Die Belarus:innen wollen sich nicht am Krieg beteiligen
In einer Umfrage, die von Chatham House wenige Wochen vor Beginn des Krieges durchgeführt wurde, ist ein äußerst geringes Niveau von Kriegsbereitschaft festgestellt worden: Lediglich 11–13 Prozent der Belarus:innen zeigten eine »Falken«-Einstellung (Grafik 1 auf S. 5).
Eine Beteiligung an einem Krieg wird als Katastrophe für Belarus wahrgenommen. Nur ein Zehntel der Befragten hält es für richtig, wenn Vertragssoldaten in die Ukraine entsendet würden. Der potenzielle Tod von wehrpflichtigen Rekruten ist für die Belarus:innen ein äußerst schmerzliches Thema. Wenn man bedenkt, dass Chatham House bis zu 30 Prozent der Befragten ausmacht, die in der einen oder anderen Form Anhänger des derzeitigen Regimes sind (das Segment »Lukaschenkas Bastion«), dann drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass selbst unter den Unterstützern Lukaschenkas und seines Regimes eine Beteiligung an einem Krieg unpopulär ist. Die am stärksten verbreitete Haltung besteht darin, im Falle eines Krieges die Neutralität zu wahren (56 %). Die Belarus:innen wollten keine Beteiligung an einem Krieg.
Ein Teil der Gesellschaft gibt sich Illusionen hin
Am 24. Februar begannen die russischen Streitkräfte ihren Einmarsch in die Ukraine. Der Invasion erfolgt unter anderem von belarusischem Territorium aus. Belarus wird nicht nur als Aufmarschgebiet für russische Streitkräfte genutzt; Russland wird auch die gesamte zivile und militärische Infrastruktur in Belarus zur vollen Verfügung gestellt. Von belarusischem Territorium erfolgt Raketenbeschuss, von belarusischen Flughäfen starten Flugzeuge und Hubschrauber der russischen Luftwaffe, in den Krankenhäusern im Süden des Landes werden russische Soldaten behandelt, und Gerüchten zufolge sollen die Leichenhallen voll gefallener Soldaten sein. Gleichwohl ist laut den Umfragen von Chatham House fast die Hälfte der Belarus:innen der Ansicht, dass Belarus sich nicht am Krieg beteiligt, und nur jeder Fünfte stimmt der Ansicht zu, dass Belarus ein Aggressor-Staat ist.
Die Wahrnehmung der Rolle von Belarus in diesem Krieg hängt bei den Befragten stark davon ab, woher sie ihre Informationen erhalten. Die Meinungsforscher haben zwei Gruppen von Medien festgelegt: belarusische und staatliche russische Medien einerseits sowie belarusische nichtstaatliche und ukrainische Medien andererseits. Der Bezug von Informationen aus einer dieser beiden Medienkategorien hat einen starken Einfluss darauf, wie selbst grundlegende Phänomene wahrgenommen werden, etwa eine Beteiligung von Belarus am Krieg. Diejenigen, die Medien der ersten Kategorie nutzen, sind häufiger der Ansicht, dass Belarus nicht am Krieg beteiligt ist; diejenigen, die Medien der zweiten Kategorie konsumieren, sind häufiger der Ansicht, dass sich Belarus auf der Seite Russlands beteiligt (siehe Grafik 2 auf S. 5).
Allem Anschein nach findet das Narrativ des belarusischen Staates darüber, dass Belarus nicht aktiv am Krieg beteiligt ist, sein Publikum – zumindest bis zu dem Augenblick, da belarusische Truppen sich in den Krieg einschalten.
