Einführung
In den letzten drei Jahren sind in der Russischen Föderation eine Reihe wichtiger Dokumente zur nationalen Sicherheit verabschiedet worden: 2008 das außenpolitische Konzept, 2009 das Sicherheitskonzept und 2010 die Militärdoktrin. Hinzu kommt der Entwurf eines Vertrages zur euroatlantischen Sicherheit im Jahr 2009, vorgelegt von Präsident Dmitrij Medwedew.
Letzterer wurde von den Staaten der EU und den USA mit sehr großem Vorbehalt aufgenommen. Zu wenig Konkretes auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Sorge, dass Russland mit dem Vorschlag einer neuen Sicherheitsstruktur von West-Kanada bis Fernost-Russland nur die Nato schwächen wolle. Nicht neue Bündnisse brauche die Welt, so die Antwort der westlichen Länder, sondern die bessere Nutzung der bereits bestehenden.
So unternahm die NATO in den vergangenen zwei Jahren, seit dem georgisch-russischen Krieg im August 2008, große Anstrengungen, um das Bündnis so auszurichten, dass Russland enger eingebunden werden kann. Das gipfelte im November 2010 in der Einladung des russischen Präsidenten nach Lissabon zur Vorstellung der neuen Nato-Strategie und dem Vorschlag über die Beteiligung Russlands an einer gemeinsamen Raketenabwehr gegen Bedrohungen von Staaten wie zum Beispiel dem Iran.
Tatsächlich ist in den vergangenen zwei Jahren eine bemerkenswerte Wandlung der russischen Außenpolitik zu beobachten. War das Land in den letzten Jahren der Präsidentschaft von Wladimir Putin international ins Abseits geraten, so trat es unter Präsident Medwedew in einen aktiven Dialog ein. Sogar Kritiker des Kremls sprechen von einem außenpolitischen Tauwetter, in Anlehnung an die kurze Reformperiode in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter dem sowjetischen Generalsekretär Nikita Chruschtschow.
Die Umfrage
Doch wie werden diese Veränderungen von der außen- und sicherheitspolitischen Elite in Russland selbst wahrgenommen und bewertet? Welche politischen Herausforderungen werden als Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen, wer ist die Gefahrenquelle und welches sind die Institutionen, die für Sicherheit sorgen werden? Oder sind die Bedrohungen heute vergleichbar mit denen der Sowjetunion in der Zeit des Kalten Krieges?
Um die genannten Fragen zu beantworten, hat das Soziologische Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau eine Studie durchgeführt. Sie basiert auf der Befragung von 131 Experten, Meinungsmachern und hochrangigen Beamten aus 33 Städten der russischen Föderation, die sich in ihrer praktischen Arbeit mit Fragen der nationalen Sicherheit beschäftigen. Die Studie erhebt nicht den Anspruch repräsentativ zu sein. Gleichwohl ermöglicht sie einen Einblick in die Befindlichkeit der neben den USA potentesten Atommacht der Welt, die sich auch nach 20 Jahren Transformation in großer Unruhe ob ihrer sicherheitspolitischen Rolle in der Welt befindet.
Die Ausgangslage
Gut ein Viertel der sicherheitspolitischen Elite bewertet die nationale Sicherheit als niedrig (24 %) oder sehr niedrig (3 %), geht also von einer starken Bedrohung aus. Hinzu kommt ein gutes Drittel, das immer noch ein erhöhtes Risiko erkennt. Ein weiteres Drittel bewertet die Sicherheitslage als mittelmäßig, nur 8 % glauben an ein niedriges Sicherheitsrisiko. Mit anderen Worten, knapp zwei Drittel beschreiben das Niveau der nationalen Sicherheit in Russland als unbefriedigend (vgl. Grafik 1 auf S. 4).
