Wir können auf eine langjährige Evolution der Belarus*innen im Ausland zurückblicken. Die belarusische Diaspora wurde im Zuge mehrere großer Emigrationswellen aus Belarus gestärkt. Sie ist in den meisten Ländern der Welt in recht großer Anzahl vertreten, doch war es bis vor kurzem noch so, dass die Diaspora wenig Anlass bot, sie als eigenständiges Gemeinwesen oder relevantes Subjekt wahrzunehmen. Hierfür gibt es eine ganze Reihe Gründe: die Erfahrung der »gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit«, der aktuelle spezifische Zustand des belarusischen Staates, die Besonderheiten der offiziellen Beziehungen zwischen der Republik Belarus und den Belarus*innen im Ausland, die Nuancen in den Beziehungen zwischen Vertretern der verschiedenen Emigrationswellen sowie die Eigenheiten der nationalen Mentalität (die nicht zu einer aggressiven Selbstbestätigung neigt). Die komplexen Ereignisse des Jahres 2020 haben jedoch dazu geführt, dass die Auslandsbelarus*innen einen qualitätiv neuen Zustand erreichten, organisatorisch, in ihrem Handeln und emotional.
Zu diesen Ergebnissen sind wir auf der Grundlage einer qualitativen Studie gekommen, die im Mai 2021 durchgeführt wurde. Im Rahmen der Untersuchung wurden 16 Tiefeninterviews mit Belarus*innen durchgeführt, die das Land vor 2020 verlassen hatten (sie lebten nun in Deutschland, Israel, Kanada, Zypern, Lettland, Neuseeland, Polen, Russland, den USA, der Türkei, Tschechien und Schweden; die Dauer der Emigration betrug zwischen einem und über 20 Jahren; bei den Zitaten werden die Respondenten per Aufenthaltsland und Dauer der Emigration repräsentiert). Die Studie sollte vor allem die Entwicklung der belarusischen Diaspora im Zuge der Ereignisse von 2020 herausarbeiten.
Die Analyse der Antworten ergab, dass der wichtigste Transformationsfaktor für die belarusische Diaspora in der Abfolge des Geschehens in Belarus bestand. Aufgrund dieser Ereignisse lassen sich die Entwicklungsphasen der Auslandsbelarus*innen abgrenzen.
Entwicklungsphasen der belarusischen Diaspora
I. Ausgangspunkt ist die »Phase null«, die Mitte der 2010er Jahre begann und bis Anfang 2020 anhielt. In dieser recht langen Phase erfolgte eine ganz allmähliche und latente Zunahme der horizontalen Verbindungen, ein Bewusstwerden der eigenen Kräfte und der Möglichkeiten für eine nicht an den Staat gebundene Gesellschaft.
»Ich denke, dass der Zünder für die letzte Welle [der Entwicklung der Diaspora; d. Autor] die Ereignisse 2014 in der Ukraine waren […] Danach kam eine ganze Reihe phänomenaler historischer Ereignisse und Faktoren hinzu. Zuerst 2017 diese Ungerechtigkeit, der Erlass gegen die Schmarotzer 1 und die Massenaktionen [dagegen]. 2018 der hundertste Jahrestag der BNR 2 und […] die Demonstration von 50.000 bei der Oper. Ein Jahr später geschieht etwas Ungeheuerliches, es werden die Leichen der Aufständischen gefunden; 2019 wird Kalinauski 3 in Wilno begraben, phantastisch […] Sechs Jahre beschleunigter Evolution des Selbstbewusstseins« (Tschechien, 26 Jahre).
Hier sei angemerkt, dass die beschriebenen Trends sowohl für die Auslandsbelarus*innen als auch für die Menschen in Belarus zutreffen.
II. Mit Beginn der Corona-Pandemie und deren Gefahren wurde die belarusische Diaspora aktiver und trat aus ihrem latenten Zustand heraus – es begann die »Corona-Phase« in der Entwicklung der Diaspora. Das war eine Zeit der primären Solidarisierung, einer Anreicherung der Beziehungen innerhalb der Diaspora, wie auch nach Belarus. Dieser Aufschwung der Solidarisierung war eine der nationalen Antworten auf die »Covid-Dissidenz« der Regierung, also deren Leugnung und Ignorierung der Pandemie. Im Kern erfolgte eine Intensivierung der horizontalen Verbindungen zwischen Angehörigen der belarusischen Diasrpora mit dem Land selbst. Es wurde einer Reihe verschiedener Wege der Kommunikation, der Organisation und der Hilfe für Belarus aufgebaut. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Phase was das Bewusstsein, welche Potenziale eine flächendeckendere, horizontal strukturierte belarusische Zivilgesellschaft angesichts des schwindenden Vertrauens in das belarusische Regime in sich birgt.
