Stolperstein Georgien: Die Auswirkungen des georgisch-russischen Konflikts auf Russlands WTO-Beitritt

Von Johannes Wetzinger (Wien)

Zusammenfassung
Nach Ansicht vieler Beobachter befindet sich Russland nach langwierigen Verhandlungen in der Zielgeraden auf dem Weg zu einem Beitritt zur Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Doch noch sind nicht alle Uneinigkeiten ausgeräumt. Ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor bleibt die Position des WTO-Mitglieds Georgien, das sich in einem tief verwurzelten Konflikt mit Russland befindet. Die Staatsführung der Südkaukasusrepublik macht ihre Zustimmung zu Russlands Beitritt derzeit von Konzessionen Moskaus abhängig und könnte so einen Beitritt blockieren. Für Georgiens Politik bieten die Verhandlungen ein seltenes Druckmittel – aber auch ein ernst zu nehmendes Risiko.

Einleitung

Nach Ansicht vieler internationaler Beobachter befindet sich Russland nach jahrelangen und zähen Verhandlungen nunmehr auf der Zielgeraden für einen Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). WTO-Generaldirektor Pascal Lamy zeigte sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am Jahresanfang zuversichtlich, dass für Russland noch 2011 ein Beitritt zur Welthandelsorganisation erreichbar sei. Im Beitrittsprozess habe es im vergangenen Jahr »substanzielle« Fortschritte gegeben. Rückendeckung für dieses Unterfangen erhält Moskau aus Washington: Die Regierung unter Barack Obama hat die Aufnahme Russlands in die WTO als wichtigen Aspekt des »Neustarts« in den Beziehungen mit Russland definiert. Der Beitritt, so Obama, sei »nicht nur im Interesse Russlands, sondern auch im Interesse der Vereinigten Staaten und der Welt«. Russland ist derzeit die größte Volkswirtschaft außerhalb der Organisation, der bereits 153 Mitglieder angehören. Ein wesentlicher Stolperstein auf dem verbliebenen Weg zur Aufnahme droht allerdings das WTO-Mitglied Georgien zu werden, das die Beitrittsverhandlungen mit Russland bereits in der Vergangenheit blockiert hat.

Möglichkeiten der Einflussnahme für Georgien

Georgien befindet sich mit seinem nördlichen Nachbarn Russland in einem tief verwurzelten Konflikt, der im August 2008 mit einer offenen militärischen Konfrontation um die von Georgien abtrünnigen Gebiete Südossetien und Abchasien seinen post-sowjetischen Höhepunkt erreicht hat. Das angespannte Verhältnis zwischen Moskau und Tbilissi hat bereits wiederholt Rückwirkungen auf die Verhandlungen zu Russlands WTO-Beitritt gehabt. Die politische Führung der Südkaukasusrepublik verfügt in diesen Gesprächen über ein seltenes Druckmittel gegenüber dem nördlichen Nachbarn: Georgien ist bereits seit dem Jahr 2000 Mitglied der Welthandelsorganisation und kann so den Beitrittsprozess neuer Mitglieder blockieren oder zumindest wesentlich verzögern.

In der Praxis bieten sich der georgischen Staatsführung Möglichkeiten der Einflussnahme auf verschiedenen Ebenen des komplexen Verhandlungs- und Beitrittsprozesses:

Entscheidende Verhandlungen finden erstens im Rahmen einer multilateralen Arbeitsgruppe zum russischen WTO-Beitritt statt, der mehr als 60 interessierte Staaten angehören. Dieses Gremium setzt sich unter anderem intensiv mit dem Außenhandelsregime des Beitrittskandidaten auseinander. Georgien ist Teil dieser Arbeitsgruppe und hat bereits in der Vergangenheit offizielle Gespräche der Gruppe erschwert. Tbilissi hat der Agenda für Treffen der Arbeitsgruppe nicht zugestimmt, was zur Folge hatte, dass Gespräche informell geführt werden mussten.