Dabei stimmen fast alle Gruppen überein: sowohl die wissenschaftlichen Experten, die Meinungsmacher, die bis zu 45jährigen, die Altersgruppe der 46- bis 55jährigen und die über 55jährigen, sowie die Einwohner der Stadt Moskau. Allein die Beamten sowie die Befragten aus den Regionen schätzen die Sicherheitslage deutlich besser ein. Ein interessantes Ergebnis, gehen Beobachter im Westen doch davon aus, dass gerade die Ebene der Fachbeamten die Sicherheitslage eher kritisch sieht (vgl. Grafik 2 auf S. 5).
Diese Beobachtung bestätigt sich bei den Antworten auf die Frage, inwieweit sich die nationale Sicherheitslage in den letzten drei bis fünf Jahren verändert hat. Während fast zwei Drittel der wissenschaftlichen Experten und die Meinungsmacher eine Verschlechterung ausmachen, so teilen nur 35 % der Fachbeamten diese negative Einschätzung. Im Gegenteil, 36 % von ihnen sehen eine Verbesserung, dreimal so viel wie bei den Meinungsmachern (12 %) und den Wissenschaftlern (14 %) (vgl. Grafik 3 auf S. 5 und 4 auf S. 6).
Die verschiedenen Formen der Bedrohung
Auf einer Skala von +3 bis -3 geben die Experten nur der Energie- und der Staatssicherheit insgesamt eine positive Bewertung, +0,7 und +0,4. Alle anderen Bereiche werden als negativ, also als unsicher gewertet. Das beginnt mit der Sicherheit im Bereich Religion (-0,1) über die Sicherheit des Lebens (-1) und endet bei der Gesundheitsversicherung und dem Schutz des Lebens (-1,4). Die militärische Sicherheit wird neutral mit 0 bewertet, die Gefahr von Terror mit -1,1 (vgl. Grafik 5 auf S. 6).
Schauen wir genauer auf die Umfrage, so erkennt der geneigte Leser, dass von der Dringlichkeit ein Thema herausragt im Bedrohungspotential: »Korruption in den Machtorganen und administrativen Strukturen«. Es folgen in der nächsten Gruppe weitere 15 Bedrohungen. Von ihnen sind drei der äußeren Bedrohung zuzuordnen (Terror, Drogen und Kaukasuskonflikte). Alle anderen repräsentieren rein innenpolitische Probleme wie Rückstand im Bereich Innovation und Modernisierung der Wirtschaft, soziale Ungleichheit, niedriges Bildungsniveau sowie Zerstörung von Wald- und Wassergebieten (vgl. Tabelle 1 auf S. 7–9).
Die Autoren der Studie haben die Antworten innerhalb von drei verschiedenen Gruppen untersucht:
Drei Statuskategorien: Fachexperten, Meinungsmacher und Fachbeamte;Drei Alterskategorien: jünger als 45, 46–55 und älter als 55;Zwei geographische Kategorien: Zentrum und Regionen.
Daraus ergibt sich folgendes Bild. Für die erste Gruppe gilt allgemein, dass Meinungsmacher und Fachexperten meist übereinstimmen, die Fachbeamten dagegen allein dastehen. Bei den Altersgruppen ist zu beobachten, dass die 46 bis 55jährigen und die über 55jährigen die Bedrohungen in etwa so einschätzen wie der Durchschnitte der Fachexperten und Meinungsmacher. Die Jüngeren weichen davon ab, denn sie erkennen eine »feindliche Einkreisung« ihres Landes, glauben weder an eine »Krise der Kultur und Werte« noch an eine Entwicklung Richtung »Antidemokratie« (vgl. Grafik 6 auf S. 9 und 7 auf S. 10).
