Einleitung
Die jüngsten Maßnahmen der russischen Regierung gegenüber Lukaschenkos Regime erwecken den Eindruck, dass es Moskau auf ein angespanntes Verhältnis mit Minsk anlegt. Der harte Kurs Russlands war bereits zum Jahresanfang erkennbar, als sich Belarus mit den neuen Zollbarrieren für russisches Erdöl einverstanden erklären musste und das trotz der bestehenden Zollunion. Lukaschenkos Bemühungen, mit Gegendruck zu reagieren – durch Verzögerungen der Ratifizierung eines gemeinsamen Zollgesetzes zur Etablierung einer Zollunion mit Russland und Kasachstan sowie durch einen Erdölliefervertrag mit Venezuelas Präsidenten Hugo Chavez –, änderte nichts an der Haltung der russischen Führung. Einige Wochen vor dem geplanten Beginn der Zollunion drohte der russische Ministerpräsident Wladimir Putin, den GUS-Bereich ohne Belarus zu integrieren. Druck auf Lukaschenko sollte im Vorfeld der geplanten Unterzeichnung der Zollunion auch die seitens Russlands provozierte Gaskrise ausüben. Unter Verweis auf die Schulden von Belarus entschied der russische Energiekonzern Gazprom im Juni, seine Gaslieferungen einzuschränken. Der Konflikt wurde jedoch ziemlich rasch beendet, als sich zeigte, dass auch die russische Seite gegenüber ihren Geschäftspartnern in Belarus Außenstände hatte.
Russischer Druck
Die Situation eskalierte, als das russische staatliche Fernsehen einen mehrteiligen Dokumentarfilm ausstrahlte, in dem die Person von Alexander Lukaschenko in einem negativen Licht dargestellt wurde. Der Präsident von Belarus erschien dort als ein die absolute Macht anstrebender Psychopath, der zahlreiche Geliebte und zwei uneheliche Kinder hat, sich mit korrupten Leuten umgibt und für zahlreiche politische Morde verantwortlich zeichnet. Als Antwort auf die russische Kampagne sendete das staatliche Fernsehen in Belarus ein Interview mit Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili, in dem umfangreiche Anklagen gegen die russischen Machthaber erhoben wurden. Dazu veröffentlichte die Regierungszeitung von Belarus Auszüge eines Berichtes russischer Dissidenten, der die gegenwärtige russische Regierung kritisierte.
Kritik an der Person Lukaschenkos äußerte auch der russische Präsident Dmitri Medwedew. Anfang Oktober warf er ihm antirussische Rhetorik und das Nichteinhalten von Zusagen vor, zugleich aber erklärte er die russische Bereitschaft, das strategische Bündnis mit Belarus aufrechtzuerhalten. Medwedew erinnerte auch daran, dass Lukaschenko bei dem Gipfeltreffen der GUS von der baldigen Anerkennung der Unabhängigkeit von Abchasien und Ossetien gesprochen habe, zu der es aber bis heute nicht gekommen sei. Die Aussagen Medwedews in seinem Videoblog erinnerten an frühere Statements vor den Präsidentenwahlen in der Ukraine. Der russische Präsident kritisierte damals Wiktor Juschtschenko und sein Streben nach Wiederwahl und drohte bis zur Bildung einer neuen Regierung (in den Umfragen führten damals Wiktor Janukowytsch und Julia Timoschenko), die Kontakte zur ukrainischen Präsidialverwaltung abzubrechen.
Die harte, manchmal auch provokative Politik Russlands gegenüber Belarus lässt über die politische Motivation des Kremls nachdenken. Ist es Russlands Absicht, vor den Präsidentenwahlen in Belarus am 19. Dezember 2010 Lukaschenko unter Druck zu setzen, um ihn zu politischen (z. B. Anerkennung Abchasiens und Nordossetiens) oder wirtschaftlichen (z. B. Übernahme der Aktienmehrheit der Raffinerie in Nowopolozk) Zugeständnissen zu drängen? Oder geht es um seine Entfernung von der Macht?