Parallel zu diesen multilateralen Verhandlungen ist für einen WTO-Beitritt Russlands zweitens eine bilaterale Einigung mit allen interessierten Mitgliedsstaaten nötig. Während hier bereits wichtige Hürden ausgeräumt wurden (etwa durch eine Übereinkunft mit den USA), ist eine derartige bilaterale Einigung zwischen Moskau und Tbilissi derzeit ausstehend. Georgien hatte ursprünglich bereits 2004 eine entsprechende Übereinkunft mit Russland getroffen, diese jedoch später wieder zurückgezogen.

Drittens hat Georgien nach Ansicht vieler Experten de facto ein Vetorecht bei der Entscheidung über die Neuaufnahme von Mitgliedern, die nach erfolgreichem Abschluss der multilateralen und bilateralen Verhandlungen getroffen wird. Die Beschlussfassung erfolgt formal in der WTO-Ministerkonferenz, wird in der Praxis jedoch meist in den Allgemeinen Rat der Organisation ausgelagert. Wenngleich Artikel XII des »Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation« lediglich eine Zweidrittelmehrheit für derartige Beitrittsbeschlüsse vorsieht, hat sich in der Praxis ein Entscheidungsverfahren nach Konsens durchgesetzt. Moskau scheint nun zu hoffen, die Möglichkeit eines georgischen Vetos unter Berufung auf die in Artikel XII festgeschriebene Zweidrittelmehrheit zu entkräften. Folgt man einschlägigen Studien zur WTO-Erweiterung, scheint ein Erfolg dieser Strategie allerdings wenig wahrscheinlich: Für eine Abstimmung über die Aufnahme eines neuen Mitglieds ist zuvor eine Einigung in der multilateralen Arbeitsgruppe nötig – was im Fall Russlands auch die Zustimmung Georgiens voraussetzt.

Neue Verhandlungen und alte Streitpunkte

Dies macht deutlich, dass eine einvernehmliche Einigung zwischen Moskau und Tbilissi entscheidend für einen raschen WTO-Beitritt Russlands ist. Ein derartiger Konsens lässt allerdings derzeit auf sich warten. Im Jahr 2008 hat Georgien die WTO-Gespräche mit Russland abgebrochen, da Moskau direkte Beziehungen mit den von Georgien abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien aufgenommen hatte. Einen Ausweg aus der Blockade sollen nun neue Verhandlungen unter Vermittlung der Schweiz bringen, die im März 2011 begonnen haben. Der Neustart der Gespräche in den vergangenen Monaten offenbarte allerdings in erster Linie altbekannte Differenzen. Während Tbilissi darauf beharrt, in den WTO-Verhandlungen lediglich »technische und wirtschaftliche Fragen« klären zu wollen, wirft Moskau der Südkaukasusrepublik einmal mehr eine »Politisierung« der Gespräche vor.

Von besonderer Bedeutung sind dabei insbesondere zwei Streitpunkte: Entscheidend ist erstens die Frage nach Kontrollmöglichkeiten Georgiens über die Grenzen der abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien mit dem nördlichen Nachbarn Russland. Die beiden an Russland angrenzenden Regionen sagten sich in den frühen 1990er Jahren im Zuge blutiger Sezessionskonflikte von der georgischen Staatsführung los und entziehen sich seither der Kontrolle der Zentralregierung in Tbilissi. Russland hat in diesen Konflikten in den vergangenen Jahren eine ambivalente Rolle gespielt und die beiden Sezessionistenregime zum Unmut Georgiens wiederholt unterstützt. Im Sommer 2008 erreichte der Konflikt einen neuen Höhepunkt, als die georgische Führung unter Michail Saakaschwili eine Militärintervention in Südossetien startete. Russland reagierte mit harter Hand und zwang Georgien bei einem militärischen Gegenschlag binnen weniger Tage in die Knie. Daraufhin erkannte Moskau die Sezessionistenregime in Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten an. Wenngleich diese beiden Gebiete damit weiter denn je von georgischer Kontrolle entfernt sind, versucht Tbilissi die WTO-Verhandlungen als Hebel zu nutzen und sich einen neuen Zugang zu verschaffen: Georgien fordert »Transparenz« der Grenzgebiete zwischen Russland und Abchasien beziehungsweise Russland und Südossetien. Um das zu erreichen, sollen nach Vorstellung der Südkaukasusrepublik georgische Zöllner vor Ort stationiert werden – eine Forderung, die Russland, Abchasien und Südossetien bisher vehement ablehnten.