»[…] tatsächlich war diese Geschichte mit Covid-19 verblüffend, dieses »Trecker, Sauna, Wodka«. 4 Das waren die ersten Glöckchen von dem, was dann im August geschah. Die läuteten bereits im März, als sehr viele Menschen sammelten und spendeten, um das medizinische Personal mit persönlicher Schutzkleidung zu versorgen. Damals konnte man schon ahnen, dass die Leute im Grunde verstehen, dass von ihnen recht viel abhängt, dass auch das schon etwas bedeutet« (Russland, 13 Jahre).
III. Die »Wahlphase« begann mit der Ansetzung der Präsidentschaftswahlen und der Nominierung alternativer Kandidat*innen, die tatsächlich relevant waren. Das wohl wichtigste Merkmal dieser Phase waren ein starker Anstieg der Emotionen, Hoffnungen auf Veränderungen in Belarus und der Glaube, dass ein Sieg über das Regime möglich sei. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass in dieser Phase die Voraussetzungen für ein neues, emotionsgeladenes und bedeutsames Gefühl eines »kollektiven WIR« entstanden, wodurch die Bindungen von Angehörigen der belarusischen Diaspora zum Land selbst gestärkt wurden.
»Das wurde ab Mai spürbar. Der aktive Wahlkampf. Babarika 5, die Verhaftung von Jewa 6, die Sache mit der Belgazprombank… Die Reaktionen auf das, was sich nun in Belarus abzuspielen begann. Denn sowas hatte es noch nie gegeben. Die Menschen reagierten nun. Ein solches Gefühl hatte es weder 2010 noch 2015 gegeben… Es tauchten plötzlich ganz andere Leute auf, andere Kandidaten, und das war es, worauf die Leute reagierten, in Belarus und außerhalb des Landes… Und mit dieser Art Leuten konnten sich die Menschen identifizieren, das waren Städter, die sich in ihrem Beruf bewährt hatten. Die singen keine traurigen Lieder über die heimischen Gefilde. Sie bringen etwas mit, was bei der Generation der hochqualifizierten Berufstätigen, der modernen Belarus*innen, die am globalisierten Leben teilhaben, auf Resonanz stößt« (USA, 15 Jahre).
»Wir zum Beispiel hatten gar nicht geplant, hinzufahren und an den Wahlen teilzunehmen, weil wir dachten, dass es wohl so wie 2015 werden würde, und es nicht viel Sinn hat. Als es aber zu brodeln begann, machten sich sehr viele Leute auf den Weg und fuhren nach Ottawa, um ihre Stimme abzugeben, wohl aus Hoffnung, oder einfach, weil sie so ein Gefühl des Zusammenhalts hatten« (Kanada, 10 Jahre).
IV. Der wichtigste Abschnitt war die »August-Phase«, die mit den Ereignissen vom 9. bis 12. August begann und dann einige Monate andauerte. Diese Augusttage waren extrem intensiv und angereichert, wie einer der Respondenten hervorhob:
»Erst die Wahlen – so, wie sie abgelaufen waren. Und dann der zweite Teil, was nach nach der Verkündung der Ergebnisse geschah. Und als drittes, wie die Gesellschaft der Belarus*innen darauf reagierte, und wie sich die belarusische Führung dazu verhielt« (Deutschland, 20 Jahre).
Hier war weniger die Konfrontation zwischen dem Regime und den Protestierenden bestimmend, sondern vielmehr der grundlegende Antagonismus der Formen ihrer (Selbst)Repräsentation, die als höchst offenherzige Manifestation zweier Pole auf der moralischen und ethischen Skala wahrgenommen wurden – als Verkörperung des Bösen und des reinen Guten.
