Belarus-Analysen

Ausgabe 71 (05.07.2024) — DOI: 10.31205/BA.071.02, S. 8–11

Die belarussische Agenda 2030-Politik nach August 2020

Von Astrid Sahm (Internationales Bildungs- und Begegnungswerk, Berlin und Dortmund)

Zusammenfassung
Die belarussische Präsidentschaftswahl von August 2020 stellte auch für die Agenda 2030-Politik in Belarus eine Zäsur dar. Bis dahin diente die Agenda 2030 der Profilierung des Lukaschenka-Regimes gegenüber dem Westen und bot unabhängigen zivilgesellschaftlichen Akteuren neue Beteiligungschancen im Land. Seitdem hat sich die Agenda 2030 zu einem Spielfeld der innenpolitischen Polarisierung und geopolitischen Konfrontation entwickelt. Gleichzeitig erhält Belarus in internationalen Ratings weiterhin hohe Bewertungen. Dies verdankt sich dem Design der 2015 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Agenda 2030, die einen Kompromiss von Staaten mit unterschiedlichen politischen Regimen darstellt.

Die Ernennung von Marianna Schtschjotkina als stellvertretende Vorsitzende der Oberkammer der belarussischen Nationalversammlung zur Nationalen Nachhaltigkeitskoordinatorin und die Einsetzung eines Nationalen Nachhaltigkeitsrats durch Staatschef Lukaschenka markierten im Mai 2017 den Beginn der aktiven belarussischen Agenda 2030-Politik. Bereits zwei Monate später präsentierte die Koordinatorin auf dem Hochrangigen Politischen Forum (HLPF) der Vereinten Nationen (UN) in New York den ersten freiwilligen Staatenbericht über die Umsetzung der 2015 von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Agenda 2030 in Belarus. In der Folgezeit baute die Nationale Koordinatorin eine umfassende Nachhaltigkeitsarchitektur auf, indem sie neue Mechanismen für die behördenübergreifende Zusammenarbeit und die Multi-Stakeholder-Kooperation schuf. Gleichzeitig unternahm die belarussische Führung erhebliche Anstrengungen, um die globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) in ihr staatliches Planungs- und Statistiksystem zu integrieren. Damit verbunden waren Ambitionen, Belarus als regionalen Vorreiter bei der Umsetzung der Agenda 2030 zu etablieren. Hiervon zeugte beispielsweise das »Regional SDGs Coordination Leaders Forum« im Februar 2018, an dem die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina J. Mohammed teilnahm. Dieser Anspruch wurde durch die hohen Platzierungen untermauert, die Belarus im jährlichen internationalen SDG-Index der Bertelsmann Stiftung und des Sustainable Development Solutions Network erhielt. Im Jahr 2020 verzeichnete das Land mit Platz 18 seine beste Bewertung.

Zivilgesellschaftliche Beteiligung bis 2020

Zivilgesellschaftliche Akteure konnten sich über die Partnergruppe des nationalen Nachhaltigkeitsrats sowie den Gesellschaftlichen Rat für die Erarbeitung und die Evaluation von Nachhaltigkeitsstrategien beim Forschungsinstitut des Wirtschaftsministeriums in die staatliche Agenda 2030-Politik einbringen. Bei der Partnergruppe handelte es sich um eine offene Gruppe, der sich alle interessierten Vertreter:innen aus Zivilgesellschaft, Bildungswesen, Wirtschaft und internationalen Organisationen anschließen konnten. Bis 2020 schlossen sich über 50 Organisationen, einschließlich Menschenrechtsorganisationen, wie das Belarussische Helsinki-Komitee, der Gruppe an. Aus ihrem Kreis ernannte die Nationale Nachhaltigkeitskoordinatorin sieben Koordinator:innen für sechs Themenfelder. Hierzu gehörten die Leiter:innen der NRO »Gender-Perspektiven«, des Zentrums für Umweltlösungen, der Assoziation »Bildung im Interesse nachhaltiger Entwicklung«, der Assoziation für zusätzliche Bildung und Aufklärung, der Stiftung »Dobra« (Gutes), die das UN Global Compact Netzwerk in Belarus koordinierte, sowie des Forschungszentrums des Instituts für Privatisierung und Management (IPM).

