Belarus-Analysen

Ausgabe 68 (30.11.2023) — DOI: 10.31205/BA.068.01, S. 2–6

Belarus vor den Wahlen: Transformation des politischen Systems 2023

Von anonym (*Belarusisches Jahrbuch)

Zusammenfassung
Das politische System, das derzeit in Belarus aufgebaut wird, ist durch eine vollkommene Absage an jedwede institutionalisierte Partizipation der Bevölkerung an der politischen Gestaltung gekennzeichnet; es stützt sich auf den Sicherheitsapparat der Silowiki und auf ausländische Unterstützung. In diesem Zusammenhang erlangen die Verbindungen zu Russland und die prorussischen Haltungen eines beträchtlichen Teils des belarusischen Sicherheitsapparats immer mehr Relevanz. Der Regierung ist ihr geringer Rückhalt in der Bevölkerung bewusst, und sie sieht keinen Weg, ihre Legitimität wiederherzustellen. Die belarusische Propaganda wird in beträchtlichem Maße mit russischen synchronisiert. Ihre traditionellen Narrative werden um Elemente ergänzt, die dem Regime helfen, die Kontrolle über das Privatleben der Belarus*innen zu verstärken.

Konturen des neuen politischen Systems

Die Diskussionen über eine notwendige ernste Neuformatierung des politischen Systems des Landes hatten im belarusischen Establishment praktisch sofort unmittelbar nach der politischen Explosion des August 2020 begonnen. Eine umfassende Erklärung allerdings, welche Elemente des Staates ihre Ineffizienz bewiesen hätten und welche Veränderungen vonnöten seien, bekam man von den höchsten Vertretern des Staates oder den Ideolog*innen letztlich nicht zu hören.

Aufgrund der tatsächlichen Veränderungen lassen sich drei zentrale Richtungen der Neuformatierung herausarbeiten:

1. Weitestgehende Absage an Wahlen

Wahlen werden als potenziell destabilisierender Faktor betrachtet. Sie stellen bis zum äußersten eine Imitation dar und sollen die Möglichkeit verhindern, dass die Wähler*innen ihren Willen bekunden, und sei es bei »Wahlen ohne Auswahl«, wenn also starke politische Konkurrenten nicht zugelassen werden und das Ergebnis im Voraus feststeht. So vermochte die unabhängige Zeitung »Nascha Niwa« bei den letzten Parlamentswahlen 2019, die Namen von 106 der 110 Abgeordneten vorauszusagen, und zwar allein aufgrund der Posten, die sie zuvor innehatten.

2. Unstrukturierte Teilung der Macht zwischen den verschiedenen Machtzentren

Hier geht es sowohl um Institutionen (Staatssekretariat des Sicherheitsrates, Präsidialadministration), als auch um Personen (z. B. Natallja Katschanawa, die Vorsitzende des Republikrates). Zwischen ihnen erfolgt jedoch keine eingehendere oder genauere Aufteilung der Zuständigkeiten und/oder Verantwortungsbereiche. In der Praxis werden viele sehr wichtige Fragen allem Anschein nach »vom Leben« entschieden, also aufgrund der jeweiligen konkreten Situation, und nicht auf institutionellem Wege.

3. Ausgliederung der Silowiki aus der Vertikale der Macht

Die politische Rolle der Silowiki hat noch weiter zugenommen; sie werden jetzt vom Staatssekretariat des belarusischen Sicherheitsrates koordiniert und beaufsichtigt. Die Silowiki übernehmen zum Teil die Hebel der Verwaltung und erheben sich dabei über den zivilen Verwaltungsapparat. In diesem Zusammenhang verdienen die Verbindungen nach Russland und die prorussischen Haltungen einer beträchtlichen Anzahl von Angehörigen des Sicherheitsapparates besondere Beachtung.

All das erfüllt eine politische Funktion: Es wird keiner Institution und keinem*r Vertreter*in des Staates, der oder die im Falle einer wiederholten politischen Krise eigenständig handeln und die Macht in seinen/ihren Händen konzentrieren könnte, erlaubt, sich hervorzuheben. Das desorganisiert allerdings unausweichlich das System der staatlichen Verwaltung.

