Das Problem der »Unterforschung« des postsowjetischen russischen Ultranationalismus

Von Andreas Umland (Kiew)

Trotz der politischen Relevanz von Rechtsextremismus in Russland ist die internationale Gemeinde der Forscher, welche sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen, klein. Daher ist auch die Zahl der politologischen und zeitgeschichtlichen Publikationen zu diesem Thema gering. Dafür mögen uns Sozialwissenschaftler anderer Untersuchungsbereiche, die womöglich mit »Überforschung« konfrontiert sind, beneiden. Allerdings ist das Brachland an mehr oder minder unbearbeiteten Themen im Bereich »Russischer Ultranationalismus« bzw. die Zahl der bislang nicht oder gering untersuchten Parteien, Gruppierungen, Zirkel, Verlage, Organe, Publikationen usw. inzwischen so groß, dass der einzelne Forscher in einer Flut an ungeprüften, ungeordneten und unverknüpften Informationen versinkt.

Die Vielfalt der ultranationalistischen Erscheinungen im heutigen Russland ist hoch, und ihre Zahl nimmt offenbar weiter zu. Presse- und andere Organe stellen allwöchentlich relevante Informationen zur Verfügung. Insbesondere berichten die zwar nur wenig einflussreiche, aber weiterhin existente Journalisten-Community der russischen unabhängigen Periodika (z. B. »Nowaja gaseta«, »The New Times«), regierungsferne informative WWW-Zeitungen (Polit.ru, Gazeta.ru, Grani.ru u. a.) sowie eine Reihe von NGOs, wie das »SOVA«-Zentrum, das Moskauer Büro für Menschenrechte oder das Moskauer Antifaschistische Zentrum, mit Mut und Verve über nationalistische Phänomene in Gesellschaft, Kultur und Politik. Jedoch gibt es nur wenige Wissenschaftler inner- und außerhalb Russlands, die sich systematisch mit diesem Datenstrom auseinandersetzen. Meines Wissens beschränkt sich die Zahl der »hauptberuflichen« Erforscher von postsowjetischem russischen Ultranationalismus auf ca. ein Dutzend Personen. Es scheint weltweit nur wenig mehr als eine Hand voll Analytiker zu geben, etwa Marlene Laruelle (Washington, DC), Alexander Werchowski (Moskau), Wladimir Pribylowski (Moskau), Wiktor Schnirelman (Moskau), Wladimir Malachow (Moskau), Paul Goble (Washington, DC) oder John B. Dunlop (Stanford), die mehr oder minder intensiv Informationen zu diesem Thema sammeln, filtern und analysieren sowie Ergebnisse langfristiger, systematischer Arbeit regelmäßig an die Öffentlichkeit bringen.

Angesichts des innenpolitischen Gewichts des erstarkten russischen Nationalismus sowie der fortgesetzten Bedeutung Russlands im internationalen Machtgefüge ist die Unterbesetzung unseres Forschungsgebietes nicht nur aus regionalwissenschaftlicher Perspektive schmerzlich. Die »Personalprobleme« der russlandbezogenen Rechtsextremismusforschung sind auch unter einem politisch-praktischen Gesichtspunkt riskant. Wir bleiben schlecht informiert über die anwachsenden extremistischen Aktivitäten im größten Land der Erde, welches auf absehbare Zeit eine nukleare Supermacht bleiben wird. Dies ist ein Luxus, den sich z. B. die Europäische Union im Grunde nicht leisten kann. Die Kosten einer fortgesetzten wissenschaftlichen Unterbelichtung der mannigfachen rechtsradikalen Tendenzen in Russland sowie daraus folgender politischer Fehleinschätzungen und -entscheidungen der russischen Innen- und Aussenpolitik könnten in einem Worst-Case-Szenario hoch sein.