Die Partnergruppe hatte formal eine nicht näher bestimmte Beratungsfunktion. Den Koordinator:innen gelang es jedoch den Status der Partnerschaftsgruppe schrittweise zu verbessern. Ab Mitte 2018 konnten sie als Gäste an den Sitzungen des Nationalen Nachhaltigkeitsrats teilnehmen. Ebenso wirkten die Koordinator:innen und andere Mitglieder der Partnergruppe an zahlreichen Arbeitsgruppen und Veranstaltungen innerhalb der Nachhaltigkeitsarchitektur mit bzw. trugen eigene Aktivitäten bei. Damit bildete sich ein vergleichsweises dichtes Netzwerk an neuen, miteinander verbundenen Dialogplattformen heraus, welches nichtstaatlichen Akteuren zumindest die Möglichkeit bot, ihre Problemformulierungen und Verbesserungsvorschläge direkt an staatliche Akteure zu adressieren und mit diesen zu diskutieren. Dies führte zu erkennbaren Reformimpulsen, die sich u. a. in neuen sektoralen Strategien widerspiegelten. Beispiele hierfür sind die »Nationale Strategie für ein Altern in Würde – 2030« und der »Nationale Aktionsplan zur Entwicklung einer grünen Wirtschaft für 2021–2025«.

Innovative Ansätze zeigten sich insbesondere bei der Gestaltung des Prozesses zur Erarbeitung einer neuen Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie für den Zeitraum bis 2035 (NNHS-2035). Auf Initiative des zuständigen Wirtschaftsministeriums fanden in den Jahren 2018–2019 mehrere Runde Tische und Workshops statt, um Zukunftsvisionen und Schwerpunkte der Strategie mit relevanten Stakeholdern zu diskutieren. Zudem erstellte das Forschungsinstitut des Ministeriums mit aktiver Beteiligung seines Gesellschaftlichen Rats einen Monitoringbericht, in dem die bisherige Zielerreichung der Vorgängerstrategie und ihre Beiträge zur Erreichung der SDGs analysiert wurden. Auf dieser Grundlage erstellte das Institut ein Konzept für die neue Strategie, dessen Entwurf im Dezember 2018 auf der Website des Wirtschaftsministeriums öffentlich zur Diskussion gestellt und anschließend nochmals überarbeitet wurde.

Grenzen der Reformbereitschaft

Der weitere Verlauf der Erarbeitung der NNHS-2035 zeigte bereits die Grenzen der Reformbereitschaft staatlicher Akteure im Kontext der Umsetzung der Agenda 2030 auf. Besonders deutlich wurde dies im Umgang mit SDG 5. Das Strategiekonzept von 2018 enthielt erstmals einen eigenen Abschnitt zur Gleichstellung der Geschlechter und verwendete aktiv den Genderbegriff. Im Strategieentwurf, welche das Wirtschaftsministerium bis Anfang 2020 erarbeitete, wurde dieser Abschnitt jedoch ersatzlos gestrichen. Darüber hinaus plante das Ministerium, der Regierung den Entwurf ohne vorherige öffentliche Diskussion zur Bestätigung vorzulegen. In dieser Situation setzten sich die Nationale Nachhaltigkeitskoordinatorin, die Leiterin des UN-Büros in Belarus und die Koordinator:innen der Partnerschaftsgruppe gemeinsam erfolgreich dafür ein, dass der Strategieentwurf öffentlich und in den Gremien der Nachhaltigkeitsarchitektur diskutiert wurde. Im Ergebnis dieser Debatten, die in den Monaten Februar und März 2020 erfolgten, wurde der Text der Strategie in einigen Punkten überarbeitet. Dadurch gab es in der Endfassung der Strategie wieder einen Abschnitt zum SDG 5, in dem freilich der Genderbegriff komplett vermieden wurde. Dementsprechend kamen Konzepte wie Gender Mainstreaming und Gendersensibilität nicht mehr vor. Stattdessen war nun von der »Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Männer und Frauen in allen Lebensbereichen« die Rede. Dies schloss immerhin die Etablierung von Mechanismen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt ein. Insgesamt lag der Fokus damit jedoch vollkommen auf der Bewahrung traditioneller Familienwerte.

