Belarus-Analysen

Ausgabe 77 (07.02.2025), S. 2–4

Wahlen ohne Auswahl: Wie sich ein Verfahren zu einem Ritual verwandelte

Von Roza Turarbekava (Historikerin aus Belarus)

Der internationale Kontext und die politische Situation in Belarus 2024

2024 ist der internationale Kontext und die Lage der regionalen Sicherheit weiterhin instabil geblieben. Die Situation an der Front in der Ukraine ist folgende: Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert und der Durchbruch der russischen Truppen im Südosten sorgen wie auch die anhaltende Bedrohung für Charkiw für zunehmenden Pessimismus hinsichtlich eines möglichen Sieges von Kyjiw über Moskau.

Folglich ist auf den verschiedenen internationalen Plattformen immer häufiger und hartnäckiger von einem Waffenstillstand und einem Friedensschluss die Rede. Die Ukraine ist zu einem wichtigen Thema in den Wahlkämpfen in Europa und den USA geworden. Politische Parteien, die sich offen für ein Ende der Hilfe für die Ukraine einsetzen, gewinnen immer mehr Unterstützung. Das wichtigste und entscheidende Ereignis waren die Präsidentschaftswahlen in den USA. Der überzeugende Sieg der Republikaner im Repräsentantenhaus und im Senat wie auch des Teams von Donald Trump beim Rennen ums Weiße Haus haben die Situation erheblich verändert.

Für Lukaschenka war das Jahr 2024 trotz der offensichtlichen militärischen Erfolge des russischen Verbündeten ein schwieriges. Hier ist eine Reihe von Aspekten zu beachten. Der erste Aspekt hängt mit der zunehmenden Abhängigkeit von Russland in den Bereichen Wirtschaft, Handel, Militär und Politik zusammen. Vorläufigen Berechnungen zufolge dürfte 2024 über die Hälfte des belarusischen Außenhandels auf Russland entfallen. Belarus ist zum viertwichtigsten Handelspartner Russlands geworden. Russland hat seine Investitionen in die belarusische Wirtschaft erheblich ausgeweitet, was wohl in erster Linie auf Rüstungsaufträge zurückzuführen ist. Viele belarusische Unternehmen produzieren jetzt nach Angaben oppositioneller Organisationen wie Belpol Waffen und Militärtechnik schlichtweg für den russischen Feldzug in der Ukraine.

Auch der zweite Aspekt hängt mit dem Krieg gegen die Ukraine zusammen, wo das Risiko, in den militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, bestehen bleibt. Am Himmel über Belarus tauchen ständig russische Kampfdrohnen auf. Im Zusammenhang mit dem ukrainischen Vorstoß auf das russische Gebiet Kursk stellte sich für Belarus die Frage eines möglichen Bündnisfalls zur »Verteidigung« Russlands, der sich aus der Militärdoktrin des Unionsstaates von Russland und Belarus und des neu ausgearbeiteten Vertrags über Sicherheitsgarantien ergeben würde, der den Begriff eines »einheitlichen Verteidigungsraumes« eingeführt wurde.

Der dritte Aspekt ist auf internationaler Ebene die eingeschränkte Legitimität von Lukaschenka. Das verbaut die Möglichkeit eines politischen Dialogs mit dem Westen, durch den die infrastrukturelle Blockade gelöst, die Sanktionen gelockert und wieder vollwertige diplomatische Beziehungen hergestellt werden könnten. Alle drei Aspekte machen die internationale Lage des Lukaschenka-Regimes und insgesamt von Belarus äußerst schwierig.

Die innenpolitische Situation in Belarus bleibt wegen des eingeschlagenen Kurses in Richtung massenhafter politischer Repressionen, eines verstärkten Autoritarismus, durch ein Verbots oppositioneller Parteien, unabhängiger Medien, von Menschenrechtsorganisationen und eine Gängelung der Zivilgesellschaft insgesamt weiterhin schwierig und bedrückend. Die Proteste von 2020 haben Lukaschenka dazu gebracht, das politische Regime maximal zu verschärfen, um jedwede abweichende Meinung zu unterdrücken. Das sind die Bedingungen, unter denen eine weitere Amtszeit Lukaschenkas zu Ende geht.