Wichtig ist hier, dass diese Wendung der Ereignisse nur aufgrund der Digitalisierung, der horizontalen Kommunikation, der sozialen Netzwerke und Telegram-Kanäle möglich wurde. Sie sorgten dafür, dass »der Fall Belarus« auf die weltweite Nachrichtenagenda gelangte. Und sie vermittelten ein intensives Gefühl, an dem Geschehen in Belarus beteiligt zu sein.
»Das Geschehen, dass sich im August und im Herbst entwickelte… Schwer zu sagen, was das für ein konkretes Ereignis war. Ich erinnere mich nur, dass ich drei Tage lang meine Verwandten, meine Eltern, nicht erreichen konnte; ich verstand überhaupt nicht, was da vor sich geht. Es gab nur, sagen wir mal so, schreckliche Videos, schreckliche Nachrichten, die nicht bestätigt wurden, weil nichts funktionierte. [Ich hatte Angst] um meine Verwandten und wegen dem, was dort allgemein vor sich ging. Weil es keine Informationen gab; und dann stellte sich heraus, dass alles tatsächlich so gewesen ist« (Lettland, 1,5 Jahre).
»[…] als die Menschen in aller Welt, und auch die Belarus*innen in aller Welt, [das] sahen. Wie die Belarus*innen auf die Straßen gingen, trotz des Risikos, dass sie geschlagen und verhaftet werden, und dass man sie foltern würde […] Als sie das gesehen hatten, haben die Leute einfach Mut gefasst. Und es gab den Leuten auch ein Gefühl des Stolzes, dass sie aus Belarus sind, dass sie zu diesem Volk gehören, das jetzt vor den Augen der ganzen Welt so mutig handelt. Und es machte den Leuten natürlich Mut, das offen zu sagen, wenigstens auf Facebook zu sagen: wir sind auch Belarus*innen, wir sind auch aus diesem Land« (Türkei, 36 Jahre).
Nachdem die Diaspora alle obengenannten Phasen durchlaufen hatte, war sie tatsächlich zu einem neuen Format ihrer Existenz übergegangen.
Merkmale der neuen Diaspora
1. Die Belarusischen Diaspora hat sich bewusst aus der allgemeinen russischsprachigen Gemeinschaft postsowjetischer Emigrant*innen herausgelöst. Die Belarus*innen wurden sich nicht ihrer Besonderheiten in Bezug auf andere ethnische Gruppen und Nationen bewusst, sondern nahmen ihre Identität als Grundlage, um sich zusammenzuschließen und sich durch ihr Verhalten zu solidarisieren. Ein wichtiges Ergebnis sind hier nicht nur das Entstehen von virtuellen Versammlungen in sozialen Netzwerken (»kompjutingi« – aus »Computer« und »Miting«/»Meeting« [=Demo]), sondern auch der Übergang ins nächste Stadium, hin zu einer Umsetzung des angereicherten Institutionalisierungspotenzials, also zur organisatorischen Verwirklichung.
2. Es hat sich ein positives Image der Belarus*innen als Nation herausgebildet. An die Stelle von »pamjarkounaszi« (dt. in etwa: »die, die alles dulden«), von »tscharki/schkwarki« (dt. in etwa: »ein Glas Wodka und weiter vor sich hin wurschteln«), und zwar im Geiste von »a mosha tak treba« (dt. »es soll wohl so sein«) trat ein idealisiertes Bild reiner, hehrer Kämpfer*innen gegen die Tyrannei. Vor dem Hintergrund anderer Proteste in Europa und Amerika (wie etwa Gelbwesten-Proteste in Frankreich oder Massenunruhen in den USA nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd) und angesichts des äußerst brutalen Vorgehens des Regimes in Belarus war das Verhalten der belarusischen Protestierenden phänomenal: Ordnung vs. Willkür; das Erhabene gegen das Brutale; Frieden vs. Gewalt… Ein zusätzlicher Faktor, der die »Message« der Belarus*innen erheblich verstärkte, war zweifellos, dass das Regime extrem unverblümte Gewalt einsetzte. Hinzu kam die Emotionale Belastung, die in der Kommunikation mit den und über die Menschen in Belarus zum Ausdruck kam (nicht umsonst erklärte das Oxford English Dictionary dann »Belarusian« zu einem der Wörter des Jahres 2020).
