Russland und der Westen – Zeit für eine neue Politik?
Russland und der Westen stehen in keinem manifesten Konflikt zueinander. Im Gegenteil, die beiden Akteure sind durch eine Vielzahl von institutionalisierten Beziehungen vernetzt und kooperieren in Bereichen wie Energie, Sicherheit, Bildung und Forschung. Nach der Auflösung der UdSSR hatte Russland eine klare pro-westliche Haltung eingenommen. Jedoch ist in den letzten Jahren, insbesondere seit der Machtübernahme Putins, das Verhältnis Russlands zu seinen westlichen Partnern immer häufiger von Spannungen und Missverständnissen überschattet worden.
Zum einen hat der Westen mit zunehmender Intensität die russischen Demokratiedefizite, wie Menschenrechtsverletzungen, politisch motivierte Morde an Journalisten, sowie die stark interessengelenkte Erdgaspolitik kritisiert. Des Weiteren haben die Kriege in Tschetschenien, der wiederholte Gasstreit mit der Ukraine und Belarus sowie zuletzt der Georgienkonflikt zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen. Auf der anderen Seite wächst die Besorgnis in der russischen Politik über die die Auferlegung westlicher Werte ebenso wie über den wachsenden Einfluss der USA und der Europäischen Union auf die postsowjetischen Länder. All dies hat zu einer Eintrübung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in der jüngeren Vergangenheit geführt.
Somit stellt sich die Frage, ob und wie der Westen seine Politik gegenüber Russland anpassen könnte, um die Spannungen der letzten Jahre zu überwinden. Im Folgenden werden die wichtigsten Problemfelder der bisherigen Beziehung identifiziert und Lösungsvorschläge für eine Verbesserung der Beziehungen dargestellt.
Energie, Interessenkonflikte und westliche Uneinigkeit
Bei näherer Betrachtung der russisch-westlich Beziehungen können im Wesentlichen drei Themenfelder aufgewiesen werden, die für die Spannungen verantwortlich sind: die Energiesicherheit, die Kollision von Interessen im postsowjetischen Raum und das Fehlen einer einheitliche Linie in der westlichen Politik.
Zunächst zur Energie: Russland hat großes Interesse daran, die Position des führenden Öl- und Gaslieferanten für Europa beizubehalten. Zwei Drittel der russischen Energieexporte gehen nach Europa. Hierbei zeigt sich, dass die EU stärker von diesem Geschäft abhängig ist als Russland. Insbesondere nach dem Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine versucht Europa daher die Energieimporte zu diversifizieren. Hinzu kommt das Problem der unterschiedlichen Abhängigkeiten vom russischen Öl und Gas. In einigen EU-Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel Slowenien, wird der Energiebedarf zu fast 100 % durch russische Importe gedeckt, andere Mitgliedstaaten beziehen überhaupt kein Öl und Gas aus Russland. Diese Konstellation erschwert das Finden einer gemeinsamen politischen Linie der EU.
Die westlichen Staaten pflegen aufgrund ihrer jeweiligen Geschichte unterschiedlich intensive Beziehungen zu Russland. Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien haben traditionell starke politische und ökonomische Bindungen mit Russland und gehören eindeutig zu den Befürwortern einer Zusammenarbeit. Osteuropäische Staaten hingegen leiden immer noch unter den Folgen der Sowjetherrschaft und stehen einer engeren Kooperation mit Russland kritisch gegenüber. Als Beispiel hierfür kann Polens blockierende Haltung während der Verhandlungen über das neue Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland im Jahr 2006 angeführt werden, die auch als politische Antwort auf das von Russland auferlegte Embargo gegen polnisches Fleisch zu verstehen war. Der relativ schnelle NATO-Beitritt der osteuropäischen und der Baltischen Staaten ist ein Ausdruck des distanzierten Verhältnisses zu Russland.
Der Interessenkonflikt im postsowjetischen Raum hat ebenfalls für Spannungen zwischen Russland und dem Westen gesorgt, die sich 2008 während des Georgienkrieges dramatisch zugespitzt haben. Das Territorium, das den Südkaukasus, Zentralasien, die Ukraine, Belarus und die Republik Moldau einschließt, wird von der EU als »gemeinsame Nachbarschaft« und von den USA als strategisches Gebiet aufgefasst. Russland hingegen sieht das Gebiet als eigene privilegierte Einflusszone an. Russland interpretiert daher die Europäische Nachbarschaftspolitik, die Östliche Partnerschaft und besonders die NATO-Erweiterung als Verletzung der eigenen Einflusszone. Die in Aussicht gestellte Aufnahme des traditionellen russischen Verbündeten Belarus in die Östliche Partnerschaft hat eine besonders heftige Reaktion seitens Russlands provoziert. Das Hauptärgernis lag darin, dass das Aufnahmeversprechen unter der Bedingung gegeben wurde, dass Belarus die abtrünnigen georgischen Republiken Abchasien und Südossetien nicht anerkennen würde.
Der Konflikt der außenpolitischen Diskurse
Was waren die politischen Fehlentscheidungen, die für die Spannungen in russisch-westlichen Beziehungen verantwortlich sind? Der vorliegende Essay vertritt die Auffassung, dass die bisherige Politik wegen eines wenig offensichtlichen Grundes fehlgeschlagen ist: der Unvereinbarkeit zwischen dem russischen und dem westlichen Außenpolitikdiskurs. Was sind Diskurse und warum machen sie den Kern des Konflikts aus? Was kann Deutschland in Bezug auf die Diskurse unternehmen, um die russisch-westlichen Beziehungen zu verbessern?
