Putin/Medwedew – Medwedew/Putin
Der »innere Kreis« der russischen Führung hat sich im Sommer geeinigt und eine Entscheidung getroffen. Putin kehrt in das Präsidentenamt zurück. Keine Überraschung. Dmitrij Medwedew, der jetzige Präsident, wird mit dem Amt des Ministerpräsidenten abgefunden. Auch das ist keine wirkliche Überraschung. Medwedew war lange Zeit Leiter von Putins Administration und später Erster Stellvertretender Ministerpräsident unter dem Präsidenten Putin. Und es ist guter Brauch in Putins Russland, dass kein Mitglied der Elite zu tief fällt. Jeder, der sich an die Regeln hält, wird vorteilhaft abgefunden, wer nützlich ist, erhält ein Amt.
Darüber, wann und von wem diese Entscheidung getroffen wurde, schweigen sich die Beteiligten aus. Weder der Zeitpunkt, noch der Kreis der Eingeweihten oder die Beweggründe werden offengelegt. Medwedew, der am 30. September im russischen Fernsehen Rede und Antwort stand, warum er nicht wieder kandidiere, und der sich dabei sichtlich schwer tat, verstieg sich zu einem bizarren Vergleich. Er führte das amerikanische Vorbild an. »Na«, erklärte er, »können wir uns die Situation vorstellen, dass z. B. Barack Obama mit Hillary Clinton konkurriert? Ich erinnere mich, dass beide in der engeren Wahl für das Amt des Präsidenten waren. Unmöglich, sich das vorzustellen! Beide aus der demokratischen Partei, und sie trafen eine Entscheidung um das beste Resultat zu erbringen. So eine Entscheidung haben wir auch getroffen.« Dass er das Machtpoker im Hinterzimmer mit dem amerikanischen Verfahren der Kandidatenernennung verglich, in der die Entscheidung zwischen Clinton und Obama in einem offen ausgetragenen politischen Wettbewerb durch Vorwahlen fiel, gab seinen Ausführungen etwas Groteskes.
In der Substanz begründete er den Schritt, Putin 2012 die Kandidatur für das Präsidentenamt zu überlassen damit, dass dieser der Politiker mit der größten Autorität im Lande sei, der die besten Ratings habe. Damit beschrieb er rückblickend die eigenartige Konstellation seiner eigenen Amtszeit, als der Politiker mit der höchsten Autorität das zweithöchste Amt innehatte, von vielen aber trotzdem für den eigentlichen Führer gehalten wurde. Auch ausländische Staatsgäste waren stets bemüht, ihn zu hofieren.
Dmitrij Medwedew verschwieg in seinem Interview auch, welche Diskussionen der Entscheidung vorausgingen. Dabei wird es nicht nur um die Verteilung von Ämtern, sondern auch um Einfluss und Ressourcenzugriff von Elitegruppen gegangen sein, aber auch um die zahlreichen politischen, ökonomischen und sozialen Probleme und die politischen Strategien zu ihrer Lösung. Nur an einem Punkt des ziemlich inhaltsleeren Interviews deutete Medwedew an, unter welcher Spannung die Beteiligten gestanden hatten. Auf die Frage, warum man die Kandidatur bereits am 26. September auf dem Parteitag von »Einiges Russland« bekannt gegeben habe und nicht erst im Dezember nach den Dumawahlen wie 2007, antwortete der Noch-Präsident, die Unruhe im Apparat, in der Beamtenschaft sei so groß gewesen, dass möglicherweise manch einer den Kopf verloren hätte, wenn man noch länger gewartet hätte. Diese Äußerung verrät etwas mehr über die Spannung, mit der die Eliten die Antwort auf die Kandidatenfrage erwartet hatten. Für diese ging es um Zukunft und Karriere, um die Frage, auf welche Machtkonstellation sie sich in den nächsten Jahren einstellen müssen.
Die Aufgaben eines Präsidenten
Nach vier Jahre »Tandemokratie«, bei denen der »erste Mann« der zweite war, hat nun die Ankündigung von Putins Kandidatur die Ordnung wiederhergestellt. Putin wird Präsident, Medwedew sein effizienter Gehilfe wie schon vor 2008. Ist damit wieder alles beim Alten? Schon Heraklit wusste, man steigt nie zweimal in denselben Fluss. Putins dritte Amtszeit ist keine einfache Fortsetzung seiner ersten beiden. Die Probleme haben sich gestaut, die internationale Finanzkrise und die drohende Senkung der Energiepreise behindern den Aufschwung der Volkswirtschaft.