Selbst die hartnäckigsten Anhänger Lukaschenkas wollen nicht in den Krieg ziehen
Stehen die Belarus:innen vielleicht nach Beginn des Krieges mit mehr Zustimmung dem Krieg gegenüber? Die Antwort lautet eindeutig »Nein«. Alle Anfang März ermittelten relevanten Indikatoren weisen darauf hin, dass die Belarus:innen ihr Land nicht als Aufmarschgebiet für russische Streitkräfte sehen wollen. So fände es nur ein Viertel der Belarus:innen positiv, wenn es in Belarus dauerhaft einen russischen Militärstützpunkt gäbe. Zu der Aussicht auf eine Stationierung russischer Atomwaffen äußerten sich 80 Prozent der Belarus:innen negativ (Lukaschenka hatte vor dem Krieg von der Möglichkeit gesprochen, dass in Belarus russische Atomwaffen stationiert werden).
Selbst dem aktuellen Format der Hilfe für die russische Armee stimmt die überwiegende Mehrheit der Bürger:innen nicht zu: Die Studie von Chatham House stellt eine Unzufriedenheit damit fest, dass der russischen Armee belarusisches Territorium zur Verfügung gestellt und die Ukraine von dort beschossen wird.
Darüber hinaus wird in der Studie gefragt: »Was hätte Belarus nach dem Beginn der Kriegshandlungen zwischen Russland und der Ukraine tun sollen?«. Nur 3 Prozent der Belarus:innen meinen, dass Belarus sich auf der Seite Russlands an den Kriegshandlungen beteiligen sollte (siehe Grafik 4 auf S. 4).
Die oben beschriebene Wahrnehmung zur Beteiligung von Belarus am Krieg (wohl eher als passiver Akteur) erlaubt es nicht, die Antwort auf diese Frage als Unterstützung für eine offene Invasion der belarusischen Streitkräfte in die Ukraine zu interpretieren. Die Personen, die dies unterstützen, sind rar gesät. Es lässt sich mit gutem Recht behaupten, dass keine einzige soziale oder politische Gruppe im Land einen Einmarsch belarusischer Streitkräfte zur Unterstützung der russischen Armee unterstützt.
Eine derart geringe Unterstützung gibt Anlass zur Vermutung, dass selbst unter den eifrigsten Unterstützern Lukaschenkas nur rund zehn Prozent der Ansicht sind, dass Belarus seine Truppen hätte einmarschieren lassen sollen. Diese Feststellung bietet die Möglichkeit, begründete Annahmen über die Stimmungen in den belarusischen Streitkräften zu treffen. Militäranalytiker meinen, dass in die Ukraine in erster Linie die belarusischen Sondereinsatzkräfte (russ.: SSO) geschickt werden könnten. Es ist anzunehmen, dass Anwärter für die SSO nicht nur hinsichtlich der physischen Einsatzbereitschaft ein Auswahlverfahren durchlaufen, sondern hier auch eine ideologische Selektierung erfolgt (so waren Einheiten der SSO 2020 an der Niederschlagung der Proteste in Belarus beteiligt). Wenn man davon ausgeht, dass dort nur eifrige Anhänger Lukaschenkas aufgenommen werden, dann wäre nur jeder Zehnte für eine Invasion in die Ukraine geeignet. Man könnte natürlich einwenden, dass diese Menschen nur beschränkten Zugang zu Informationen haben. Dann wären es vielleicht nicht zehn, sondern 30 Prozent. Die Vorstellung von einer Invasion bleibt weiterhin nicht sonderlich populär. In jenen Einheiten des Militärs, in denen die Disziplin insgesamt weniger streng ist, insbesondere in Bezug auf die Informationsdisziplin, ähnelt die Lage eher dem Bild in der Gesamtgesellschaft.
Geteilte Sympathien
Die geringe Unterstützung für eine Beteiligung von Belarus am Krieg bedeutet allerdings nicht, dass die Belarus:innen einhellig die Ukraine unterstützen. Bis zu einem Drittel der Bevölkerung stimmt dem Narrativ des belarusischen (oder russischen) Regimes zu. Diese Ergebnisse lassen sich durch die Art des Medienkonsums erklären.