Außenpolitikdiskurse basieren auf Ideen, Werten und Normen, die das Verständnis vom Angemessenen in internationalen Beziehungen prägen. Reden der Staatsoberhäupter, offizielle außenpolitische Dokumente, Medienberichte sowie die öffentliche Meinung bilden den außenpolitischen Diskurs in einem Land.
Die Außenpolitikdiskurse von Russland und dem Westen sind diametral gegensätzlich. Der Westen gründet seine Außenpolitik auf einem Integrationsdiskurs, welcher auf Kooperation, politische und ökonomische Integration sowie auf demokratische Werte, wie Freiheit und Menschenrechte, setzt. Dieses Verständnis von Außenpolitik sieht das teilweise Abtreten der nationalen Souveränität zugunsten eines gemeinsamen Zieles vor, zum Beispiel für die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Russland hingegen hat eine radikal andere Auffassung von der internationalen Politik. Die wichtigste Norm im russischen Außenpolitikdiskurs ist die ungeteilte Souveränität des Landes oder die Nichteinmischung Dritter in innere Angelegenheiten. Eine Integration durch das Abtreten von Souveränität an eine supranationale Organisation ist praktisch unvereinbar mit diesem stark am politischen Realismus angelehnten Verständnis von internationalen Beziehungen. Folglich hat Russland in kontroversen Situationen, wie im Tschetschenienkrieg, bei allen Menschenrechtsverletzungen und sogar im Konflikt mit Georgien darauf gepocht, dass dies Russlands interne Angelegenheiten wären. Westliche Kritik wurde als Einmischung in innere Angelegenheiten und als Verletzung der staatlichen Souveränität interpretiert.
Zeit für einen neuen westlichen Diskurs
Was kann der Westen an seiner Politik verändern, um die Beziehungen zu Russland zu verbessern? Die einzige nachhaltige Lösung wäre die Veränderung des Außenpolitikdiskurses. Dieser Lösungsansatz mag auf den ersten Blick unerheblich erscheinen – jedoch zeigt das Beispiel der USA, dass Diskurse durchaus Einfluss auf die Politik haben und sogar einen politischen Kurswechsel herbeiführen können. Als Barack Obama Präsident wurde, sprachen Beobachter vom »frischen Wind« im Weißen Haus, auch im Sinne einer auffälligen Veränderung der politischen Rhetorik. Obama vermied neokonservative Ausdrücke der Bush-Doktrin wie »Achse des Bösen«, »islamische Gefahr« oder »Krieg gegen den Terror«. Der Hintergrund dieses Diskurswechsels, der von Obamas Beratern sicherlich gründlich durchdacht wurde, ist, dass Ideen und Worte eine gestaltende Wirkung haben können. Internationale Politik wird nicht nur durch pragmatische Interessen und militärische Macht geformt, sondern auch durch Sprache und Gedanken.
Deutschland könnte den Neustart der westlich-russischen Beziehungen initiieren, da es von allen westlichen Staaten die am besten etablierten Beziehungen zu Russland hat. Doch wie genau könnte Deutschland agieren, damit der Gegensatz zwischen dem westlichen normativen Integrationsdiskurs und dem russischen realpolitischen Souveränitätsdiskurs die Kooperation nicht länger erschwert?
Deutschland könnte die EU und die USA von der Notwendigkeit einer neuen Rhetorik überzeugen, die frei von früheren Missverständnissen und Gegensätzen wäre. Die diskursive Anpassung könnte einen Neuanfang in den russisch-westlichen Beziehungen bedeuten und würde eine konstruktive Partnerschaft fördern. Der neue westliche Ansatz sollte
die Kritik an der russischen Innenpolitik sensibler dosieren, da diese Kritik von russischer Seite als aufdringlich, wenn nicht gar unrechtmäßig empfunden wird und somit eine Partnerschaft auf Augenhöhe verhindert;wirksame Kooperationsanreize statt normativer Konditionalität anbieten, wie zum Beispiel Visaerleichterungen, eine Freihandelszone oder Zusammenarbeit an den gemeinsamen Grenzen. Normative Konditionalität, wie zum Beispiel Forderungen nach mehr Demokratie, Transparenz und Menschenrechten, sind ohne Anreize wenig Erfolg versprechend, und es ist unwahrscheinlich, dass Russland den ersten Schritt hin zu einer Annäherung machen würde; russische Interessen im postsowjetischen Raum respektieren, unter anderem durch den Verzicht auf die NATO- und die EU-Erweiterung, da diese als Ausgrenzung Russlands wahrgenommen werden könnten;mit Russland und den anderen postsowjetischen Staaten unter gleichen Bedingungen kooperieren und auf doppelte Standards verzichten (gleiche Anreize und wirtschaftliche Privilegien für alle Partner);ein gemeinsames UN-Mandat für Südossetien, Abchasien, Berg Karabach und Kirgisien initiieren, um die Konflikte gemeinsam zu lösen und somit über das Nullsummenspiel in der gemeinsamen Nachbarschaft hinaus zu gehen. Deutschland könnte diese Zusammenarbeit durch seinen derzeitigen Sitz im UN-Sicherheitsrat vermitteln.
Eine vielversprechende Lösung der Probleme in den russisch-westlichen Beziehungen liegt in der gestalterischen Macht der Ideen und der Außenpolitikdiskurse. Sobald der Westen mit der politischen Hilfe Deutschlands anerkennt, dass ein durchdachtes Framing von Außenpolitik durch neue Diskurse die verhärteten Fronten aufweichen kann, steht einer verbesserten und konstruktiven Partnerschaft mit Russland nichts mehr im Weg.