Eines der Schlüsselelemente des neuen politischen Systems, das garantiert jede Möglichkeit für die Bevölkerung verhindern soll, Einfluss auf die Bildung von Verwaltungsorganen zu nehmen oder an Entscheidungen beteiligt zu sein, soll die »Allbelarusische Volksversammlung« (belar.: WNS) werden. Diese Konstruktion ist anscheinend von Anfang an unter internem Druck entworfen worden, der unter anderem von Seiten der Nomenklatura erfolgte. Dieser mussten gewisse Perspektiven aufgezeigt werden, und zwar für einen Übergang nach einem Abgang Lukaschenkas – und dementsprechend für die eigene Sicherheit.

Der juristische Status der WNS ist in der neuen Redaktion der Verfassung festgeschrieben, die im Februar 2022 durch ein »Referendum« verabschiedet wurde. Das Referendum wurde allerdings unter erheblichen Verstößen der nationalen Gesetzgebung und der grundlegenden Regeln für faire und demokratische Abstimmungen abgehalten. Unter anderem hebt die Kampagne »Menschenrechtler für freie Wahlen« hervor, dass die Behörden keine unabhängigen Wahlbeobachter in die Wahllokale gelassen hätten. Denjenigen Beobachtern dann, die zugelassen wurden, verwehrte man einen freien Blick auf die Stimmauszählung. Das alles bietet keine Grundlage, den Ergebnissen dieses Referendums zu trauen und sie als realen Ausdruck des Willens der Wähler*innen in Belarus zu betrachten.

Die WNS wandelt sich zu einem sehr wichtigen Machtzentrum. Sie ist bevollmächtigt, die wichtigen Richtungen der Innen- und Außenpolitik zu verabschieden, Verfassungsänderungen vorzuschlagen, Wahlergebnisse aufzuheben, den Präsidenten abzusetzen, den Ausnahme- oder Kriegszustand zu verhängen, Entscheidungen zu treffen, die für sämtliche Behörden der staatlichen Verwaltung verbindlich sind, sowie Rechtsakte und Entscheidungen staatlicher Stellen (mit Ausnahme der Gerichte) aufzuheben.

Bedenkt man, dass die Delegierten der WNS dort tätig sind, ohne dass sie ihre Arbeitsstellung aufgeben, kann die WNS wohl kaum permanent tätig sein. Folglich sind die wichtigsten Befugnisse beim Präsidium der WNS konzentriert. Über dessen personelle oder zahlenmäßige Zusammensetzung es praktisch keinerlei Informationen gibt – mit Ausnahme des Umstandes, dass es von Aljaksandr Lukaschenka geleitet wird, der dies mit dem Präsidentenamt vereinigt. Diese verwaltungstechnische Schizophrenie – der Vorsitzende der WNS Lukaschenka kontrolliert den Präsidenten Lukaschenka – ist aus mindestens zwei Gründen entstanden, einem psychologischen und einem außenpolitischen.

Lukaschenka ist eindeutig nicht bereit, das Aufkommen irgendeines formalen Gegengewichts zu akzeptieren, das man dann auch im Falle eines Falles im Kampf gegen ihn selbst einsetzen könnte. Die katastrophale Erfahrung mit dem Machtdualismus in Kasachstan dürfte in Minsk kaum für Optimismus gesorgt haben. Auch eine Teilung der Vollmachten zwischen dem Präsidenten und dem Oberhaupt der WNS – wenn es denn zwei verschiedene Personen sind – würde die außenpolitischen Kontakte Lukaschenkas viel schwieriger gestalten. Schließlich wird dessen Legitimität ohnehin de facto angezweifelt, sogar von solch offensichtlich nichtwestlichen Zusammenschlüssen wie BRICS und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ).

So hat etwa Indien, ein Mitglied von BRICS und der SOZ, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2020 nicht anerkannt. Alle Versuche von Minsk, seinen Status in der SOZ zu erhöhen, sind gescheitert. Zu dem dritten »Belt and Road Forum for International Cooperation«, das im Oktober 2023 stattfand, und an dem Vertreter*innen von rund 140 Staaten teilnahmen, war Lukaschenka nicht eingeladen.

In diesem Zusammenhang ist die öffentliche Passivität bezeichnend, mit der die Regierung die Parlaments- und Kommunalratswahlen vorbereitet, die im Februar 2024 auf allen Ebenen anstehen. In der Öffentlichkeit wird über den bevorstehenden einheitlichen Wahltag praktisch nicht berichtet. Und die Zentrale Wahlkommission veröffentlicht keinerlei Informationen, von den Karten der Wahlkreise einmal abgesehen. Stattdessen hat die Regierung ihre Säuberung des ohnehin gesäuberten politischen Raumes verstärkt. Die wichtigsten Treffen zu den »Wahlen« hält Ihar Karpenka, der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, mit Vertreter*innen des Innenministeriums ab.