Einen zweiten wesentlichen Streitpunkt bilden Wirtschaftssanktionen, die Russland gegenüber Georgien im Jahr 2006 verhängt hat. Moskau hat ein Einfuhrverbot für zentrale Exportprodukte der georgischen Wirtschaft erlassen: georgisches Mineralwasser und georgischen Wein. Die georgische Weinwirtschaft wurde von diesem Embargo massiv erschüttert, da Russland vor Sanktionsbeginn immerhin knapp 90 Prozent des in Georgien produzierten Weines importiert hatte. Georgische Vertreter äußerten in der Vergangenheit die Hoffnung, dass im Zuge der WTO-Verhandlungen eine Aufhebung der Sanktionen und ein erneuter Zugang zum russischen Markt erreichbar seien. Hier scheint eine Lösung jedenfalls greifbarer als im Fall der Grenzgebiete zwischen Russland und den abtrünnigen Gebieten: Gennadi Onischtschenko, Direktor der russischen föderalen Verbraucherschutzbehörde, hat zeitgleich mit der Wiederaufnahme der WTO-Gespräche im März gegenüber russischen Medien bereits die Möglichkeit eingeräumt, dass das Embargo gegen georgischen Wein aufgehoben werden könnte. Für die georgische Wirtschaft, die sich durch die Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise und des Krieges mit Russland im Jahr 2008 in einer schwierigen Phase befindet, wäre das zweifellos von großem Interesse.

Georgien pokert hoch: Zwischen Chancen und Risiken

Der georgische Präsident Michail Saakaschwili hat allerdings bereits kurz nach Start der neuen Verhandlungen in der Schweiz klar gemacht, dass ein Ende des Embargos aus seiner Sicht keineswegs ausreiche. Eine Marktöffnung, so Saakaschwili, sei kein »bargaining chip«. Entscheidend für eine Zustimmung Georgiens zu einem russischen WTO-Beitritt sei vielmehr die wiederholt eingeforderte »Transparenz« der Grenzen zwischen Russland und den Konfliktgebieten. Damit wird deutlich, dass die amtierende georgische Staatsführung kaum einem Kompromiss zustimmen wird, der als Schwäche im Konflikt um Abchasien und Südossetien oder als Zugeständnis gegenüber Russland gedeutet werden könnte. Das gilt umso mehr, als in Georgien für 2012 und 2013 Parlaments- bzw. Präsidentenwahlen anberaumt sind. Die WTO-Verhandlungen drohen so zur Geisel der ungelösten Konflikte im Südkaukasus zu werden.

Dieses Pokerspiel bringt jedoch ein ernst zu nehmendes außenpolitisches Risiko für Georgien mit sich: Sollten die Verhandlungen sich in die Länge ziehen oder gar abgebrochen werden, besteht die Gefahr, dass der internationale Druck auf Georgien steigt und das Land zunehmend isoliert wird. Beobachter in Tbilissi blicken dabei mit besonderer Spannung auf das Verhalten des wichtigen Verbündeten USA, der den WTO-Beitritt Russlands als hohe außenpolitische Priorität definiert hat. Nach engen Beziehungen unter George W. Bush hat sich das Verhältnis zwischen Tbilissi und Washington unter Obama abgekühlt. Das hat in der Südkaukasusrepublik Befürchtungen ausgelöst, die Politik des »Neustarts« zwischen Washington und Moskau könne auf Kosten Georgiens ausgetragen werden. Eine Reihe von georgischen Experten plädiert vor diesem Hintergrund für eine pragmatischere Politik in den WTO-Verhandlungen, die den Nutzen für Georgien maximieren sollte (etwa durch ein Ende des russischen Embargos), ohne gleichzeitig die für Tbilissi entscheidenden außenpolitischen Beziehungen mit den USA zu belasten.

