aus internationalen Organisationen ausgeschlossen wird und mit fortdauernden Sanktionen belegt ist. In den 1990ern gab es Proteste gegen Miloševič, die jedoch erst Erfolg hatten, nachdem er sich in einen Krieg mit der ganzen Welt verstrickt hatte. Nun verstärkt sich der Eindruck, dass die Beamtenschaft versteht: Auch Lukaschenka wird verlieren, wenn er mit der ganzen Welt kämpft. Und auch bei Aljaksandr Ryhorawitsch kommt das langsam an.

Übersetzung aus dem Belarusischen: Tina Wünschmann

Dieser Artikel wurde am 30.06.2021 auf https://newbelarus.vision/ auf Belarusisch veröffentlicht.

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