Die Live-Ticker zur Entwicklung des Kriegsgeschehens in und um die Ukraine meldeten bereits mehrfach, dass auch belarusische Truppen aktiv an der Seite Russlands ins Kriegsgeschehen eingegriffen hätten, nur um diese Nachricht zeitnah doch zu widerrufen. Das Minsker Regime betont mit großem Nachdruck, dass belarusische Streitkräfte nicht aktiv in die Kämpfe involviert seien – allein in seiner Rede zum Inkrafttreten der neuen Verfassung am 4. März unterstrich Lukaschenka dies viermal. Auch amerikanische Dienste und der ukrainische Präsident Selenskyj teilen diese Einschätzung. Auf den ersten Blick wirken Experteneinschätzungen zur Rolle des Minsker Regimes in Putins Angriffskrieg konträr – die einen betonen, dass Belarus de facto aktive Kriegspartei sei, während die anderen zum Schluss kommen, dass Lukaschenka die Souveränität des Landes und somit auch seine Entscheidungsgewalt praktisch an Russland verloren habe. Was davon stimmt?
Für die erste These spricht, dass die russischen Truppen nicht nur belarusisches Territorium nutzen, was ihnen beim Marsch auf Kyjiw einen entscheidenden strategischen Vorteil verschafft. Sie haben auch umfassenden Zugriff auf militärische und zivile Infrastruktur wie Bahnlinien, Flugplätze, Tankstellen, Krankenhäuser und Leichenhallen und erhalten Verpflegung, Treibstoff, Blutkonserven und Unterkunft. Auch propagandistisch ist Minsk voll auf Moskauer Linie. Statt vom »Krieg« ist von der »präventiven chirurgischen Spezialoperation« die Rede, die einem ukrainischen Angriff auf den Donbas und Belarus nur knapp zuvorgekommen sei. Schon im November 2021 hatte Lukaschenka erklärt, bei einem Krieg gegen die Ukraine an der Seite Moskaus zu stehen und »Entwicklungen im Donbas« als möglichen Grund genannt.
Doch schon im Laufe des Jahres war Russlands Militärpräsenz in Belarus deutlich gewachsen. Es wurden zwei gemeinsame militärische »Trainingszentren« errichtet, weitere sind geplant. Minsk will umfangreiche russische Waffensysteme beschaffen und dem Großmanöver »Verbundene Entschlossenheit«, das im Februar 2022 den russischen Überfall logistisch vorbereitete, war ein monatelanges dichtes Programm aufeinanderfolgender Militärübungen sowie die gemeinsame Niederschlagung des Aufstands in Kasachstan im Januar vorausgegangen. Lukaschenka legten hohen Wert darauf, dass er selbst Putin gebeten habe, seine Truppen angesichts der ukrainischen Bedrohung noch »eine Weile in Belarus« zu belassen. Doch mit einem echten Krieg schien er bis zuletzt nicht gerechnet zu haben und zog die amerikanischen Warnungen vor dem drohenden Angriff ins Lächerliche.
Als der Krieg dann begann, gab Lukaschenka an, erst post factum darüber informiert worden zu sein und vom Start der Raketen aus Belarus über die Medien erfahren zu haben. Das spricht für die zweite These. Die sozialen Medien kolportierten Gerüchte, dass Lukaschenka sogar von einer russischen Spezialeinheit mit dem Tode bedroht werde, um ihn gefügig zu halten. Die demokratischen Kräfte im Exil fordern nun von der Weltgemeinschaft, Belarus als »vorübergehend besetztes Territorium« anzuerkennen, in dem das Regime nur noch als Marionette Moskaus fungiert. Die meisten Analysten sind sich einig, dass Lukaschenka Putin wenig entgegenzusetzen hätte, falls dieser sich entschlösse, ihn zum Einsatz der belarusischen Armee zu zwingen. Dass Russland tausende arabische Kämpfer rekrutieren will und China um Militärhilfe gebeten haben soll, zeigt, dass es Unterstützung braucht. Da läge ein Rückgriff auf belarusische Truppen nahe. Für Lukaschenka ist die zentrale Frage aber, sein eigenes (politisches) Überleben zu sichern. Entsprechend changiert er in seinen Äußerungen.