Die hervorragende Visualierung des Geschehens, die für jeden, der es wollte, in der Welt der augenblicklichen horizontalen Verbindungen verfügbar war, sorgte umgehend für »steigende Umfragewerte« in Bezug auf die Belarus*innen als Nation und beförderte eine gewisse Mode alles Belarusischen.
3. Aufgrund des Gefühls, am Geschehen in Belarus beteiligt zu sein, erfolgte eine explosionsartige Zunahme der Mobilisierungsfähigkeit und -bereitschaft in der Gemeinschaft der belarusischen Emigrant*innen (weniger aufgrund der Anzahl der Neuankömmlinge, obwohl dies auch ein wichtiger Aspekt ist, als vielmehr durch eine Aktivierung von Migrant*innen der unterschiedlichen früheren Auswanderungswellen). Ebenso war eine Politisierung der Diaspora zu beobachten. Diese Politisierung war kein vorübergehendes Phänomen, sondern bildete den Anstoß zu einer langanhaltenden, systematischen Betätigung, die sowohl auf eine Konsolidierung innerhalb der Diaspora ausgerichtet war, wie auch auf eine Solidarisierung der Auslandsbelarus*innen mit jenen, die sich weiterhin in Belarus aufhalten oder aber sich genötigt sehen, eilig das Land zu verlassen.
4. Ein neues System der (Selbst)Organisation der Diaspora entstand und entwickelte sich weiter, und zwar ein horizontales, das sich vor allem auf die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke, der Telegram-Kanäle und anderer digitaler Plattformen stützte. Das ist ein Aspekt von prinzipieller Bedeutung. Eine der Besonderheiten der belarusischen Mentalität besteht in einem Absentismus in Form einer Distanzierung von allem Offiziellen oder Offiziösen, von zentralisierten Tätigkeitsformen und vertikalen Organisationssystemen. Die allgemeine Digitalisierung, die sozialen Netzwerke, die Telegram-Kanäle und andere Formen konkreter horizontaler Verbindungen bieten den Belarus*innen ein viel bequemeres System, um ein gemeinsames Vorgehen zu organisieren. Es liegt der belarusischen Mentalität und Psychologie unglaublich nahe, ist dezentral, weitestgehend nicht offiziös und baut nicht auf einer Unterordnung unter eine Machtstruktur auf, sondern auf Selbstorganisation. Und die Belarus*innen haben das genutzt, in Belarus selbst wie auch im Ausland.
5. Es ist ein allgemeiner »Sammelpunkt« entstanden, ein Anreiz zur Vereinigung der Diaspora. Die Auslandsbelarus*innen haben etwas an die Hand bekommen, womit sie sich mit Stolz identifizieren können, und wofür es sich lohnt zu handeln. Wenn nun die Belarus*innen selbst zu einem Punkt wurden, mit dem man sich stolz identifizieren kann, so bezieht sich der andere, gegenüberliegende Pol natürlich auf das Regime. Diese deutliche und offensichtliche Kollision hat ein einfaches und eindeutiges Koordinatensystem hervorgebracht, bei dem es nur ein Ziel geben kann, das der großen Sache der ganzen Nation dient, nämlich die Befreiung des Landes aus den Fängen des Regimes. Und dieses Ziel war den Belarus*innen im Ausland sehr vertraut, da für viele von ihnen der wichtigste Grund zur Emigration in einer subjektiven Ablehnung des bestehenden Regimes gelegen hatte.
6. Es hat sich eine proaktive Haltung der belarusischen Diaspora herausgebildet, die ihre Wirkung zeigt. Diese Haltung ist für alle vorherigen Einstellung gewissermaßen skalierend, sie fasst diese zusammen und ist deren logisches Resultat. Nach der »widersprüchlichen« Politik der Regierung und der Hilfe für das medizinische Personal während der ersten Corona-Welle, nach der Horizontalisierung des Medien- und Kommunikationsraumes und dem außerordentlichen emotionalen Aufschwung während der »Unterschriften-Revolution« 7 begegneten die Auslandsbelarus*innen den dramatischen Ereignissen vom 9. bis 12. August 2020 mit »geladener« Motivation und erheblicher Erfahrung in der Selbstorganisation. Das Proaktive wurde durch die späteren Ereignisse nur verstärkt, wie auch die wirksamen Modelle der Selbstorganisation und der gegenseitigen Hilfe dadurch neue Dimensionen erreichten.