All das zeigt, dass der Regierung in Belarus bewusst ist, dass ihr Rückhalt in der Gesellschaft gering ist und sie keinen Weg sieht, ihre Legitimität wiederherzustellen. Grundlage des politischen Überlebens ist der Rückgriff auf die Silowiki und die Unterstützung durch Russland.

Parteiaufbau und Zerstörung

Vor der Krise von 2020 wurde die Möglichkeit eines Übergangs von einem System, in dem Parteien nur eine marginale Rolle spielen, hin zu einem Parteiensystem intensiv in der belarusischen Öffentlichkeit diskutiert. Belebt wurden diese Diskussionen in erster Linie durch Erklärungen verschiedener offizieller Figuren, die die Gründung einer Partei der Macht für wünschenswert hielten. Auch das Interesse der regierungsfreundlichen Parteien an einer Stärkung ihrer Position spielte eine Rolle.

Initiiert wurden diese Diskussionen jedoch aufgrund einer Bedarfs auf der unteren und mittleren Ebene der Elite. Diese richtete sich auf politische Parteien, die vor allem als Instrument für soziale und politische Mobilität betrachtet wurden, sowie für Karrieremöglichkeiten angesichts der nur begrenzt bestehenden sozialen Lifte. Lukaschenka aber ist die Vorstellung von einem Parteiensystem immer fremd gewesen. Regimefreundliche Parteien wurden von ihm vorwiegend als zweitrangige Instrumente wahrgenommen, mit denen propagandistische Narrative über den sozialen Charakter des belarusischen Staates transportiert werden können.

Als offensichtlichste Kandidatin für eine Partei der Macht wurde immer die Republiksweite gesellschaftliche Vereinigung »Belaja Rus« betrachtet. Initiativen der Führung von »Belaja Rus«, die in diese Richtung gingen, hatte Lukaschenka mehrfach abgelehnt. Nach der Krise von 2020 musste er jedoch diesen Wünschen der kollektiven Bürokratie entgegenkommen. Der Kongress zur Gründung (auf der Basis von »Belaja Rus«) einer gleichnamigen politischen Partei, fand im März 2023 statt.

Seither ist die Partei allerdings im politischen Raum nicht besonders aktiv gewesen. Zumindest ist in den staatlichen Unternehmen und Einrichtungen mit Stand von November 2023 die Welle der Eintritte nicht besonders intensiv gewesen (wie das bei offen regimetreuen Organisationen wie dem Belarusischen Republiks-Jugendverband oder der Föderation der Gewerkschaften von Belarus sonst üblich ist). Daher sind gegenwärtig keinerlei offensichtliche Unterschiede zwischen der gesellschaftlichen Vereinigung »Belaja Rus« und der gleichnamigen Partei festzustellen.

Demgegenüber ist der Kurs, den das Regime zur Säuberung der Parteienlandschaft eingeschlagen hat, ganz offensichtlich. Lukaschenka hat bereits im September 2020, während der Proteste, öffentlich davon gesprochen, dass eine Neuregistrierung notwendig sei. Und das, obwohl in der belarusischen Gesetzgebung das Konzept einer Neuregistrierung fehlte. Im Februar 2023 jedoch wurde das Gesetz »Über die politischen Parteien« derart geändert, dass die Möglichkeiten des Staates zur Auflösung solcher Zusammenschlüsse beträchtlich ausgeweitet wurden. Zuvor schon hatte in Belarus seit 2000 keine neue Partei eine Registrierung erhalten (ungeachtet mehrfacher Versuche beispielsweise der Christdemokraten).

In der Folge waren im Herbst dieses Jahres von den 15 Parteien, die in Belarus vor 2023 existiert hatten, nur noch drei übriggeblieben, und zwar regimefreundliche: Die »Liberal-Demokratische Partei von Belarus«, die »Kommunistische Partei von Belarus« und die »Republikanische Partei der Arbeit und Gerechtigkeit«, zu denen sich nun die neue regimetreue Partei »Belaja Rus« gesellte.