Während der ersten Kriegstage, als ein schneller russischer Sieg noch wahrscheinlich schien, überlegte er offen, dass auch belarusische Truppen zum Einsatz kommen könnten, wenn es »nötig werden sollte«. Gemeinsam an der Seite des Siegers zu stehen hätte Vorteile bedeuten können, wie etwa den Zugang zu ukrainischen Exportrouten. Doch der stockende Kriegsverlauf, die hohen russischen Verluste und die harte Reaktion des Westens verkomplizieren die Lage für das belarusische Regime zusätzlich: Während Russland nach den westlichen Sanktionen, wie Litauens Exportstop für Kalidünger im Februar, zur essenziellen wirtschaftlichen (Über-)Lebensader für Lukaschenka geworden war, ist es nun mehr denn je selbst eine Bedrohung und Quelle von Problemen. Nicht nur spricht Putins Weltsicht, dass die Nachbarstaaten »künstliche Gebilde« seien, auch Belarus das Existenzrecht ab. Auch die neuen westlichen Sanktionen treffen Belarus gleich doppelt – einerseits direkt, andererseits, weil eine im Sinkflug befindliche russische Wirtschaft Belarus weniger stützen kann.
In Belarus wäre eine unmittelbare Kriegsbeteiligung extrem unpopulär – sowohl unter demokratisch gesinnten Bürgern als auch (bisherigen) Lukaschenka-Anhängern. Sein politisches Kernversprechen war über Jahrzehnte Frieden und Stabilität und offiziell hat das Verbot einer Aggression gegen Nachbarstaaten seit 15. März sogar Verfassungsrang. Die Soldaten der belarusischen Armee haben kaum Kampferfahrung, aber vielfach Verwandtschaft in der Ukraine. Mit einer hohen Kampfmoral wäre daher nicht zu rechnen und große Opferzahlen bei einem Einsatz im Nachbarland könnten, gepaart mit wirtschaftlichen Einbrüchen, zu einer neuen Protestwelle führen.
Auf dem dünnen Drahtseil zwischen Moskauer Gefolgschaftsanspruch, westlichem Sanktionsdruck und der rebellischen, gewaltsam unterdrückten eigenen Bevölkerungsmehrheit probt Lukaschenka den Spagat. Zunächst versuchte er sich, in Anlehnung an 2014, wieder als neutraler Mittler anzubieten – die ersten drei Verhandlungsrunden zwischen Kyjiw und Moskau fanden auf belarusischem Territorium statt. Doch obwohl Putin Verhandlungen braucht, sei es um doch noch einen gesichtswahrenden Ausweg aus diesem Krieg zu finden, der militärisch nur durch eine massive Eskalation und politisch überhaupt nicht zu gewinnen wäre, oder um schlichtweg Zeit zu schinden für eine Umgruppierung der Truppen, sind diese nicht an Belarus gebunden. Einige Gespräche fanden schon per Videokonferenz statt, andere in der Türkei.
So macht sich Lukaschenka gegenüber Moskau nun das lange gemeinsam gepflegte Feindbild einer »drohenden NATO-Invasion« zunutze. Um zu »verhindern«, dass westliche Truppen den Russen über Belarus »in den Rücken fallen« – was sich Lukaschenka nach eigenen Worten »doch nie verzeihen könnte« – müsse die belarusische Armee nun unbedingt mit ihren begrenzten Ressourcen die Nordwestgrenze des Landes bewachen. Doch auch entlang der ukrainischen Grenze stehen »Verteidigungskräfte« bereit – falls Kyjiw auf die Idee kommen sollte, tatsächlich einmal in Richtung Belarus zurückzuschießen.
Völkerrechtlich gesehen ist Belarus wegen der Zurverfügungstellung seines Territoriums Mitaggressor in Putins Krieg – wenngleich unter einem Regime, das seine innenpolitische Legitimität seit anderthalb Jahren verloren hat und gegen den erklärten Willen der eigenen Bevölkerungsmehrheit agiert. Doch da Lukaschenka mit dem Rücken zur Wand am Kreml hängt und durch die beispiellosen Repressionen die Gesellschaft ihrer Widerstandskräfte beraubt hat, kann er Moskau kaum etwas entgegensetzen. Wie es auch kommt – für Belarus selbst ist zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls davon auszugehen, dass das russische Militär auf absehbare Zeit in bedeutender Stärke »zu Gast« bleiben wird.
Stand: 19.03.2022