Um die Optionen Putins richtig einzuschätzen, muss man sich vor Augen halten, in welchem Rahmen der russische Präsident agiert. Im Grundsatz muss er drei große Aufgaben lösen:
Er muss die relevanten Elitengruppen im Gleichgewicht halten und unter ihnen für einen Interessenausgleich sorgen. Nur wenn es gelingt, das Elitenkartell zusammenzuhalten, wird es gelingen, die politische Hegemonie der superreichen Minderheit über die Masse der Gesellschaft zu wahren. Putin und Medwedew haben diese Moderatorenrolle in den Jahren seit 2000 erfolgreich ausgeübt. Der Präsident muss aber auch die Gesellschaft integrieren und die Vorstellung bedienen, der Staat sei für alle Bürger da. Putin hat dies in zwei Amtszeiten erfolgreich getan – er war und ist der einzige Politiker, dem eine Mehrheit der Bevölkerung vertraut. Da das Vertrauen in Institutionen in Russland gering ist – für Parteien, Polizei, Gerichte, Parlament und Beamte haben die Massen nur Verachtung übrig –, ist das Vertrauen zur Person Putin das einzige Element, das die Bevölkerung an die Führungseliten binden kann.Schließlich muss der Präsident die politischen, sozialen und ökonomischen Problemen lösen. Dazu zählen etwa die Reform der sozialen Sicherungen und des Gesundheitswesens, die Bekämpfung der Armut und der Abbau der tiefen sozialen Gegensätze, der Ausbau der Infrastruktur, die Entwicklung von Bildung, Wissenschaft und Forschung auf einem international konkurrenzfähigen Niveau sowie die Schaffung einer leistungsfähigen verarbeitenden Industrie.
Die ersten beiden Aufgaben hatte Putin in seinen beiden Amtszeiten souverän gelöst. Großes Geschick als Moderator und eine ebenso erfahrene wie skrupellose PR-Regie haben ihm dabei geholfen. Im dritten Punkt – der Lösung realer Probleme – war er weniger erfolgreich. Gewiss hatte Putin Glück – das Ansteigen der Energiepreise seit 1999 verschaffte ihm die Möglichkeit, die Staatsfinanzen zu stabilisieren, Rücklagen zu bilden und Armut abzubauen. Doch ernsthafte Versuche, die Industrie umzustrukturieren, den Hochtechnologiesektor auszubauen, die Infrastruktur zu verbessern und Korruption zu bekämpfen, wurden nicht unternommen. Sein Nachfolger Medwedew war mit den Problemen konfrontiert, die Putin hinterlassen hatte, hat aber trotz erheblicher Anstrengungen nur geringe Fortschritte erzielt. Nun liegt die Verantwortung wieder in Putins Händen.
Die Aufgabenstellung für die Jahre 2012–2018
Der neue Präsident wird 2012 wohl die Politik fortsetzen, die er in den letzten Jahren maßgeblich mitgestaltet hat. Neuansätze oder neue Idee sind nicht zu erkennen. Dmitrij Medwedew versuchte bei der Präsentation des Kandidaten Putin in neun Punkten die mögliche Strategie zu umreißen. Danach setzte sich das Tandem folgende Ziele:
Modernisierung der Wirtschaft, des Bildungswesens und der Industrieanlagen, Verbesserung des Investitionsklimas und mehr Innovation; Erfüllung der sozialen Verpflichtungen, Anhebung der Löhne und Renten, Modernisierung des Gesundheitswesens;Bekämpfung der Korruption;Stärkung des Gerichtswesens, Durchsetzung von Unabhängigkeit, Transparenz und Ehrlichkeit;Wahrung des interethnischen und interreligiösen Friedens, Bekämpfung der illegalen Migration, der ethnischen Kriminalität und der Xenophobie;Schaffung eines modernen politischen Systems, in das alle – auch kleine soziale Gruppen – integriert werden sollen;äußere und innere Sicherheit;eine kluge Außenpolitik, die den Wohlstand und die Sicherheit der Bürger garantiert.