Einerseits könnte diese Säuberung des politischen Raumes von der Absicht der Regierung zeugen, ein politisches System mit Quasiparteien zu schaffen, in dem einige regimetreue Parteien miteinander darin wetteifern, wie stark sie den Kurs von Lukaschenka unterstützen. Das ist beispielsweise offiziell der wichtigste Punkt des politischen Programms von »Belaja Rus«. Andererseits sind keine anderen Schritte zur Entwicklung des Parteiensystems im Land zu erkennen. Keine der drei jetzt neu registrierten alten Parteien ist in der Öffentlichkeit aktiv geworden oder hat ihre Ambitionen auf einen Platz in der neuen Konstellation angemeldet.

Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass die belarusische Regierung in Bezug auf ein mögliches Parteiensystem noch über keine klaren Vorstellungen verfügt. Die Umwandlung der gesellschaftlichen Vereinigung »Belaja Rus« in eine Partei war anscheinend in vielem nicht nur ein gewisses Zugeständnis an die Nomenklatura (ohne weitere Entwicklung). Es war auch eine Antwort in Richtung Russland, wo in Experten- und Politikerkreisen mehrfach die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht in Belarus die Entwicklung eines Parteiensystems und die Schaffung einer Partei der Macht nach dem Vorbild von »Einiges Russland« notwendig sei.

Die Propaganda in der gegenwärtigen Phase: Auf dem Weg in den Totalitarismus?

Nachdem die Regierung in der Folge der Unterdrückung der gesellschaftlichen Proteste im Sommer und Herbst 2020 die Repressionen verschärfte und diversifizierte, wurde in den nichtstaatlichen Medien und in Expert*innenkreisen immer häufiger davon gesprochen, dass das Regime in Belarus sich von einem autoritären in ein totalitäres verwandelt. Die Fragestellung ist in gewissem Maße ideologischer Natur, da in der Politikwissenschaft unterschiedliche Auslegungen von »Totalitarismus« bestehen. Die verbreitetste Definition von Totalitarismus ist folgende: Eine Form der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, bei der das politische Regime bestrebt ist, eine vollständige (totale) Kontrolle über die Menschen und die Gesellschaft zu errichten. Dabei ist es aus Sicht des Regimes die Aufgabe, sämtliche Aspekte des Lebens der Menschen zu kontrollieren und das Entstehen von Opposition in jedweder Form durch den Staat zu unterbinden und zu unterdrücken. Ausgehend von dieser Definition, lässt sich zweifellos eine beträchtliche Entwicklung des Regimes in Belarus in Richtung Totalitarismus feststellen.

Es wurde bereits festgehalten, dass das derzeitige Regime in Belarus jedweder oppositionellen Tätigkeit absolut feindlich gegenübersteht. Das Regime Lukaschenka hat von Beginn an, seit den 1990er Jahren, den Begriff »Opposition« sehr weit gefasst und auch Journalisten*innen. und Menschenrechtler*innen zu den »Oppositionellen« gezählt. Diese Deutung des Wortes ist jetzt noch stärker ausgeweitet worden. Jede gesellschaftliche Initiative, die aus Sicht der Regierung oder einzelner ihrer Vertreter*innen, in irgendeiner Zukunft unter irgendwelchen Umständen, selbst wenn diese gegenwärtig noch nicht bestehen, eine Form von Protest gegen das Regime annehmen kann, wird als oppositionell wahrgenommen und ist entsprechend zu unterdrücken. Der Grund des Protestes ist dabei belanglos. Das heißt, es ist vollkommen unerheblich, ob der oder die Betreffende einen Regimewechsel anspricht oder sich politisch betätigt. Selbst ein potenzieller Protest zu Alltagsproblemen würde in diesem System sehr stark politisiert werden.

Zum Alltag der Belarus*innen gehören mittlerweile regelmäßige Überprüfungen der Telefone und verschiedene Arten der Verfolgung (Verhaftungen, Geldstrafen, Entlassungen usw.) wegen Reaktionen in den sozialen Netzwerken, wegen »falscher« Fotos oder Posts. Die Repressionen haben nach Einschätzung des Soziologen Genads Korschunau in den letzten Monaten zwar eine Art gleichbleibendes Niveau erreicht. Für die Zeit vor dem Urnengang 2024 wird jedoch wieder eine Zunahme erwartet.