Fazit und Ausblick: Stolperstein für Russland

Vor dem Hintergrund des tief verankerten georgisch-russischen Konflikts ist eine rasche und pragmatische Einigung zwischen Moskau und Tbilissi über einen russischen WTO-Beitritt unwahrscheinlich. Vielmehr drohen die neu angelaufenen Verhandlungen unter Vermittlung der Schweiz zur Geisel der ungelösten Konflikte um Abchasien und Südossetien zu werden. Georgien zeigt in dieser Frage bisher keinen Willen zu Zugeständnissen und kann die Verhandlungen als bestehendes WTO-Mitglied blockieren. Damit stellt Georgien einen ernst zu nehmenden Stolperstein auf dem verbliebenen Weg zu Russlands WTO-Beitritt dar.

Der Fortlauf der Gespräche kann als ein wesentlicher Indikator dafür gesehen werden, wie ernsthaft und zu welchem Preis Russland tatsächlich den WTO-Beitritt anstrebt. Die politische Führung in Moskau hat jedenfalls bereits in der Vergangenheit sehr deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, sich von Georgien auf dem internationalen Parkett vorführen zu lassen. Um das eigene Gesicht zu wahren, sind der russischen Kompromissbereitschaft gegenüber dem südlichen Nachbarn daher enge Grenzen auferlegt. Da der WTO-Beitritt aufgrund der stark von Öl und Gas dominierten Exporte für Russlands Wirtschaft nicht von oberster strategischer Bedeutung ist, sind hier neuerliche Verzögerungen im bereits seit 1993 andauernden Beitrittsprozess keineswegs auszuschließen.

Lesetipps / Bibliographie

  • Åslund, Anders: “Why Doesn’t Russia Join the WTO?”, in: The Washington Quarterly, Vol. 33 No. 2, 2010, pp. 49–63. Abrufbar unter: http://www.twq.com/10april/docs/10apr_Aslund.pdf
  • Charnovitz, Steve: “Mapping the Law of WTO Accession”, The George Washington University Law School, Public Law and Legal Theory Working Paper No. 237 / Legal Studies Research Paper No. 237, 2006. Abrufbar unter: http://ssrn.com/abstract=957651
  • Kharadze, Nino: “Georgia Seeks Gains From Russia in Trade Bloc Talks”, in: Institute for War and Peace Reporting, Caucasus Reporting Service (CRS), Issue 582, 11 March 2011. Abrufbar unter: http://iwpr.net/node/50678 
  • Rogin, Josh: “Georgian president: Russia has to compromise if it wants into WTO”, in: Foreign Policy—The Cable, 30 March 2011. Abrufbar unter: http://thecable.foreignpolicy.com/posts/2011/03/30/georgian_president_russia_has _to_compromise_if_it_wants_into_wto
  • Tarr, David G.; Volchkova, Natalya: “Foreign Economic Policy at a Crossroads”, in: Anders Åslund, Sergei Guriev, Andrew Kuchins (eds.): “Russia after the Global Economic Crisis”, Washington, DC, 2010, pp. 201–222

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Analyse

Warum Russland in Afghanistan mit dem Westen kooperiert

Von David Krickus
Trotz der Befürchtungen, der Westen könnte die UN-mandatierte Militäroperation in Afghanistan zur Sicherung der Kontrolle über lebenswichtige Energieressourcen und Pipelines in Zentralasien ausnutzen, hat sich der Kreml dem Versuch, die Jihadisten in diesem, von Krieg zerrütteten Land zu vernichten, den USA und der NATO angeschlossen. Eine Rückkehr der Taliban an die Macht würde den Herointransfer von Afghanistan nach Russland fördern. Die Dschihadisten würden zudem Aufstände in ganz Zentralasien vorantreiben und diese Strategie nach Russland hineintragen, wo ausländische Dschihadisten im Nordkaukasus ohnehin schon zu bewaff – neten Aufständen, Terroranschlägen und Morden aufrufen. Als Konsequenz hat Russland dem US-NATOMilitärunternehmen eine gewisse Unterstützung angeboten. Beispielsweise wurde ein Luft- und Landkorridor für die Truppenversorgung im Kriegsgebiet zur Verfügung gestellt. (…)
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