Das war im wesentlichen der Katalog, den Medwedew im Rahmen seiner Modernisierungskampagne 2009 entwickelt hatte. Putin nahm viele Punkte in seiner eigenen Rede auf, konzentrierte sich aber auf die Setzung konkreter Ziele: Er nannte ein Wirtschaftswachstum von 6–7 % (2011 betrug es 4 %), Verdoppelung des Verkehrswegebaus in zehn Jahren, Aufbau einer modernen Industrie, Umrüstung von Armee und Flotte in fünf bis zehn Jahren. Der Durchschnittslohn sollte bis Ende 2014 auf das Anderthalbfache steigen. Und er umriss noch einmal die Probleme:
»Man muss offen über die Abhängigkeit unserer Volkswirtschaft von den Weltrohstoffkonjunktur sprechen, über das gefährliche Niveau der sozialen Ungleichheit, der Gewalt, der Korruption, das Gefühl der Ungerechtigkeit und der Schutzlosigkeit, die Menschen oft beim Umfang mit Behörden, vor Gericht oder bei den Rechtsschutzorganen empfinden, über die Hindernisse für Initiativen im Geschäftsleben, im Staatsdienst und in der Gesellschaft – all das begleitet uns leider bis heute. Wir können und müssen diese Probleme überwinden. Können und müssen.«
Damit hatte der Noch-Ministerpräsident die wesentlichen inneren Probleme umrissen. Nichts davon war neu. Auch Putins Lösungsansätze waren nicht neu – Setzung von Planzahlen, Ankündigung von Erhöhungen. Eine finanz- und wirtschaftspolitische Strategie war nicht erkennbar. Über politischen Wandel und eine Erneuerung der Partei »Einiges Russland«, von denen bei Medwedew noch die Rede gewesen war, schwieg Putin sich aus. Dies steht offensichtlich nicht auf seiner Agenda. Das einzige, was in dieser Routineansprache ins Auge fällt, ist die Formulierung vom »gefährliche(n) Niveau der sozialen Ungleichheit«. Damit berührte er das Kernproblem der russischen Gesellschaft im Jahre 2011, das aber in den letzten Jahren nie so klar angesprochen wurde, wie dies Putin in seiner Rede am 26. September tat. Insgesamt war sein Programm, »Putins Plan«, aber banal und kann keine großen Hoffnungen für die Jahre ab 2012 wecken.
Verteilungskonflikte und Bevölkerungsvertrauen
Dass Putin oder Medwedew sich auf dem Parteitag zu Machtfragen äußern würden, stand nicht zu erwarten, und sie haben es auch nicht getan. Die Umverteilung von Ressourcen war und ist kein Gegenstand öffentlicher politischer Erörterung. Einigung über die Verteilung der Ressourcen ist aber die Basis der Geschlossenheit des Elitenkartells.
Hier konnte man im letzten halben Jahr der Amtszeit Medwedews einige verdeckte Verteilungskonflikte beobachten. Am spektakulärsten war die Ablösung des langjährigen Moskauer Bürgermeisters Luschkow. Seiner Amtsenthebung durch Präsidialdekret folgte eine Neuordnung des Finanz- und Immobilienimperiums, das Luschkow und seine Frau Jelena Baturina aufgebaut hatten. Ihre Hausbank, die »Bank of Moscow«, wurde an den Rand der Insolvenz gebracht und dann von der staatlichen Bank VTB (früher: Wneschtorgbank) gerettet. Inteko, der Baukonzern von Jelena Baturina, wurde für 1,2 Mrd. US-Dollar an Michail Schischchanow verkauft, der das Geld mit Hilfe der staatlichen Sberbank aufbrachte. Der Amtsenthebung Luschkows folgte die Zerschlagung des Konzerns Luschkow-Baturina.
Ein anderes Beispiel für verdeckte Verteilungskämpfe war die Auseinandersetzung zwischen den russischen Teilhabern der Energiefirma TNK-BP, Michail Fridman, Viktor Wekselberg, Leonard Blawatnik und German Chan einerseits und dem staatlichen Erdölkonzern Rosneft andererseits. Fridman und Co. hinderten Rosneft per Gerichtsbeschluss daran, eine Allianz mit dem britischen Ölmulti BP einzugehen, die Rosneft die Entwicklung von Lagerstätten im Nordmeer ermöglicht hätte. Rosneft, das angeblich auf die Unterstützung des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Igor Setschin und der silowiki, der »Geheimdienstler« in Putins Umgebung, rechnen kann, musste zurückstecken, schloss aber dann ersatzweise eine Allianz mit dem US-Konzern Exxon-Mobil. Hatte sich der Beobachter zunächst gefragt, ob Setschin und die Geheimdienstkreise an Einfluss verloren hätten, sah man, dass eine Alternativlösung gefunden wurde, die alle Beteiligten als Gewinner darstehen ließ.