Die ständigen Narrative der staatlichen Propaganda in Belarus – über Belarus als Insel der Ruhe, des Friedens und der Prosperität inmitten einer zerfallenden Welt und über den »kollektiven Westen« als Quelle und Verkörperung alles Bösen – sind nach 2020 verstärkt und übersteigert worden.

Zu diesen Narrativen der staatlichen Propaganda sind 2023 neue Thesen und Elemente hinzugekommen:

  • Ein Genozid am belarusischen Volk während des »Großen Vaterländischen Krieges« (1941–45);
  • Der Kampf gegen LGBT-Personen, bewusste Kinderlosigkeit (»childfree«) und andere Phänomene, die von der belarusischen Propaganda als vom Westen eingeschleppte Abnormalitäten definiert werden;
  • Eine Militarisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens, auch bei der propagandistischen Darstellung;
  • Ein beispielloses Niveau von Hassrede, Erniedrigungen und Beleidigungen, die sich gegen jeden richten können, der der politischen Illoyalität verdächtigt wird, wie auch gegen andere Staaten und ausländische Politiker*innen;
  • Das Phänomen staatsnaher Blogger*innen und Expert*innen, die de facto die russische politische Agenda transportieren (Wolga Bondarewa, Pjotr Pjatrowski, Aljaksej Dsermant, Wadsim Gigin, Andrej Mukawostschyk, Aljaksandr Schpakouski u. a.);
  • Ein hoher Synchronisierungsgrad zwischen belarusischer und russischer Propaganda.

Die Ziele dieser propagandistischen Narrative sind nicht so offensichtlich, wie es scheinen mag. Fast alle scheinen auf eine lange Perspektive und die Stärkung einer Vision von einer Zukunft für Belarus gerichtet. Bei anderen Aspekten der Entwicklung des Landes neigt die Regierung weniger dazu, irgendwelche langfristigen Konstruktionen zu entwerfen, schon gar nicht welche, die womöglich nachhaltig wären.

So stellt sich die intensiv verbreitete Geschichte vom Genozid am belarusischen Volk während des »Großen Vaterländischen Krieges« bei näherem Hinsehen als Variante der Vorstellung vom »kollektiven Westen« als Ursprung und Verkörperung allen Übels heraus. Im Rahmen dieser Szenarios spielen historische Gegebenheiten überhaupt keine Rolle; sie dienen lediglich als bequemer Hintergrund für antiwestliche Demagogie. Jeder Einwand wird umgehend als Lobpreisung des Faschismus und Nazismus hingestellt, wodurch den Opponenten keine Möglichkeit für eine wissenschaftliche Diskussion gelassen wird.

Zum Teil gehören auch die Szenarien über LGBT-Personen und Kinderlosigkeit zu dieser Serie, die angeblich die belarusische Gesellschaft zersetzen. Parallel setzt die Regierung jetzt aktiver eine Rhetorik über den Schutz traditionellen Werte und demographische Sicherheit ein. Die Maßnahmen für demographische Sicherheit können allerdings erst wenigstens 15 bis 20 Jahre nach ihrer Verabschiedung voll wirksam werden. Bislang jedoch unternimmt die belarusische Regierung mit einer Hartnäckigkeit, die eine bessere Verwendung verdient hätte, etwas Gegenteiliges: Sie drängt und drängen die Belarus*innen ins Ausland. Beispielsweise durch Pläne zur obligatorischen Zuweisung der Arbeitsplätze für zahlungspflichtige Studierende oder durch Verschärfung der Regeln bei der Rekrutierung von Wehrpflichtigen.

In der Praxis verfolgt die propagandistische Rhetorik über LGBT und demographische Sicherheit usw. sehr viel kurzfristigere Ziele. Damit soll nämlich die Kontrolle über das Privatleben der Menschen verstärkt und zusätzliche Hebel für deren öffentliche Diskreditierung erzeugt werden. Gleichzeitig kann man sich selbst bestimmte positive Merkmale zuschreiben, da man sich ja um den »Schutz traditioneller Werte« kümmere. Gleichzeitig ist es beispielsweise rational schwierig, die Familie von Lukaschenka als mustergültigen Inbegriff der »traditionellen Familie« und der »traditionellen Werte« aufzufassen. Seit seiner Wahl zum Präsidenten 1994 lebt Lukaschenka nicht mehr mit seiner offiziellen Frau Galina Lukaschenka zusammen. Er lässt sich nicht scheiden, tritt aber bei unterschiedlichen Veranstaltungen mit anderen Frauen in Erscheinung. 2004 wurde sein unehelicher Sohn Mikalaj geboren, dessen Existenz und Status Lukaschenka keineswegs verheimlicht. Stattdessen nimmt er ihn seit seinem dritten Lebensjahr überall mit hin, ohne dessen Mutter und ohne deren Namen zu nennen. Als Sechsjähriger wurde Mikalaj von Lukaschenka an den Ort des Terroranschlags von 2011 in der Minsker Metro geführt. 2020 drückte Lukaschenka dem nun 15-Jährigen eine Maschinenpistole in die Hand.