Rückblickend erscheinen die Rückschläge, welche die beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteure in der Endphase der Erarbeitung der NNHS-2035 hinnehmen mussten, wie ein Vorbote der politischen Krise, die sich nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 entwickelte. Allerdings waren nun im Unterschied zum Frühjahr 2020 keine Kompromisse mehr möglich. Angesichts der gewaltsamen staatlichen Reaktionen auf die – wesentlich von Frauen getragenen – Massenproteste gegen das gefälschte Wahlergebnis wandten sich die Koordinator:innen der Partnerschaftsgruppe am 19. August 2020 in einem gemeinsamen Schreiben an Anatolij Isatschenko, der im Februar 2020 als Nachfolger von Marianna Schtschjotkina zum Nationalen Nachhaltigkeitskoordinator ernannt worden war. Mit Verweis auf die zentralen Prinzipien der Agenda 2030 riefen die Koordinator:innen in ihrem Schreiben Isatschenko dazu auf, die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen friedliche Demonstranten zu verurteilen und sich für einen echten gesellschaftlichen Dialog einzusetzen. Zwar lud Isatschenko die Koordinator:innen der Partnergruppe Anfang September 2020 zu einem Gespräch ein. Ihr Appell verhallte jedoch ungehört. Stattdessen gehörten die von den Koordinator:innen geleiteten NROs zu den ersten zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von der im Sommer 2021 einsetzenden Verbotswelle betroffen wurden. In der Folgezeit wurde die Partnergruppe vom Nationalen Nachhaltigkeitskoordinator neu organisiert, so dass ihre Leitung nun überwiegend in den Händen von staatsnahen Organisationen, wie dem Belarussischen Roten Kreuz oder der Frauenunion lag. Die Gruppe spielt seitdem nur noch eine passive Rolle.

Politisierung der Agenda 2030

Ungeachtet der durch die Ereignisse vom August 2020 ausgelösten politischen Krise blieb die nationale Nachhaltigkeitsarchitektur formal unverändert und die staatlichen Anstrengungen zur Agenda 2030 wurden fortgesetzt. Auf der Homepage über die Nachhaltigkeitsziele in Belarus sdgs.by lassen sich weiterhin ausführliche Informationen über die Aktivitäten ihrer Organe finden. Im Falle des Nationalen Nachhaltigkeitsrats, der 2023 mit der Ernennung des ehemaligen Direktors des Instituts für Wirtschaft der Akademie der Wissenschaften Valeryj Belski zum neuen Nationalen Koordinator mehr Schwung erhielt und insgesamt viermal tagte, sind sogar Aufzeichnungen einzelner Sitzungen zugänglich. Besonders prominent werden auf der Homepage außerdem die Aktivitäten der 17 Jungen SDG-Botschafter präsentiert, die seit 2019 alle zwei Jahre im Rahmen eines landesweiten Wettbewerbs für Studierende ermittelt werden. Darüber hinaus enthielten alle Staatsprogramme, die für den Zeitraum 2021–2025 verabschiedet wurden, Angaben darüber, zu welchen SDGs die vorgesehenen Maßnahmen Beiträge leisten. Das belarussische Statistikamt verbesserte zeitgleich seine Methodik zur Erfassung des Fortschritts bei der Erreichung der 17 SDGs auf nationaler und regionaler Ebene. Ende 2022 wurden Daten zu 267 nationalen Indikatoren erhoben, obgleich von UN-Seite lediglich 231 Indikatoren als Gradmesser für die erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 entwickelt wurden. Zudem wurden 145 Indikatoren auf subnationaler Ebene erfasst. Damit demonstrierte das Statistikamt weiterhin Ambitionen auf eine Vorreiterrolle.

Gleichzeitig lässt sich eine deutliche Veränderung der Botschaften feststellen, welche die belarussische Führung über ihre staatliche Agenda 2030-Politik nach außen kommunizierte. In den Vordergrund trat nun die Kritik an den vom Westen gegen Belarus verhängten Sanktionen. Adressiert wurde diese Kritik vor allem an die Institutionen der Vereinten Nationen, von denen die belarussische Führung erhoffte, dass sie die westlichen Sanktionen als Verletzung der UN-Charta verurteilen würde. Die Kritik prägte auch den zweiten freiwilligen Staatenbericht, den das belarussische Außenministerium im Juli 2022 beim HLPF in New York präsentierte. Darin wird verkündet, dass Belarus die vereinbarten Ziele der Agenda 2030 bereits zu 80 % erfüllt habe und das Land 70 % seiner gesamten Haushaltsmittel für Maßnahmen zur Erreichung der SDGs verwende. Im Bericht wird zwar die allgemeine Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft für die erfolgreiche Agenda 2030-Politik benannt, allerdings werden keinerlei konkreten Beiträge nichtstaatlicher Akteure erwähnt. Letztendlich werden alle Leistungen bei der Umsetzung der Agenda 2030 staatlichen Maßnahmen zugeschrieben. Gleichzeitig enthält der Bericht die Warnung, dass das aktuelle Niveau der Agenda-2030 Politik nicht gehalten werden könne, weil »beispiellose illegale einseitige Wirtschaftssanktionen«, die von westlichen Ländern gegen Belarus verhängt wurden, »die bei der Umsetzung der SDGs erzielten Ergebnisse zunichtemachen« würden.