Moskaus Motive
Die Folgen der Weltwirtschaftskrise waren für Russland schmerzhaft. Der Absturz der Erdölpreise im Herbst 2008 verursachte einen Exportrückgang und den Abzug ausländischen Kapitals. Nach Jahren guter Konjunktur brach das russische Bruttoinlandsprodukt um mehr als acht Prozent ein. Um das Haushaltsdefizit zu decken, sah sich die Regierung gezwungen, nicht nur die vorher eingesparten Überschüsse anzugreifen, sondern auch die staatlichen Auslandsschulden zu vergrößern. Die globale Krise hatte auch einen negativen Einfluss auf die bereits hoch verschuldeten russischen Unternehmen.
Selbst die Stabilisierung der Erdölpreise gegen Ende 2008 hat diesbezügliche Sorgen nicht ganz zerstreut. Im Zusammenhang mit dem Rückgang des Gasverbrauchs und dem durch die shale-gas-Produktion in den USA ausgelösten Überangebot, verzeichnete der russische Erdgaskonzern Gazprom rückläufige Einnahmen. Die Gasförderung fiel von 550 Mrd. m³ auf 462 Mrd. m³ und der Export nach Europa verringerte sich von 165 Mrd. m³ auf 153 Mrd. m³. Da Gazprom auf das wachsende Angebot von Flüssiggas auf dem Spotmarkt auch nicht mit einer flexiblen Preispolitik reagierte, verlieren die russischen Erdgaslieferungen innerhalb der EU Marktanteile.
Die seit zwei Jahren andauernde schwierige Wirtschaftslage führte dazu, dass sich der Kreml bei Vorzugsbedingungen für Rohstofflieferungen an seine nahen Verbündeten immer vorsichtiger verhielt. Der Kapitalmangel lenkte das Interesse der russischen Machthaber von geopolitischen auf wirtschaftliche Aspekte um, was sich im Entwurf zu einer neuen Doktrin der russischen Auslandspolitik niederschlug, die in der russischen »Newsweek« im Mai 2010 veröffentlicht wurde. Das Dokuments, das die Staatsmacht absichtlich in die Presse hatte durchsickern lassen, sollte signalisieren, dass Russland sich von nun an mehr durch ökonomische denn durch geostrategische Motive lenken lassen wolle. Eine Bestätigung dieser Strategie gab Außenminister Sergei Lawrow in seiner Rede zur Eröffnung des akademischen Jahrs am Moskauer Staatliches Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO), in der er erklärte, dass sich die Ziele russischer Außenpolitik nach den Wirtschaftinteressen des Staates richten müssen. Zum gleichen Zeitpunkt verkündete der Gazprom-Finanzvorstand Andrei Kruglow, dass der Gaspreis für Belarus, Moldawien und Armenien ab dem nächsten Jahr auf das sog. europäische Niveau ansteigen wird, d. h. das jegliche Subventionierung entfällt.
Dank seiner geografischen Lage spielte Belarus seit vielen Jahren eine wichtige Rolle in der russischen Außenpolitik. Neben seiner Funktion als Schutzwand für das westrussische Grenzgebiet nahm es eine Schlüsselposition im Export von russischen Energierohstoffen ein, da zentrale Transitpipelines durch das Land laufen. Die Ostsee-Pipeline für Erdgas sowie die Erdölpipeline BTS 2 wird Russland aber schon bald eine Belieferung des EU-Marktes unter Umgehung von Belarus (und auch der Ukraine) ermöglichen. Damit wird Belarus zu einem einfachen Abnehmer für russisches Erdöl und Erdgas wie die restlichen Länder Mitteleuropas und damit seine privilegierte Stellung einbüßen.