Aktivitäten der Diaspora
Die wichtigsten konkreten Aktivitäten der Auslandbelarus*innen lassen sich – vor allem mit Blick auf deren erste Entwicklungsphasen – wie folgt differenzieren:
- Finanzielle Hilfe. Die Aktivitäten auf dieser Ebene der Unterstützung für Belarus wurden bereits während der ersten Corona-Welle unternommen und bedeuteten eine beträchtliche Hilfe für das medizinische Personal im Kampf gegen das Coronavirus. Allerdings erinnern Vertreter der Auslandsbelarus*innen nur erstaunlich selten daran.
- Kommunikation. Dies ist die am leichtesten zugängliche und dabei grundlegende Form der Aktivität; sie bildet die Basis und eine Voraussetzung für ein effektives Vorgehen auf den anderen Ebenen und Richtungen.
- Aktivität bei Wahlen. Hier geht es zweifellos um die Initiative und Dynamik, die die Diaspora bei ihrem Vorgehen in der Phase vor den Wahlen von 2020 gezeigt hat. In jener Zeit, das heben die Respondenten hervor, entspannen sich breit angelegte Aktivitäten, nicht nur, um die Wahlbeteiligung anzuregen, sondern auch, um den Verlauf des Wahlprozess zu beobachten und von den Ergebnissen im Medien- und Informationsraum zu berichten.
- Manifestatives Handeln. Dieser Aspekt ergab sich für viele Angehörige der belarusischen Diaspora unerwartet. Es kam gegenüber den Medien und der Gesellschaft zu einer langwährenden, systematischen, regelmäßigen und hartnäckigen Verkündung der eigenen Haltung: dass man mit den Wahlergebnissen nicht einverstanden ist, das Regime ablehnt, die Proteste unterstützt und sich mit Belarus vereint sieht.
- Hilfe für die Opfer des Regimes in Belarus. Die Hilfe und Unterstützung für jene, die unter dem Vorgehen des Regimes in Belarus gelitten haben, ist ein großes, komplexes Geflecht von Aktivitäten (Informationsarbeit, psychologische und finanzielle Unterstützung, Organisatorisches usw.). Sie reichte von den politischen Gefangenen und deren Familien bis zu jenen, die sich vor der Verfolgung durch Lukaschenka zu verstecken suchen.
Schlussfolgerungen
Aufgrund einer Analyse der Tiefeninterviews können wir feststellen, dass im Zuge der Ereignisse des Jahres 2020 eine schrittweise Neuformatierung der Gemeinschaft der Auslandsbelarus*innen erfolgt ist. Im Ergebnis vollzog sich eine Herauslösung der Belarus*innen aus der allgemeinen postsowjetischen Gemeinschaft russischsprachige Emigrant*innen. Es ist ein ein positives und attraktives Image der Belarus*innen als Nation entstanden, wobei die Zugehörigkeit hierzu Anlass zum Stolz sein kann. Aufgrund des Gefühls, an den Ereignissen beteiligt zu sein, kam es in der Gemeinschaft der belarusischen Emigrant*innen zu einem einen explosionsartigen Aufschwung der Mobilisierungsfähigkeit und -bereitschaft. Gleichzeitig erfolgte eine Politisierung der belarusischen Diaspora, bei der sich ein neues System der – horizontalen – (Selbst)Organisation entwickelte, das sich vor allem auf die Möglichkeiten sozialer Netzwerke, Telegram-Kanäle und anderer digitaler Plattformen stützt.
Ein wichtiges Ergebnis der Jahres 2020 ist darin zu sehen, dass sich ein allgemeiner »Sammelpunkt« herausbildete, ein Anreiz zur Vereinigung der Diaspora: Die Belarus*innen haben nun etwas, womit sie sich mit Stolz identifizieren können, und wofür es sich zu engagieren lohnt. Als logische Folge entwickelte sich eine proaktive Haltung der belarusischen Diaspora, die wirksam funktioniert (die grundlegenden Bereiche sind Kommunikation, die Wahlen, das Manifestative…). Diese Haltung entstand während der ersten Corona-Welle und kam nach den Ereignissen vom August 2020 vollends in Schwung.