In der dritten Gruppe fällt auf, dass die Moskauer Befragten bei keiner der angesprochenen Themen sehr positiv oder negativ reagieren. Ganz anders die Regionen: Besonders besorgt sind sie bei der »feindlichen Umkreisung« und der »Krise der Kultur und Werte«, weniger besorgt bei den Themen »Antidemokratie« und »Strukturelle Probleme der Wirtschaft«. Gerade die Zufriedenheit der Befragten in den Regionen bezüglich der Wirtschaftsstruktur ist erstaunlich vor dem Hintergrund eines zentralistischen Staates, der sowohl seinen politischen aber eben auch seinen wirtschaftlichen Einfluss in den Gebieten verstärkt hat (vgl. Grafik 8 auf S. 10).
Im Bereich der Außenpolitik werden die von Moskau dominierten oder zumindest mitgetragenen Organisationen wie die Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit (OVKS), Schanghaier Organisation für Kooperation (SchOS) und die Eurasiatische Wirtschaftsgemeinschaft (EAW) am positivsten bewertet, dann folgen Organisationen wie die Uno und die G8, und die positive Bewertung endet mit internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, dem Europa-Rat und Greenpeace. Es folgen, mit einer leicht negativen Bewertung, Weltbank und Internationaler Währungsfond. Die Liste endet mit der negativ bewerteten Organisation NATO und dann, mit weitem Abstand, mit dem Terrornetzwerk Al-Quaida (vgl. Tabelle 2 auf S. 11).
Erstaunlich ist die relativ positive Einschätzung der NGOs, deren Rolle von gut einem Drittel der Befragten als positiv bewertet wurde und nur von 5 % als negativ. Freilich hält die Mehrzahl der Befragten den Einfluss der Bürgergesellschaft auf die Erhaltung der nationalen Sicherheit für völlig unbedeutend. Eine solche Bewertung wäre noch vor wenigen Jahren, nach den Erfahrungen der bunten Revolutionen in den Nachbarländern Georgien und der Ukraine, sehr anders ausgefallen (vgl. Grafik 9 auf S. 12).
Umso mehr werden staatliche Institutionen wie der Sicherheitsdienst (Auslandsaufklärung), der Präsident und die militärische Aufklärung GRU bei der Verteidigung der nationalen Sicherheit anerkannt. Institutionen wie der Föderationsrat und die Duma erhalten wie üblich eine kritische Einschätzung. An letzter Stelle, und das ist sicherlich Resultat der vielen Skandale der letzten Monate, steht das Innenministerium. Im Umkehrschluss bedeutet dieses Resultat, dass aufgrund der guten Arbeit der Sicherheitsdienste Gefahr von außen gebannt ist, die innere jedoch nicht.
Die Aussichten
Die nationale Sicherheit Russlands, da sind sich die Experten und Beamten einig, wird weniger von außen als von innen bedroht. Nicht Atomwaffen der USA, nicht die NATO, nicht der Iran, sondern Korruption im eigenen Staatsapparat, soziale Ungerechtigkeit und Ineffizienz der Wirtschaftspolitik bedrohen Russland im 21. Jahrhundert. Diese Wahrnehmung unter Experten ist zwar völlig nachzuvollziehen, in ihrer Ehrlichkeit aber überraschend.
Experten warnen in der russischen Presse vor einer »Demodernisierung Russlands«. Damit stellen sie das Konzept der Modernisierung des Präsidenten Medwedew in Frage und warnen davor, dass nicht nur der Fortschritt im Lande in Gefahr ist, sondern sogar der status quo, der ohnehin auf zu niedrigem Niveau liegt.
Die Studie zeigt auch auf, dass die Kooperation zwischen Staat und Expertenwelt noch zu wünschen übrig lässt. Anders sind die Differenzen zwischen Fachbeamten und Fachexperten nicht zu erklären. Positiv stimmt die Anerkennung der Zivilgesellschaft, auch wenn zu überprüfen wäre, welche Art von Zivilgesellschaft die Staatsdiener gemeint haben – jene, die die Sozialaufgaben des Staates übernimmt, oder die, welche den kritischen Dialog mit dem Staat sucht.