Der über Jahre andauernde Import billiger russischer Rohstoffe führte dazu, dass Belarus energieintensive Produktionstechniken verwandte und verschwenderisch mit Energie umging. Für Russland wird es deshalb wichtig sein, nicht zuzulassen, dass sich Belarus nach anderen Energiequellen umsieht, sondern sich durch die Übernahme weiterer Energieunternehmen in Belarus einen privilegierten Zugang zum benachbarten Exportmarkt zu sichern. Raffinerien und Stromproduzenten in Belarus können für das über billige Rohstoffe verfügende Russland sehr attraktiv sein, umso mehr, da sie sich in größerer Nähe zum EU-Markt befinden.
Die Antwort aus Minsk
Lukaschenko ist sich darüber im Klaren, dass die Öffnung des Energiesektors für russisches Kapital für ihn einen Machtverlust bedeuten kann. Die zwei größten vom Staat kontrollierten Raffinerien in Mosyr und Nowopolozk unterstützen die ertragsschwachen Wirtschaftssektoren des Landes und billige russische Erdgaslieferungen sind die Hauptenergiequelle für die Industrie. Russische Preiserhöhungen stellen deshalb die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus in Frage. In Reaktion auf russischen Druck wurde in Belarus ein Plan zum Abbau der Abhängigkeit von russischen Rohstoffen entwickelt.
Entgegen der Skepsis vieler Ökonomen, die die Möglichkeit einer Diversifizierung der Energieversorgung von Belarus anzweifelten, bezieht das Land schon seit Mai 2010 Erdöl aus Venezuela. Darüber hinaus werden Lieferverhandlungen mit dem Iran und Kasachstan geführt. Die Regierung von Belarus verhandelt auch mit Litauen über die Bedingungen des Baus und Betriebs eines gemeinsamen Terminals für Flüssiggas an der Ostsee, an dem Gas aus der ganzen Welt angeliefert werden kann. Es sei betont, dass in der Zeit der Finanzkrise Belarus nicht nur von Russland unterstützt wurde. Die weißrussische Verschuldung, die zurzeit 9,5 Milliarden Dollar beträgt, wird auch durch China, Venezuela, die Weltbank und den IWF gedeckt. Die Regierung in Minsk setzt große Hoffnung auf die gerade angeschobenen chinesischen Investitionsprogramme in Höhe von über 10 Milliarden Dollar. Zudem wurde eine allmähliche Wirtschaftsliberalisierung begonnen, die westliche Investoren anziehen soll.
Lukaschenkos Politik fängt an, Russlands politischen und wirtschaftlichen Interessen zu schaden. Sogar die von Russland mit Nachdruck angestrebte Einrichtung einer Zollunion verspricht keine Erfolge in Form vermehrter ausländischer Investitionen, die normalerweise zu dem größten Staat des Unionsgebiets strömen. Die Zollunion sowie die stockenden Verhandlungen um den Beitritt von Belarus zur Welthandelsorganisation (WTO) wirken sich auch negativ auf die russische Mitgliedsperspektive aus.
Gleichzeitig, nach dem Wahlsieg von Janukowytsch in der Ukraine, baut Russland seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss am Dnjepr wieder auf. Zum Zeitpunkt der letzten russisch-belarussischen Gaskrise bot Präsident Janukowytsch Moskau die Nutzung der ukrainischen Infrastruktur sowie die Übernahme von Gaslieferungen an die EU-Staaten an, die früher über das weißrussische Netz befördert wurden. Auch in der Frage der Erdöllieferung von Venezuela nach Belarus über den Hafen in Odessa betreiben die Machthaber in Kiew eine russlandloyale Politik: Anstelle der Nutzung ihrer Pipeline bieten sie Belarus den viel teureren Bahntransport an.
Wechsel des Szenarios
Die Verschärfung der russischen Politik gegenüber Belarus erscheint als typische Strategie, um Lukaschenkos Regime vor den Präsidentschaftswahlen schwächen und zu Konzessionen zu zwingen. Lukaschenko, der auf Unterstützung von außen angewiesen ist, neigte bisher in solchen Fällen dazu, Moskau sowohl politisch als auch wirtschaftlich Konzessionen zu machen.