Dies sind nur zwei Beispiele für Auseinandersetzungen innerhalb des Elitenkartells, mit dem die Administration Putin-Medwedew zusammengearbeitet hat und zusammenarbeiten wird. Dass sich solche Konflikte fortsetzen werden, steht zu erwarten. Besonders, wenn mit der Privatisierung der Staatsunternehmen – falls diese realisiert wird – den Apparaten Ressourcen entzogen und privaten Finanziers zugespielt werden. Die Moderatorenrolle des Präsidenten wird hier gefragt sein. Auch die Ausfälle von Finanzminister Aleksej Kudrin, der sich in Washington offen gegen Medwedew als Ministerpräsidenten ausgesprochen hatte und daraufhin abgelöst wurde, deuten auf Gegensätze innerhalb des Führungszirkels hin. Es wird eine der ersten Aufgaben der neuen Putin-Administration sein, für einen Ausgleich widerstreitender Gruppeninteressen zu sorgen.
Die andere große Aufgabe wird vielleicht noch schwieriger zu lösen sein – nämlich, die Gesellschaft wieder für die Administration zu gewinnen. Die Stimmung in der Bevölkerung war in der ersten Hälfte 2011 sehr schlecht. Die Ratings von Putin und Medwedew sanken, das Misstrauen gegenüber Verwaltung und politischen Institutionen hatte stark zugenommen. »Einiges Russland« wurde in den Medien offen als »Partei der Gauner und Diebe« bezeichnet, die von Putin im Frühjahr gegründete »Allrussische Nationale Front« weithin belächelt. Ob es gelingt, bei den Dumawahlen am 4. Dezember 2011 ohne direkte Fälschung eine hohe Wahlbeteiligung zu erreichen und für »Einiges Russland« ein Wahlergebnis um die 60 % zu erzielen, bleibt abzuwarten.
Die Wahlen sind der erste Test und werden zeigen, ob die Magie der Person Putin noch wirkt. In den nächsten beiden Jahren muss es dann aber wohl deutliche Wohlstandsverbesserungen für breite Schichten geben, will man die Bevölkerung für ein System Putin 2.0 gewinnen. Putin hat auf dem Parteitag von »Einiges Russland« angekündigt, das Durchschnittseinkommen solle bis 2014 auf das Anderthalbfache steigen. Es ist klar, dass dieses Versprechen mit dieser kurzfristigen Terminierung ein Versuch ist, die Bevölkerungsmehrheit für die neue Putin-Administration zu gewinnen. Basis einer gesunden Wirtschafts- und Finanzpolitik ist eine solche Ankündigung nicht.
Als besonderes Problem stellt sich schließlich die Mobilisierung und Integration der politisch aktiven Teile der Intelligenz und der Mittelschicht dar. Seit 2003 haben diese Gruppen keine politische Vertretung im Parlament, da die beiden liberalen Parteien, Jabloko und »Union der Rechten Kräfte«, damals unterhalb der Fünfprozentgrenze geblieben sind und sich nie erholt haben. Ein Versuch der Präsidialadministration, mit der »Rechten Sache« eine liberale Partei wiederzubeleben, ist an Konflikten zwischen der Administration und dem Milliardär Prochorow gescheitert, der das Projekt finanzieren und führen sollte, aber offensichtlich eine zu große Eigenständigkeit entwickelte. So wird auch im neuen Parlament die wachsende Mittelschicht keine politische Vertretung haben. Das kann zu einer politischen Hypothek für den neuen Präsidenten werden. Lösungsvorschläge sind nicht in Sicht.
So muss man konstatieren, die Entscheidung, Putin 2012 zum Präsidenten zu machen, ist kein Signal für eine neue Politik. Es ist Rückgriff auf einen Politiker, dem die Gesellschaft mehr vertraut als anderen. Neue Ideen sind von ihm und seiner Administration gegenwärtig wohl nicht zu erwarten. Diese Phantasielosigkeit könnte sich angesichts der gespannten wirtschaftlichen und sozialen Situation in den nächsten Jahren zum Problem entwickeln.