Der Bezug von Informationen aus russischen (und – in geringerem Maße – aus belarusischen) staatlichen Medien ist bestimmend für die Einstellung zum Geschehen. Unter denen, die russische Fernsehkanäle schauen, findet die Vorstellung, dass eine Präsenz russischer Streitkräfte auf belarusischem Boden eher gut ist, mehr Unterstützung (35 bis 67 % nach unterschiedlichen Parametern. Siehe Grafik 5 und Tabelle 1 auf S. 7/8). Die bisherige Erfahrung der Forscher von Chatham House hat zwischen der »Lukaschenkas Bastion« und dem »Kern des Protestes« erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Sympathien für Russland oder den Westen zu Tage befördert (hinsichtlich der Sympathien für die entsprechenden Länder). Die »Bastion« sind Bürger:innen, die dem Regime gegenüber toleranter eingestellt sind; ein Teil von ihnen hat für Lukaschenka gestimmt, ein Teil bevorzugt einfach »autoritäre« Regierungsmethoden. Den »Kern« bilden Anhänger:innen des Protests; sie repräsentieren das Rückgrat der aktiven Opponenten von Lukaschenkas Regime sowie weniger aktive Bürger:innen, die diese Ansichten teilen. Nach unterschiedlichen Schätzungen sind 35–40 Prozent der belarusischen Bevölkerung dem »Kern des Protests« zuzurechnen und 25–30 Prozent der »Bastion«. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen in Bezug auf Russland und den Westen geben Anlass zu der Vermutung, dass für die Menschen ein geopolitischer Subtext des Geschehens besteht. Ein Teil der Befragten ist wohl der Ansicht, dass es eine gewisse aktive Konfrontation zwischen Russland und dem Westen gibt, wobei der Westen territoriale Ansprüche gegenüber Belarus (das Rattern der NATO-Panzerketten bei Hrodna, von dem Lukaschenka sprach) oder gegenüber Russland hat. Das ist eine Folge der langjährigen russischen antiwestlichen Propaganda, die nach dem August 2020 auch von Lukaschenka aufgegriffen wurde. Die Verdrängung unabhängiger Medien vom belarusischen Markt hat zusammen mit dem traditionell hohen Vertrauen in russische Medien dazu geführt, dass der (zum Teil über Jahre entstandene) Effekt der antiukrainischen und antiwestlichen Propaganda beträchtlich ist. Gleichwohl dominiert bei den Belarus:innen der Wunsch, bei dem ganzen Konflikt außen vor zu bleiben. Unter anderem wird das mittelbar durch die Ablehnung der Idee deutlich, den Umfang der russischen Streitkräfte in Belarus zu erhöhen.
Die Belarus:innen haben grundsätzlich eine andere Wahrnehmung dieses Krieges als die Russ:innen
Die Situation scheint sich so darzustellen, als ob die Diktatoren und ihre Länder bei der Aggression gegen die Ukraine zusammen handelten. Man muss allerdings verstehen, dass der Diktator in Russland hier – anders als der Diktator in Belarus – die Unterstützung seiner Bevölkerung hat. Es ist sicherlich so, dass die Menschen in Russland auch den Krieg unterstützen. Uns liegen die Umfragen des Lewada-Zentrums und die Ergebnisse des Projekts Afina vor, eines Zusammenschlusses russischer Soziolog:innen, der das Ziel hat, die Lage in der russischen Gesellschaft nach Beginn des Krieges in der Ukraine zu durchleuchten.
Die Daten des Lewada-Zentrums halten für die Zeit von Februar 2022 bis März 2022 eine gewachsene Unterstützung für russische Politiker fest (u. a. für Putin, Schojgu und Mischustin). Der Indikator »Die Dinge im Land entwickeln sich in der richtigen Richtung« erreichte Werte, die mit anderen Spitzenwerten der letzten 20 Jahre vergleichbar sind. Die früheren Spitzenwerte entfielen auf die Zeit nach dem Krieg in Georgien und die Phase nach der Annexion der Krim entfielen.