Charakteristisch war in den 1990ern etwa die sowohl russische als auch westliche Ignoranz bezüglich der steilen Karriere und aggressiven Ideologie des ersten prominenten postsowjetischen Rechtsextremisten, Wladimir Shirinowski. Der sowohl in der euro-amerikanischen Postsowjetologie als auch in der internationalen Extremismusforschung weitgehend unbemerkt gebliebene Aufstieg Shirinowskis 1990–1993 war – neben anderen Gründen – Bestimmungsfaktor für eine der destruktivsten politischen Entscheidungen Boris Jelzins: die militärische Intervention in Tschetschenien vom Dezember 1994. Shirinowskis sogenannte Liberal-Demokratische Partei (LDP) war damals nicht nur die einzige Staatsdumafraktion, die dieses Abenteuer von Anfang an ausdrücklich unterstützte sondern Schirinowskis Wahlkampfrhetorik vom »letzten Sprung nach Süden« ein Jahr zuvor hatte in mancher Hinsicht Jelzins Kaukasusabenteuer vorbereitet. Wie bekannt, waren nicht nur die direkten Folgen der Tschetschenienkriege Jelzins in ihrer humanitären Dimension katastrophal. Die Rückwirkungen der jahrelangen Kriege auf die russische nachsowjetische Gesellschaft, politische Kultur und krisengeschüttelte Wirtschaft waren wichtige Gründe für das Scheitern der zweiten russischen Demokratie.

Die Biographien der – oft nicht weniger schrillen – zahlreichen weiteren politischen und intellektuellen Führer der extremen russischen Rechten sowie deren Entourage, Organisationen und Aktivitäten sind meist noch weniger erforscht als der Werdegang und Einfluss Shirinowskis. Zwar gibt es Teilphänomene des postsowjetischen russischen Ultranationalismus, wie etwa ethnozentrische Tendenzen in der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation oder der so genannte »Neoeurasimus« Alexander Dugins, die sich einiger Beliebtheit in der heutigen Russlandforschung erfreuen. Sie sind inzwischen ausführlich beschrieben, analysiert sowie diskutiert worden sind. Es bleiben jedoch immer noch Dutzende mehr oder minder relevante ultranationalistische Parlamentarier, Aktivisten, Publizisten, Parteien, Gruppierungen, Publikationsorgane usw., bezüglich derer es nicht eine einzige ausführliche wissenschaftliche Untersuchung zu ihrer Herkunft, Stellung und Rolle in der russischen Gesellschaft und Politik gibt. Häufig sind die von »SOVA« (G. Koshewnikowa†, A. Werchowski) sowie deren befreundeter »Panorama«-Agentur (W. Pribylowski) produzierten Handbücher zu den Biographien der wichtigsten Ultranationalisten sowie den Chronologien der Entwicklung ihrer Organisationen die einzigen detaillierten, einigermaßen umfassenden Sekundärquellen zu diesen Phänomenen.

Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, dass sich sowohl in Russland als auch in anderen Ländern neugierige Diplomanden, Doktoranden und Postdoktoranden finden, welche die gesellschaftliche Bedeutung und wissenschaftliche Fruchtbarkeit einer Auseinandersetzung mit dem russischen Ultranationalismus für ihren eigenen beruflichen Werdegang entdecken.

Lesetipps / Bibliographie

  • Galina Koshewnikowa† unter Mitarbeit von Alexander Werchowski: Ultranationalismus und Antiextremismus im heutigen Russland. Jahresbericht des Zentrums »SOVA« 2009. Soviet and Post-Soviet Politics and Society. Stuttgart: ibidem-Verlag, 2011, im Druck.
  • Galina Kozhevnikova† in collaboration with Alexander Verkhovsky and Eugene Veklerov: Ultra-Nationalism and Hate Crimes in Contemporary Russia. The 2004–2006 Annual Reports of Moscow’s SOVA Center. Soviet and Post-Soviet Politics and Society, Bd. 77. Stuttgart: ibidem-Verlag, 2008.
  • Andreas Umland: Zhirinovskii as a Fascist. Palingenetic Ultra-Nationalism and the Emergence of the Liberal-Democratic Party of Russia in 1992–93, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 14. Jg., 2/2010, S. 189–216.

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