Die weitere Entwicklung der belarusischen Diaspora in den Jahren 2021 und 2022 muss an dieser Stelle leider unberücksichtigt bleiben – sie ist ein gesondertes, umfangreiches Forschungsthema. Es steht jedoch außer Frage, dass die im Laufe des Jahres 2020 gewonnenen Ressourcen und Fähigkeiten ausreichen werden, um auch den Rückgang der Politisierung 2021 zu überdauern und in die Antikriegsbewegung nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 einzufließen.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder
Endnoten
1 Gemeint ist der Präsidialerlass Nr. 3 »Über die Verhütung des Missbrauchs sozialer Versorgung«, dem zufolge jeder, der ein halbes Jahr ohne Arbeit war, eine Geldstrafe von umgerechnet rund 200 Dollar zu zahlen hat.
2 Die am 25.03.1918 ausgerufene Belarusische Volksrepublik (BNR) war der erste belarusische Nationalstaat. Oppositionelle und demokratische Kräfte haben stets versucht, alles im Zusammenhang mit der BNR populär zu machen, während das Regime Lukaschenka die BNR aus dem nationalen historischen Narrativ zu streichen versuchte. Im Zuge der »milden Liberalisierung und Hinwendung zum Nationalen« nach den Ereignissen von 2014 in der Ukraine erlaubte die belarusische Regierung 2018 erstmals offiziell Feierlichkeiten zum Jubiläum der BNR. Eine Demonstration mit 50.000 Teilnehmenden vor der Minsker Oper wurde zur teilnehmerstärksten Veranstaltung der prodemokratischen Kräfte, die nicht von den Sicherheitskräften des Regimes auseinandergejagt wurde.
3 Kastus Kalinauski ist ein belarusischer Nationalheld und einer der Anführer eines gegen das Regime der russischen Zaren gerichteten Aufstands 1863 auf dem Gebiet der heutigen Belarus, Litauen und Polen. Seine sterblichen Überreste wurden 2017 (zusammen mit denen anderer Aufständischer) bei Ausgrabungen gefunden und 2019 als solche identifiziert. Daraufhin fand in Vilnius eine feierliche Umbettung statt.
4 Ein Meme, das auf den Vorschlag Lukaschenkas zurückgeht, das Corona-Virus mit diesen höchst untradionellen Heilungsmethoden zu bekämpfen.
5 Wiktar Babarika war ein populärer Politikeinsteiger und Anführer der nichtregistrierten Partei Rasam (dt.: »Zusammen«). Er galt als einer der aussichtsreichen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2020. Er wurde vor seiner offiziellen Registrierung als Kandidat vom Regime festgenommen und nach einem fabrizierten Prozess zu 14 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Menschrechtsorganisationen haben ihn zu einem politischen Gefangenen erklärt.
6 Jewa ist ein Werk von Chaim Suzin (frz.: Chaime Soutine), eines bekannten Malers belarusisch-jüdischer Herkunft. Im Juni 2000 wurde es beschlagnahmt und als Beweismittel Bestandteil der Unterlagen zum Strafverfahren gegen Wiktar Babarika. Nach ihrer »Verhaftung« wurde Jewa in einer Vielzahl von Bildern neu dargestellt (hinter Gittern, in Häftlingskleidung, zusammen mit OMON-Milizionären), die bei verschiedenen Attributen und Kleidungsstücken verwendet wurden. Sie entwickelte sich zu einem Symbol des Widerstands gegen das Regime in Belarus.
7 Als »Unterschriften-Revolution« wird das Geschehen nach Beginn der Registrierung unabhängiger Kandidat*innen bei den Präsidentschaftswahlen 2020 bezeichnet. Damit in Belarus jemand als Präsidentschaftskandidat*in registriert werden kann, muss seine oder ihre Initiativgruppe 100.000 Unterschriften von Personen sammeln, die bereit sind, den oder die Betreffende als Kandidat*in zu nominieren. Früher war es so, dass die Vertreter*innen der Initiativgruppen Personen suchen mussten, die zu einer solchen Unterschrift bereit wären. Das Besondere bei den Wahlen 2020 bestand nun darin, dass die Belarus*innen im Zuge der »Unterschriften-Revolution« von selbst zu den Initiativgruppen kamen, um sich in kilometerlange Schlangen einzureihen und ihre Unterschrift für einen Kandidaten / eine Kandidatin abzugeben, der/die eine Alternative zu Aljaksandr Lukaschenka bedeuten würde.