Von nicht geringer Bedeutung ist auch die Synchronisierung der belarusischen Propaganda mit der russischen, sowohl bei den Narrativen wie auch in Bezug auf das intellektuelle und kulturelle Niveau. Die aus den Fernsehern tönenden Beleidigungen (aus der untersten Schublade), die Brandmarkungen, das Konstruieren einer absolut schwarz-weißen Welt sind offensichtlich keine Merkmale, dass eine Propaganda effektiv ist. Sie spiegeln vielmehr wider, welche Rhetorik in Richtung seiner politischen Opponenten (im weiteren Sinne), von der derzeitigen belarusischen Führung als notwendig betrachtet wird.

Das Niveau der Analysen durch die in Belarus aktiver gewordenen offen prorussischen Porpagandist*innen und Blogger*innen zeigt sehr deutlich, dass eine allgemeine Entprofessionalisierung erfolgt, die alle Lebensbereiche erfasst. Es verweist in gewissem Maße auch darauf, wie groß die Hysterie ist, die in der Elite herrscht.

Fazit

Die zunehmende Entprofessionalisierung des Verwaltungsapparates schränkt in erheblichem Maße den Einsatz politischer, und eben nicht gewaltsamer Verwaltungsmethoden ein. Der Sicherheitsapparat mit seinen weitreichenden Verbindungen nach Russland und seinen prorussischen Stimmungen ersetzt immer mehr die Behörden der Zivilverwaltung, und das vor dem Hintergrund der vielschichtigen belarusischen Abhängigkeit von Russland.

Nachdem sie keine wesentlichen Erfolge dabei erreichte, nach den Protesten von 2020 die »Seite der Geschichte umzuschlagen« und seine Legitimität wiederherzustellen, versucht die belarusische Regierung, die Konturen eines institutionell neu gestalteten politischen Systems auszuloten, unter anderem durch eine Institutionalisierung der »Belarusischen Volksversammlung« und eine Umwandlung von »Belaja Rus« in eine Partei der Macht. Diesen Veränderungen fehlt das Systemische. Sie fügen sich nicht zu einem klaren Bild, und zwar wegen der fehlenden Bereitschaft Lukaschenkas zu einem politischen Übergang.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

* »Belarusskij Jeschegodnik« (dt.: »Belarusisches Jahrbuch«) ist ein analytischer Sammelband, der einen komplexen Überblick über die Ereignisse und Tendenzen des Jahres in verschiedenen Bereichen von Staat und Gesellschaft in Belarus bietet. Er erscheint seit 2008 unter der Ägide des Expert*innen-Netzwerks »Nasche mnenije« (dt.: »Unsere Meinung«; https://nmn.media/). Der Autor möchte anonym bleiben. Er ist der Redaktion persönlich bekannt.

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Analyse

Nationaler Dialog, Vermittlung und belarusische Eliten

Von Andrei Kazakevich
Die Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 haben zu den in der Geschichte des Landes größten Protesten geführt, die drei Monate in Folge nicht abreißen und die im Ergebnis die bisher schwerste politische Krise hervorgerufen haben. In diesem Artikel wird auf die Möglichkeiten einer friedlichen Beilegung des Konflikts durch einen nationalen Dialog eingegangen. Darüber hinaus werden die Probleme analysiert, mit denen die belarusischen politischen Eliten konfrontiert sind. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass eine Bewältigung der Krise durch interne Mittel wegen der Vertrauenskrise und fehlender Mechanismen, die die Umsetzung von Vereinbarungen garantieren würden, praktisch unmöglich ist. Gegenwärtig ist ein ergebnisvoller nationaler Dialog in Belarus nur mit einer Vermittlung von außen denkbar, im Idealfall im Format eines Dreiecks unter Beteiligung von Russland, Deutschland und Frankreich. (…)
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