Seit vielen Jahren ist er sich darüber im Klaren, dass seine Person für Russland den bestmöglichen Garanten dafür darstellt, dass sein Land außerhalb der euroatlantischen Strukturen bleibt – aufgrund seiner undemokratischen Machtausübung. Die westlichen Staaten, die von dieser doppelten Abhängigkeit wohl wussten, versuchten deshalb nicht, die Krise zwischen Russland und Belarus zur Stärkung ihres politischen Einflusses zu nutzen. Sie nahmen an, dass ihre Einmischung die Zementierung der autoritären Machtausübung begünstigt und damit die Chancen eines Demokratisierungsprozesses in Belarus mindert.
Die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen sowie der Verzicht von EU und NATO auf eine rasche Ausweitung führen zu der Annahme, dass Lukaschenko als Garant für den russischen Einfluss auf Belarus nicht mehr notwendig ist. Mehr noch, seine emanzipatorische Politik scheint den russischen Interessen immer stärker zuwiderzulaufen. Die Entwicklung gemeinsamer politischer und wirtschaftlicher Interessen mit der Ukraine dagegen überzeugt die Kremlführung, dass sie ihre eigenen Interessen auch sichern kann, ohne autoritäre Regime unterstützen zu müssen. Im Fall von Belarus ist eine derartige Annahme besonders realistisch, da sich Russland mit diesem Land auf kultureller und sozialer Ebene stark verbunden fühlt. Es scheint also immer wahrscheinlicher, dass eine Entmachtung Lukaschenkos für Russland keine Bedrohung, sondern eine Chance für die Stärkung des eigenen politischen und wirtschaftlichen Einflusses in Belarus darstellt.
Die Unterstützung der »letzten Diktatur in Europa« lohnt sich für Russland nicht mehr. Im Fall einer Wahlfälschung in Belarus könnten sowohl Russland als auch der Westen ihre Anerkennung für das Ergebnis der Präsidentenwahlen verweigern. Möglich scheint auch, dass sich ein Teil der Eliten von Belarus, zu denen die sogenannten Technokraten rund um den Ministerpräsidenten Sjarhej Sidorski gehören, vom Kreml überzeugen lässt, dass Belarus ohne Lukaschenko Vorteile aus der verbesserten Zusammenarbeit mit Russland ziehen kann. Umso mehr, da zum Jahresanfang, das heißt gleich nach den Wahlen, eine Preiserhöhung für russische Erdöl- und Erdgaslieferungen ansteht.
Die mögliche politische Destabilisierung in Belarus, die aus der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses und möglichen Protestaktionen der Opposition erwachsen könnte, wird nach einer entsprechenden Reaktion der EU verlangen. Die EU, die aus der Erfahrung mit den Gesprächen am Runden Tisch im Kontext der »Orangenen Revolution« in der Ukraine Konsequenzen gezogen hat, sollte dieses Mal einstimmig auftreten und schnell auf die instabile politische Situation reagieren. Schon bald kann sich Belarus als ein Test für die auswärtige Politik der EU erweisen – für die außen- und sicherheitspolitischen Vertreter der EU mit Catherine Ashton an der Spitze und für den im November eingesetzten neuen EU-Botschafter.
Die Erfahrung der »Orangenen Revolution« zeigt, dass die Unterstützung einer demokratischen Opposition, die eine Integration mit dem Westen ankündigt, nicht unbedingt auf direktem Weg zur Mitgliedschaft in der EU oder NATO führen muss. Im Fall einer politischen Veränderung in Belarus sollte man sich auf die Modernisierung des Landes und die Weiterführung der konditionalen Politik konzentrieren, die EU-Finanzhilfen und weitere damit zusammenhängende Unterstützungsmaßnahmen an die Effektivität koppelt, mit der notwendige soziale und wirtschaftliche Reformen durchgeführt werden. Nur eine gut funktionierende Demokratie und freie Marktwirtschaft können eine Stabilisierung an der Ostgrenze der EU garantieren.
Übersetzung aus dem Polnischen: Joanna Rzepa