Alternativberichte von Opposition und Zivilgesellschaft

Die offizielle belarussische Berichterstattung beim HLPF nahm das Büro der belarussischen Oppositionsführerin Swjatlana Tichanouskaja zum Anlass, einen Alternativbericht vorzulegen. Ihr Team, das von einer Gruppe zivilgesellschaftlicher Expert:innen und Aktivist:innen unterstützt wurde, sah im HLPF vor allem eine wichtige Gelegenheit, auf die massiven politischen Repressionen und Menschenrechtsverletzungen des Lukaschenka-Regimes aufmerksam zu machen. Der mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte Bericht betont, dass es angesichts dieser Situation »unmöglich ist, über Errungenschaften der Regierung von Alexander Lukaschenka bei der Umsetzung der SDGs zu sprechen«. Laut eigener Aussage des Tichanowskaja-Büros wurde mit dem Alternativbericht auch das Ziel verfolgt, »zu verhindern, dass das Regime […] Mittel für die SDGs erhält, die es zur Stärkung seiner Diktatur einsetzt«. Entsprechend dieser Zielsetzung lag der Fokus des Alternativberichts auf SDG 16, insbesondere auf Grundrechte, Unabhängigkeit der Justiz und Korruptionsbekämpfung. Zudem legte das Belarussische Helsinki-Komitee einen eigenen Schattenbericht vor, in dem alle Indikatoren des SDG 16 systematisch analysiert werden.

Die Idee, einen Alternativbericht zu erstellen, wurde im Vorfeld im Kreis der unabhängigen zivilgesellschaftlichen Akteure, die nach 2020 aus der nationalen Nachhaltigkeitsarchitektur ausgeschlossen waren, kritisch diskutiert. Dabei sahen die einen in der Kooperation mit dem Büro von Swjatlana Tichanouskaja die Chance, mehr Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu erhalten. Andere sprachen sich hingegen gegen jegliche politische Affiliation sowie für eigenständige zivilgesellschaftliche Monitoringberichte aus. Diese sollten die zivilgesellschaftliche Expertise und die zivilgesellschaftlichen Beiträge zur Agenda 2030 in den Vordergrund stellen. Bei letzterem Ansatz schwang auch die Hoffnung mit, noch Nischen für eigenes zivilgesellschaftliches Engagement in Belarus erhalten und die Agenda 2030 als Plattform für die Rückkehr zu einem konstruktiven Dialog mit staatlichen Akteuren nutzen zu können.

Die Rolle der Vereinten Nationen

Durch die Präsentation der Alternativberichte gelang es zwar, beim HLPF Gegenakzente zur offiziellen Berichterstattung zu setzen und politische Kontakte der beteiligten Akteure zu verbessern. Gleichzeitig vermochten sie in der Sache nur wenig zu bewirken. Denn aufgrund des staatszentrierten Charakters der Agenda 2030 können die UN-Organisationen unabhängige zivilgesellschaftliche Akteure kaum gegen den Widerstand einer nationalen Regierung unterstützen. Dementsprechend können sie auch nicht die Einhaltung der Empfehlungen der UN-Menschenrechtsausschüsse, welche die belarussische Führung ignoriert, zu einer zentralen Grundlage für die Bewertung von Fortschritten bei der Umsetzung der Agenda 2030 machen. Trotz der massiven politischen Repressionen ist das Rating von Belarus im Internationalen SDG-Index daher mit Rang 34 weiterhin hoch. Die positive Bewertung der Agenda 2030-Politik wird dementsprechend auch in den belarussischen Staatsmedien aktiv genutzt, um die einheimische Bevölkerung von der weiterhin erfolgreichen Entwicklung des Landes zu überzeugen. Besonders deutlich zeigte sich dies in der Talkshow »Ekonomicheskaja sreda« (Wirtschaftsmilieu) am 4. Oktober 2023, in welcher der Nationale Koordinator und die Leiterin des Statistikamts die Erfolge der belarussischen Agenda 2030-Politik ausführlich darstellten.

Die UN-Büros in Belarus sind unmittelbar an die Zustimmung der örtlichen Regierung zu ihrer Tätigkeit gebunden und haben explizit das Mandat die entwicklungspolitische Agenda der Staatsorgane zu unterstützen. Bis 2020 konnte die UN auf dieser Grundlage auch die Arbeit der Partnergruppe im Rahmen ihres Projekts zur Unterstützung der Arbeit der Nationalen Nachhaltigkeitsarchitektur unterstützen. Seit Beginn der politischen Krise wies die UN-Länderkoordinatorin in Belarus Joanna Kazana-Wisniowiecki bei vielen Gelegenheiten zwar in diplomatischer Weise darauf hin, wie wichtig die Kooperation mit unabhängigen NRO für die Zielerreichung der Agenda 2030 sei und wie negativ sich das Verbot zahlreicher NRO hierauf auswirke. Ihr Mandat erlaubte jedoch keine direkten Maßnahmen zur Unterstützung der ehemaligen Koordinator:innen der Partnergruppe.

Hinzu kommt, dass seit dem weitgehenden Rückzug westlicher Geber aus Belarus die UN-Organisationen de facto die einzigen vor Ort präsenten internationalen Organisationen sind und ihre Projektfinanzierungen vor allem aus Russland erhalten. 2023 unterstützte Russland insgesamt sechs UN-Projekte in Belarus. Hierzu gehört das mit 3,5 Mio. US-Dollar ausgestattete Projekt »Unterstützung der Anstrengungen der Republik Belarus zur Nationalisierung und Lokalisierung der Agenda 2030«, dessen Umsetzung 2023 begann. Dies gleicht aus Sicht des belarussischen Staatsapparats den Wegfall westlicher Förderprogramme vollständig aus. Hierzu zählt auch das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von Juni 2019 bis Mai 2023 finanzierte Projekt »Institutionelle Integration der Agenda 2030 in Belarus und anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft«. Die russische Förderung hat zudem den Vorteil, dass sie im Unterschied zu vielen westlichen Programmen nicht die Einbeziehung unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure zur Voraussetzung hat.

Geopolitik und Agenda 2030

Im Laufe des Jahres 2023 hat sich die gegen den Westen gerichtete konfrontative Rhetorik belarussischer staatlicher Akteure weiter verschärft. Die Agenda 2030-Politik wird dabei integriert in das außenpolitische Interesse des Lukaschenka-Regimes am Aufbau einer multipolaren Weltordnung mitzuwirken und die Kooperationen mit Staaten des Globalen Südens auszubauen. Die Kritik an den westlichen Sanktionen wird dementsprechend mit Kritik am westlichen Kolonialismus kombiniert. So schrieb Staatschef Lukaschenka in seinem Antwortschreiben auf die Einladung von UN-Generalsekretär Guterres zum SDG-Summit im September 2023, dass die westlichen Sanktionen die globale Ernährungssicherheit untergraben. Bei der Klimakonferenz in Dubai, auf der sich Lukaschenka Anfang Dezember 2023 mit mehreren afrikanischen Staatschefs traf, betonte er, man könne nicht politische Gegner mit Wirtschaftssanktionen belegen und gleichzeitig ihre Beteiligung an kostspieligen klimapolitischen Entscheidungen fordern. Gleiches gelte für Länder und Völker, die sich noch nicht von der kolonialen Unterdrückung erholt haben.

Die Agenda 2030 bietet damit trotz ihrer übergeordneten globalen Ziele derzeit keine erkennbaren Ansatzpunkte, über die sich Wege zur Überwindung der politischen Krise in Belarus finden ließen. Stattdessen trägt ihre Politisierung dazu bei, die bestehenden Gräben zwischen den unterschiedlichen Konfliktparteien zu vertiefen. Ob sich dies zukünftig ändern kann, hängt einerseits davon ab, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Gaza-Krieg die internationale Weltordnung verändern. Andererseits müsste sich bei staatlichen Akteuren in Belarus angesichts zunehmender Entwicklungsprobleme die Einsicht durchsetzen, dass diese mit Repressionen und dem Ausschluss wesentlicher Teile der Gesellschaft nicht gelöst werden können.

Manuskript abgeschlossen im Dezember 2023

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