Das Projekt Afina stellt fest, dass die Kriegshandlungen Mitte März von 60 Prozent unterstützt wurden. Wenn man bedenkt, dass in politischen Systemen wie dem derzeit in Russland bestehenden die Entscheidungen des Regimes durch eine Nichtteilnahme (und zwar in beliebiger Form: Nichtwissen, Unentschiedenheit usw.) legitimiert werden, wäre es wohl richtiger das Niveau der NICHTunterstützung für die Kriegshandlungen zu erfassen. Das liegt bei 22 Prozent.
Skeptiker sagen, dass solche Ergebnisse durch die Furcht zu erklären sind, an Umfragen teilzunehmen oder dabei auf Fragen zu antworten. Meine Kollegen, die die Daten in Russland erheben, sagen, dass die Indikatoren, die zeigen, wie viele Respondenten »erreicht« werden, sich vor dem Krieg und nach dessen Beginn kaum unterscheiden. Zudem ist zu beachten, dass das Lewada-Zentrum eine solide und sehr angesehene Organisation ist. Die Mitarbeiter:innen beschreiben stets offen die Methodologie und Ausgestaltung ihrer Studien. Ich habe keinen Grund zur Annahme, dass sie relevante Erreichbarkeitseffekte auf die Ergebnisse ihrer Erhebungen verschweigen würden.
Die Menschen scheuen sich wirklich, bei den Studien auf Fragen zu antworten, und zwar in Belarus wie auch in Russland. Es ist allerdings wichtig zu verstehen, dass diese Befürchtungen die Daten nicht derart stark verzerren können, dass sie die Umfrageergebnisse auf den Kopf stellen würden.
Die Forscher:innen von Chatham House befragen die städtische belarusische Bevölkerung, und zwar in einem Land, das seit zwei Jahren unter beispiellosen Repressionen leidet. Sie haben vor einigen Monaten mit verschiedenen Methoden eine Verzerrung im Bereich von 10 Prozent festgestellt, die auf eine Furcht zu antworten zurückzuführen ist. Afina schreibt während des Krieges von einem dreizehnprozentige »Zensurkoeffizienten«, also einer vergleichbaren Größe.
Das Lewada-Zentrum beschreibt zur gleichen Zeit die Entwicklung der wachsenden Zustimmung zum Vorgehen des Regimes: Nach unterschiedlichen Parametern ergibt sich ein Zuwachs von 12 bis 18 Prozent. Legt man den »Zensurkoeffizienten« an, kommt man zu dem Schluss, dass die Zustimmung zum Regime gewiss nicht abgenommen hat und die Russ:innen en masse der Ansicht sind, ihr Land bewege sich in der richtigen Richtung.
Bei einem Vergleich von Belarus und Russland stellen wir fest, dass sich die Anteile der Menschen, die bereit sind zu sagen, dass sie der »Generallinie der Partei« nicht zustimmen, sich in den beiden Ländern grundlegend unterscheiden. Während der Anteil in Belarus bis zu 70 Prozent beträgt, liegt er in Russland unter Berücksichtigung des Zensurkoeffizienten bei unter einem Drittel. Dabei gehen die Repressionen in Belarus weiter. Die Studie von Chatham House wurde nach einer gezielt grausamen Unterdrückung von Antikriegsprotesten in Belarus unternommen. Ungeachtet dieser Situation sprach sich ein großer Teil der Gesellschaft gegen das offizielle Narrativ aus. Einige (die mutigsten) Belarus:innen sind in einem Partisanenkrieg aktiv: Sie sabotieren trotz der gewaltigen Risiken für die eigene Freiheit und ihr Leben russische Militärtransporte per Schiene, sammeln Informationen über die Verlegung russischer Truppen innerhalb von Belarus und übergeben diese der Ukraine. In Russland hingegen ist außer sporadischen Antikriegsdemonstrationen keinerlei Widerstand zu beobachten.
Das alles lässt den Schluss zu, dass die Belarus:innen absolut gegen ihren Willen in diesen Krieg hineingezogen wurden und sich an ihm nicht beteiligen wollen, und zwar unabhängig davon, was sie über die Kriegsparteien denken und wen sie unterstützen.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder
Stand: 08.04.2022