Wie Lukaschenka bei den Wahlen nicht antreten wollte, es dann aber dennoch tat

Seit 2021 erörtern Beobachter*innen und Expert*innen einen möglichen Wechsel an der Spitze der Macht, also einen allmählichen Rückzug Lukaschenkas. Damit wurden in erster Linie die Verfassungsänderungen von 2022 in Verbindung gebracht, durch die die Stellung der »Allbelarusischen Volksversammlung« gestärkt wurde und deren Vorsitzende*r einen erheblichen Teil der Macht erhielt. Lukaschenka beförderte diese Diskussion durch widersprüchliche Statements, die er im ersten Halbjahr 2024 abgab. Es war allerdings auch klar, dass hinter dieser Inszenierung einer möglichen Machtübergabe nichts Reales steckte. Recht spät erst, am 23. Oktober 2024 erklärte Lukaschenka seine Absicht, bei den Wahlen anzutreten; als Wahltermin wurde der 26. Januar 2025 festgelegt. Dadurch blieb nur rund ein Monat für die Nominierung der Kandidat*innen und die Sammlung der Unterschriften. Es gab unterschiedliche Vermutungen, warum gerade dieser Wahltermin gewählt wurde. Zum Teil könnte es auf das Datum der Amtseinführung von Donald Trump zurückzuführen sein. Schließlich steht Lukaschenka vor zwei Aufgaben: Einerseits muss er vermeiden, dass es nach seiner Wahl eine Welle der Kritik gibt; zweitens will er unter neuen internationalen Bedingungen »ganz neu anfangen«.

Die Nominierung der Präsidentschaftskandidaten ging unter strenger Kontrolle der Behörden vonstatten. Die Versuche der demokratischen Opposition im Exil, Juryj Hubarewitsch als Kandidaten aufzustellen, scheiterten. Die Zentrale Wahlkommission verweigerte die Entgegennahme der Unterlagen, was die Sterilität des gesamten Wahlvorgangs noch deutlicher machte.

Letztendlich wurden formal vier Mitbewerber registriert, die zwar ihre Programme vorstellten, aber praktisch keinerlei Straßenwahlkampf führten. Die ehemals oppositionelle Politikerin Hanna Kanapazkaja umriss sogar bei der Präsentation ihres Programms die wichtigsten politischen Probleme im Land: die Repressionen, die politischen Gefangenen, der mögliche Verlust der Unabhängigkeit. Darüber hinaus beurteilt sie die Opposition im Exil sehr hart.

Einer der anrüchigsten Kandidaten war Sjarhej Syrankou, der Vertreter der »Kommunistischen Partei von Belarus«. Der rief dazu auf, für seinen »Konkurrenten« Lukaschenka zu stimmen, und zwar ohne dabei formal seine eigene Kandidatur niederzulegen. Er machte damit deutlich, dass diese Wahlen eine reine Farce sind. Und er legt traditionell eine antiwestliche Haltung an den Tag, wobei er Begriffe wie »Sanktionsaggression« verwendet. Gleichzeitig unterstützt er Russland vollkommen bei dessen Krieg gegen die Ukraine. Auch ruft er dazu auf, sexuelle Minderheiten zu bekämpfen und die präsidiale Republik zu stärken.

Aljaksandr Chischnjak ist der Vertreter der »Republikanischen Partei der Arbeit und Gerechtigkeit«. Er wartete mit traditionellen sozialen Forderungen auf: Anhebung des Mindestlohnes, Ausweitung der Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Ältere und für Menschen mit Behinderungen. Ein beträchtlicher Teil des Programms ist dem Militär und den Sicherheitsbehörden gewidmet: Stärkung der Territorialverteidigung, erhöhte Qualität der Ausbildung der Reservisten und der Bevölkerung, Stärkung des Innenministeriums. Er hat das Vorgehen Lukaschenkas in keiner Weise bewertet. Bei den Fernsehdebatten nutzte er von den 30 Minuten nur zehn.

Aleh Hajdukewitsch, der Anführer der »Liberal-Demokratischen Partei von Belarus«, erwähnte oft 2020, als er sich gegen die Demonstrationen wandte. Konsequenterweise sprach er sich für gesetzliche Beschränkungen für »Verräter« aus (damit sind jene Politiker*innen und Beamt*innen gemeint, die sich 2020 an den Protesten beteiligten). Er hält das Bündnis mit Russland für ein Mittel zur Stärkung der Souveränität. Diese These zeigt die tatsächliche Verbindung zwischen den beiden Liberal-Demokratischen Parteien in Belarus und in Russland.

Das Wahlprogramm von Aljaksandr Lukaschenka enthält Überlegungen zur Geopolitik und entsprechend eine Orientierung nach Osten: strategische Partnerschaft mit China und Russland bei einer Normalisierung der Beziehungen zum Westen. Er leugnet kategorisch seine Beteiligung an dem Krieg gegen die Ukraine, spricht sich für einen formalen Dialog mit der Gesellschaft, für die Entwicklung neuer Technologien, die Stärkung der Sozialpolitik und bezahlbaren Wohnraum aus. Kein Wort zum Weggang der Bevölkerung aus dem Land, den politischen Gefangenen, den Repressionen.

Der Wahlkampf fand unter verschärften Repressionen statt; erneut wurden Verwandte von politischen Gefangenen und verbliebene Aktivist:innen evakuiert. Seit November 2024 wird die Bevölkerung massenhaft eingeschüchtert. Dabei wurden die Menschen genötigt, sich an regierungsfreundlichen Flashmobs zur Unterstützung von Lukaschenka zu beteiligen. Diese wurden demonstrativ von allen Bildungseinrichtungen, Staatsunternehmen, Forschungsinstituten und staatlichen Einrichtungen veranstaltet. Erneut war die Blockierung oder Verlangsamung des Internet und sogar der VPN-Dienste ein wichtiges Instrument, mit dem die Rechte der Bürger:innen während des Wahlkampfes eingeschränkt wurden.

Zu den Ereignissen, die 2024 und Anfang 2025 mit am meisten diskutiert wurden, war die Begnadigung kleinerer Gruppen von politischen Gefangenen. In der Zeit vom Sommer 2024 bis zum Januar 2025 sind insgesamt über 200 Menschen freigelassen worden. Das Problem ist aber, dass dies keineswegs ein Ende der Repressionen bedeutete. Im Gegenteil: Diese hatten die gesamte Zeit über die gleiche Intensität und wurden von November 2024 bis Januar 2025 im Kontext des Wahlkampfes sogar verstärkt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation »Wjasna« gibt es, Stand heute, immer noch über 1.200 politische Gefangene im Land.

Die Begnadigungen sorgen bei einigen Oppositionspolitiker*innen und Beobachter*innen für Hoffnungen auf einen Kurswechsel. Zum weiteren strategischen Vorgehen gehen bei der Opposition im Exil die Meinungen auseinander. Die einen mit Swjatlana Zichanouskaja an der Spitze sprechen sich für eine Fortführung des Drucks auf das Regime und eine Verschärfung der Sanktionspolitik aus. Andere, zum Beispiel Tazzjana Chomitsch, Waleryj Kawaleŭski, Wolha Horbunowa, treten für eine Abmilderung der konfrontativen Rhetorik und für Versuche ein, einen Dialog mit Lukaschenka zu beginnen. Möglicherweise könnten die Sanktionen im Austausch für eine Freilassung von politischen Gefangenen abgeschwächt werden.

Was ist nach den Präsidentschafts-»Wahlen« zu erwarten? Neben dem Umstand, dass die Ergebnisse der »Wahlen« von den westlichen Partnern wohl nicht anerkennt werden, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach eine Fortführung der repressiven Politik geben. Einige Beobachter*innen sind der Ansicht, dass die Repressionen schwächer werden könnten; auch könnten sie weniger massenhaft und punktueller ausfallen. Es gibt eine Diskussion zu einer möglichen Beteiligung Lukaschenkas an Friedensverhandlungen mit der Ukraine. Insgesamt erscheint die Zukunft von Belarus angesichts der zunehmenden Abhängigkeit von Russland und des schrittweisen Verlusts der Souveränität im Rahmen des Unionsstaates äußerst ungewiss.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Zum Weiterlesen

Analyse

Normative Legitimität des Lukaschenka-Regimes in den 2010er Jahren und ihre Bedeutung für die Gegenwart

Von Mikita Merzlou
In Belarus gibt es derzeit die folgende Konstellation der drei wichtigsten Faktoren für die innere Stabilität des autoritären Regimes. Während Lukaschenka seine Macht durch einen starken Repressionsapparat und loyale Eliten absichert, leidet seine Anerkennung (Legitimität) bei den Bürger:innen. Die in den 2010er Jahren erhobenen und auf Belarus bezogenen Umfragedaten zeigen, dass demokratische Überzeugungen in der belarusischen Bevölkerung bereits im letzten Jahrzehnt vorherrschten und darüber hinaus in diesem Zeitraum leicht zugenommen haben. Dieser Zustand und diese Entwicklung können als notwendige Bedingung für die Proteste gegen Lukaschenka nach der gefälschten Präsidentschaftswahl von 2020 angesehen werden. Diese Haltungen können aufrechterhalten werden, wenn der Westen in den 2020er Jahren seine weltanschauliche Anziehungskraft für die belarusische Gesellschaft nicht verliert.
Zum Artikel
Analyse

Telegram als Instrument zum Weißwaschen und zur Legitimierung des Regimes in Belarus

Von Alesia Rudnik
Im Sommer 2020 erlebte das Regime in Belarus, eine beispiellose Herausforderung seiner Macht. Im ganzen Land kam es als Reaktion auf die gefälschten Präsidentschaftswahlen und die Polizeigewalt gegen Protestierende zu großen Demonstrationen. Das Regime reagierte mit einer Zensur von Medien und Internetportalen. Gleichzeitig erweiterte das Regime sein Repertoire, indem auf Technologien zurückgegriffen wurde, wobei ein raffiniertes System zum Einsatz kommt, mit dem das Internet unter Kontrolle gebracht oder abgeschaltet werden kann. Daneben wurde ein Netzwerk von regierungsfreundlichen Telegram-Kanälen errichtet, die Falschinformationen über Oppositionsführer:innen verbreiten. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS