Die Besonderheiten des russischen Parteiensystems und die Grenzen des gelenkten Parteienwesens

Von Alexander Kynew (Moskau)

Zusammenfassung
In Russland gibt es keine Parteien im traditionellen westlichen Verständnis, da die Parteien wegen des Fehlens vollwertiger parlamentarischer Institutionen und der mangelnden Gewaltenteilung nicht normal existieren und funktionieren können. Parteien in Russland sind mit denen in westlichen Systemen daher nur bedingt zu vergleichen. Sie sind schwach und verfügen selten über eine stabile Identität. Dennoch stellen sie gesellschaftliche Netzwerke dar, die spezifische Wählergruppen mobilisieren können. Das gegenwärtige Parteiensystem entstand als Ergebnis einer umfassenden Reform des Wahlrechts und der Parteiengesetzgebung, die unter Wladimir Putin auf den Weg gebracht wurden. Kontrolle durch den Staat ist ein dominierendes Element. Die Exekutive hat sich praktisch das Exklusivrecht über die Entscheidung gesichert, wer zu Wahlen der Vertretungskörperschaften zugelassen wird – und wer nicht. Die Parteien sind somit praktisch »unter die Fuchtel« der staatlichen Bü- rokratie geraten. In der Praxis jedoch wirken sich jedoch die Widersprüche zwischen den Interessengruppen im Zentrum und in den Regionen aus. Das scheinbar gelenkte Parteiensystem könnte also sehr schnell Ver- änderungen erfahren, wenn sich die allgemeine politische oder wirtschaftliche Situation im Lande verändert.

Der Zustand des Parteiensystems

Das russische Parteiensystem kann nicht als Analogie zu den Parteien im Westen gelten. Doch es wäre ein Fehler, das russische Parteiensystem als eine völlige Fiktion anzusehen, in der die Parteien lediglich dekorative Gebilde sind.

Die Parteien in Russland sind schwach, ihre innere ideologische Identität wirft große Fragen auf, und dennoch stellen sie spezifische soziale Netzwerke dar, die über Kernwählerschaften unterschiedlicher Stabilität, Geschlossenheit und Zahlenstärke verfügen.

Die entscheidenden Gründe für den Zustand des derzeitigen Parteiensystems in Russland sind in den Besonderheiten der staatlichen Institutionen des Landes zu sehen. Der Prozess einer natürlichen Evolution des Parteiensystem in den 1990er Jahren wurde durch die außerordentlichen Ereignisse im Oktober 1993 unterbrochen, und das Parlament des Landes danach durch die Verfassung von 1993 von Anfang an der traditionellen Funktionen eines Parlamentsberaubt, während ein parteiloser Präsident über praktisch unbegrenzte Vollmachten verfügt.

Dieses System, in dem die Macht bei der auf personalistischem Fundament ruhenden Exekutive liegt, hat in vielerlei Hinsicht die Bedingungen für den allmählichen Niedergang gesellschaftlicher Strukturen, die Entartung des Instruments der Wahlen, die schrittweise Beseitigung freien politischen Wettbewerbs und das Entstehen eines »gelenkten Parteienwesens« geschaffen.

In einer Situation, in der die Repräsentativorgane über keine reale Macht verfügen, verlieren die Parteien in den Augen der Bürger ihre reale Existenzberechtigung, ungeachtet der 1993 eingeführten Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht und dem 2007 erfolgten Übergang zum reinen Verhältniswahlrecht bei den Wahlen zur Staatsduma. Unter diesen Bedingungen, wo es den Parteien ganz offensichtlich unmöglich ist, ihre Programme umzusetzen, verwandelt sich der Wettbewerb zwischen den Parteien aus einem Kampf der Ideen und Programme in einen Kampf um Parlamentsposten und Mandate, und die programmatische und ideologische Konfrontation gerät zur Imitation. Eine solche Imitation erzeugt ein weit verbreitetes Misstrauen der Bürger gegenüber den politischen Parteien, was seit langem in allen Umfragen festgestellt wird.

Aus diesem Grunde ist in Russland nicht einfach nur kein nachhaltig stabiles Parteiensystem entstanden, sondern es gibt auch keine Parteien im traditionellen Verständnis, da die Parteien wegen des Fehlens vollwertiger parlamentarischer Institutionen und der mangelnden Gewaltenteilung nicht normal existieren und funktionieren können.

Das Entstehen des »gelenkten Parteienwesens« der 2000er Jahre

Die Herausbildung des Herrschaftssystems einer superpräsidialen Republik brachte – ungeachtet der Elemente des Verhältniswahlrechts, die eingeführt wurden, um formal die Entwicklung der Parteien zu stimulieren – eine schrittweise Verschärfung der Vorschriften für die Bildung gesellschaftlicher Organisationen mit sich.

Unter Wladimir Putin wurde eine weitere Reform des Parteien- und Wahlrechts begonnen. Zunächst wurde 2001 das föderale Gesetz »Über die politischen Parteien« verabschiedet, das am 14. Juli 2001 in Kraft trat. Durch dieses Gesetz wurden mit Wirkung vom 14. Juli 2003 bei Wahlen auf nationaler oder regionaler Ebene politische Parteien zur einzigen Form von Wahlzusammenschlüssen. Einfacher ausgedrückt, waren regionale politische Parteien nun verboten und es wurde gleichzeitig die Zahl derjenigen Organisationen verringert, die zur Teilnahme an Wahlen auch auf nationaler Ebene berechtigt sind. Für die Registrierung einer Partei wurde als Voraussetzung eine Mindestmitgliederzahl von 10.000 für die Gesamtpartei sowie von jeweils 100 in mindestens der Hälfte der regionalen Parteigliederungen festgelegt.

Darüber hinaus verpflichtete das Gesetz die Parteien dazu, bei der Registrierung der regionalen Parteigliederungen dem Justizministerium ein Mitgliederverzeichnis der jeweiligen Gliederung vorzulegen. Dies behindert die Entwicklung oppositioneller Parteien, da in einer Reihe von Regionen Bürger vor einem Eintritt in eine solche Partei zurückschrecken, wenn die Regierungsbehörden von dieser Mitgliedschaft erfahren. Die Praxis zeigt, dass bei der Überprüfung der Mitgliedszahlen die Sicherheits- und Justizbehörden aktiv hinzugezogen werden. Es lässt sich angesichts der Praxis in Russland unschwer vorstellen, dass Bürger sich bei diesem psychischen Druck oft weigern, ihre Parteimitgliedschaft den Behörden gegenüber zu bestätigen.

Aber auch die Parteien selbst sind autoritär strukturiert: Die Leitungsgremien einer Parteien haben praktisch alle Möglichkeiten, eine beliebige Zahl an Mitgliedern oder gar ganze regionale Gliederungen aus der Partei auszuschließen.

Im Dezember 2004 wurde das Parteiengesetz um das Fünffache verschärft: Die Mindestmitgliederzahl einer Partei wurde auf 50.000 erhöht. Im Verlauf des Jahres 2006 mussten sich die Parteien einer Prüfung hinsichtlich der neuen Bestimmungen unterziehen oder aber sich auflösen. Anfang 2007 erfolgte daraufhin eine Zwangsauflösung vieler Parteien durch die Gerichte. Per Gesetz wurde eine Privilegierung der bereits in der Duma vertretenen Parteien gegenüber den anderen Parteien festgeschrieben. Unter anderem wurden die Dumaparteien von der Pflicht befreit, bei der Aufstellung der Kandidaten Unterstützerunterschriften einzureichen oder eine Bürgschaft zu hinterlegen. Zudem sind sie bei der Entsendung ihrer Vertreter in die Wahlkommissionen gegenüber den anderen Parteien in einer bevorzugten Lage.

In das Gesetz wurden bewusst praktisch unerfüllbare Vorgaben für die Mitgliederstärke der Parteien aufgenommen (d. h. die real als Kaderparteien existierenden Parteien wurden genötigt, Mitgliedermassen zu imitieren), so dass alle Parteien potentiell gegen Vorschriften verstoßen.

Ausdehnung der Staatskontrolle

Gleichzeitig gibt es in Russland keine Gleichbehandlung der verschiedenen politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen durch die Kontrollbehörden, keine einheitlichen Standards, die auf deren Tätigkeit angewandt werden, und keine einheitlichen Sanktionen für Verstöße gegen Gesetzesvorschriften. Die meisten Bestimmungen der nationalen Gesetzgebung sind nur dann erfüllbar, wenn die Registrierungs- und Aufsichtsbehörden der jeweiligen Organisation gewogen sind. Es besteht eine Politik der doppelten Standards, bei der bestimmte Vorschriften für die einen gelten, für die anderen jedoch nicht.

Die Gremien, die auf nationaler Ebene für die Registrierung der Parteien, für die Aufsicht über deren Tätigkeit und über bestimmte Haushaltsangelegenheiten der Parteien zuständig sind, werden direkt vom Präsidenten der Russischen Föderation ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. So hat sich die Exekutive praktisch das Exklusivrecht über die Entscheidung gesichert, wer zu Wahlen der Vertretungskörperschaften zugelassen wird – und wer nicht. Die Parteien sind somit praktisch »unter die Fuchtel« der staatlichen Bürokratie geraten.

In den Folgejahren wurden die Parteien- und Wahlgesetze ständig verschärft: 2005 wurde die Bildung von Wahlblöcken verboten, es wurden einheitliche Termine für die Regionalwahlen eingeführt, die Bedingungen für die Registrierung der Kandidaten wurden verschärft… Im Jahr 2006 wurde den Parteien verboten, Vertreter anderer Parteien auf ihre Kandidatenlisten zu setzen. Parlamentsabgeordnete dürfen nicht mehr von der Partei, die sie aufgestellt hatte, zu anderen wechseln. Im Frühjahr 2007 wurden Bestimmungen darüber erlassen, dass die Besetzung vakanter Mandate nach Gutdünken durch die Parteileitung erfolgt, ganz gleich, welchen Platz der Abgeordnete auf den Wahllisten inne gehabt hatte.

Die Staatsduma wird seit 2007 nach reinem Verhältniswahlrecht gewählt, gleichzeitig wurde die Sperrklausel von fünf auf sieben Prozent angehoben. Zwischen 2007 und 2011 ist die Sperrklausel auch in den meisten Regionen auf 7 % angehoben worden.

Zur Herstellung einer faktischen Kontrolle des Staates über die politischen Parteien haben zusätzlich die Vorschriften zur staatlichen Finanzierung politischer Parteien beigetragen. So beträgt seit dem 1. Januar 2009 die staatliche Förderung von Parteien, die bei den Wahlen mehr als 3 % der Stimmen errungen haben, zwanzig Rubel pro Jahr und erhaltene Stimme, statt zuvor fünf. Gleichzeitig mit dieser Förderung der »stärkeren« Parteien sind den schwächeren zusätzliche finanzielle Bürden aufgelastet worden: Jene Parteien, die keine 3 % der Stimmen erhalten haben, müssen die Kosten für die kostenlos bereitgestellte Sendezeit für Wahlwerbespots und die kostenlosen Anzeigenspalten in den Zeitungen begleichen, was eine Reihe von Parteien wegen drohender Insolvenz zur Selbstauflösung genötigt hat.

Parallel zur Parteienreform im Mai und Juni 2002 wurde das neue Gesetz »Über die grundlegenden Garantien zum Wahlrecht und der Teilnahme an einem Referendum für Bürger der Russischen Föderation« verabschiedet, durch das bei Wahlen zu den Regionalparlamenten mindestens 50 % der Abgeordneten über Parteilisten gewählt werden müssen. Diese Reform war Teil der allgemeinen Politik Putins gegenüber den Regionen, mit der die Abhängigkeit der regionalen Parlamente von der Moskauer Zentralregierung mindestens ebenso groß werden soll wie die Abhängigkeit von der jeweiligen Regionalregierung.

Gleichzeitig wurden bei immer mehr Wahlen zu kommunalen Vertretungen Parteilisten eingeführt, zunächst auf freiwilliger Grundlage. Ein Gesetz, das für Städte und Kreise, deren kommunale Räte aus mehr als 20 Abgeordneten bestehen, die Einführung eines gemischten oder des reinen Verhältniswahlrechts vorschrieb, ist erst 2011 verabschiedet worden, nun unter Präsident Medwedew.

Es hat sich also ein System herausgebildet, in dem die Abgeordneten in höchsten Maße von der innerparteilichen Bürokratie abhängig sind, und diese wiederum von der staatlichen Bürokratie. Das reine Verhältniswahlrecht schafft unter den Bedingungen des gelenkten Parteienwesens die Mechanismen für eine faktische Kontrolle über die Abgeordnetenschaft, und eben hierin wird auch das Ziel gesehen, mit dem es in immer mehr Bereichen und in dieser Form eingeführt wurde.

Die legalen Parteien

Die schwindende Zahl der Parteien, die zum legalen politischen Wettbewerb zugelassen sind, stellt sich wie folgt dar. Während an den Dumawahlen 2003 noch 44 politische Parteien teilnehmen konnten, so waren Anfang 2006 noch 37 übrig geblieben, und bei den Dumawahlen 2007 nur noch 15.

Gegenwärtig sind es sieben Parteien: Einiges Russland, die Kommunistische Partei (KPRF), Schirinowskijs Liberaldemokraten (LDPR), Gerechtes Russland, Jabloko, die »Patrioten Russlands« und »Rechte Sache«.

Seit 2004 ist mit Ausnahme des kremlfreundlichen Projektes »Rechte Sache« kein einziger Versuch einer Parteineugründung von Erfolg gekrönt gewesen, trotz der Bildung einiger Dutzend Initiativgruppen. Die anderen äußerlich »neuen« Projekte dieser Jahre (die »Patrioten Russlands« und »Gerechtes Russland«) sind in Wirklichkeit alte Parteien, die lediglich den Namen und die Führung gewechselt haben. Vor den Dumawahlen von 2011 hat die verweigerte Registrierung der »Partei der Volksfreiheit« (PARNAS) für das größte Aufsehen gesorgt, die von vier Anführern der demokratischen Opposition als Ko-Vorsitzende geleitetet wird (M. Kassjanow, W. Milow, B. Nemzow, W. Ryschkow). Im April 2011 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die gewaltsame Auflösung der Republikanischen Partei der Russischen Föderation im Jahre 2006 für rechtswidrig erklärt. Der Beschluss wird jedoch nicht umgesetzt: An Stelle einer Wiederherstellung der Partei schlug Justizminister A. Konowalow in einem Interview den ehemaligen Parteiführern eine Neugründung vor.

Medwedews »Reformen«

Ungeachtet der formal modernisierungsfreundlichen Rhetorik ist die reale Politik des neuen Präsidenten hinsichtlich einer Reihe tatsächlich wichtiger Parameter mit einer weiteren Verschlechterung der Situation verbunden gewesen: die Amtszeit des Präsidenten wurde auf sechs Jahre verlängert, die Wahlperiode der Staatsduma auf fünf; gesellschaftliche Organisationen haben nun nicht mehr das Recht, bei Kommunalwahlen eigenständig Kandidatenlisten aufzustellen; die Direktwahl der Bürgermeister wurde vielerorts abgeschafft und die Möglichkeit, zur Registrierung von Kandidaten eine Bürgschaft zu hinterlegen, wurde bei Wahlen auf allen Ebenen gestrichen.

Die zur Registrierung von Parteien beim Justizministerium erforderliche Mindestmitgliederzahl wurde nur symbolisch verringert. Mit dem 1. Januar 2010 wurde sie von 50 auf 45 Tausend gesenkt, und ab dem 1. 1. 2012 wird nur noch eine Mindestmitgliederzahl von 40.000 verlangt, was den repressiven Charakter des Gesetzes kaum ändert.

Parteien, die bei Dumawahlen zwischen 5 und 7 % erreichen, wurden einige geringe Privilegien zugesprochen (derzeit bekommen diese Parteien »Trostmandate«, bei einem Stimmenanteil von 5–6 % eines, bei über 6 bis 7 % zwei Mandate). Nun können Parteien, die zwischen 5 und 7 % der Stimmen errungen haben, an der Besetzung der Wahlkommissionen teilhaben, und sie können bei Wahlen auf allen Ebenen Kandidaten und Kandidatenlisten ohne Unterstützerunterschriften registrieren lassen. Zudem können sie in der Zeit zwischen den Dumawahlen nicht mehr wegen des Fehlens von Regionalgliederungen mit der jeweils erforderlichen Mindestmitgliederzahl in mehr als der Hälfte der Föderationssubjekte oder wegen mangelnder Gesamtmitgliederzahl aufgelöst werden.

Am 20. März 2011 hat Präsident Medwedew ein Änderungsgesetz zum Gesetz über die grundlegenden Wahlrechtsgarantien und zum Gesetz »Über die allgemeinen Organisationsprinzipien der lokalen Selbstverwaltung« unterzeichnet, durch das nun mindestens die Hälfte der Abgeordneten der kommunalen Vertretungen in Stadt- und Kreisgemeinden über Parteilisten zu wählen sind, wenn der Rat insgesamt 20 oder mehr Abgeordnete zählt.

Die Evolution der Parteien und die Grenzen ihrer Lenkbarkeit

Die beschriebenen Bedingungen für die Tätigkeit der Parteien in Russland führen nicht nur dazu, dass das bestehende Parteiensystem künstlichen konserviert wird und die Bildung neuer Parteien praktisch unmöglich ist.

Die formale Umwandlung von äußerst schwachen und des öfteren fiktiven Parteien zu Mittlern, mit deren Hilfe die Bürger ihr passives Wahlrecht wahrnehmen sollen, hat durch die Einführung der Parteilisten von Anfang an auch erhebliche Korruptionsrisiken mit sich gebracht.

Wie zu erwarten, hat eine aktive Diffusion von regionalen Gliederungen der meisten Parteien eingesetzt, deren ideologische Identität bereits früher aus institutionellen Gründen in vielerlei Hinsicht schwach ausgeprägt war. Der Aufkauf einer Reihe dieser Parteigliederungen durch Personen, die über die entsprechenden finanziellen und administrativen Mittel verfügen, hat die Umwandlung vieler lokaler Parteigliederungen in PR-Strukturen ohne ideologischen Anstrich nur verfestigt. Natürlich gibt es in den Parteien einen mehr oder weniger stark ausgeprägten ideologischen Kern, doch ist dieser bei den verschiedenen Parteien in unterschiedlichem Umfang in der jeweiligen Mitgliederschaft verankert. Und diese Kerne existieren nicht wegen, sondern trotz der Umstände. Am deutlichsten ist dies noch bei den Linken (KPRF) und den Liberalen (Jabloko und früher die Union der rechten Kräfte, SPS) der Fall. Unter dem Druck der allgemeinen Spielregeln verwischen jedoch auch diese Parteien allmählich ihren ideologischen Kern.

Die beschriebene Entwicklung führt dazu, dass sich innerhalb der Parteien die einzelnen Gliederungen immer stärker voneinander unterscheiden, sowohl in ihren realen Interessenlagen als auch in den von den Anführern verkündeten formalen Haltungen.

Durch die verringerte Anzahl von Parteien sind die Elitengruppen in die wenigen verbliebenen Parteien geströmt, wobei die Wahl der neuen Partei in vielerlei Hinsicht von Ausweglosigkeit diktiert war.

Am schwersten hat es Einiges Russland als die für jeden karrierebewussten Politiker und Geschäftsmann attraktivste Partei. Im Großen und Ganzen lassen sich heute im Einigen Russland Ex-Mitglieder aus allen bestehenden oder ehemaligen Parteien wiederfinden. Die Moskauer Zentrale war bestrebt, mit formellen und informellen Mitteln Vertreter einer möglichst großen Zahl einflussreicher lokaler Gruppen auf ihre Listen zu setzen, um deren Wählerschaften zu akkumulieren. Naturgemäß hat dies zu einer noch stärkeren ideologischen Erosion einer Partei geführt, die von Anbeginn als Konglomerat der Nomenklaturen aller Ebenen aufgebaut wurde. In einigen Regionen sind praktisch »Parteien in der Partei« entstanden, in der Dumafraktion von Einiges Russland bilden sich »Agrargruppen« und ähnliche Zusammenschlüsse von Abgeordneten. In der Partei selbst sind auf nationaler Ebene »Klubs« entstanden (Zentrum für sozial-konservative Politik, Klub »4. November«, Staats-Patriotischer Klub). Ein Versuch jedoch, im Einigen Russland eine strenge Parteidisziplin einzuführen oder in bestimmten Regionen auf diese oder jene konkrete Elitengruppe zu setzen, würde unweigerlich die übrigen Gruppen brüskieren und jene Wähler abstoßen, die sich an ihnen orientieren.

Die Personalpolitik innerhalb des Einigen Russland erinnert daher auch immer mehr an ein Chaos: Einerseits wird der Versuch fortgesetzt, um jeden Preis jeden in die Partei einzubeziehen, der bei irgendeiner Wahl, ganz gleich auf welcher Ebene, gesiegt hat, und egal wer er vor dieser Wahl gewesen war. Andererseits macht die Unmenge miteinander in Konflikt stehender Gruppierungen innerhalb der Partei einen Ausgleich zwischen ihnen unmöglich, was zu offenen Kämpfen zwischen Personen führt, die doch formal Parteigenossen sind.

Im Vorfeld der Wahlen ist eine ständige Wanderung von Abgeordneten und Kandidaten zwischen formal rechten und linken Parteien zu verzeichnen, und zwar in beiden Richtungen.

Kandidaten und Parteiprestige

Insgesamt erfolgt die Aufstellung der Parteilisten in der Regel nach dem Prinzip, als potentieller Kandidat erzwungenermaßen dort unterzukommen, wo es die eigenartige Prestigehierarchie erlaubt. Die Eliten versuchen in erster Linie einen Platz auf der Liste von Einiges Russland zu erhalten, und erst in zweiter Linie auf den Listen anderer Parteien, was an Versuche von Studenten erinnert, sich sicherheitshalber bei mehreren Universitäten zu bewerben.

Die formale normative Stärkung der Rolle der Parteien geht auf diese Weise mit einer noch stärkeren faktischen inneren Zerstörung und einem Profilverlust einher. Von diesem Profilverlust ist mittlerweise auch immer stärker die KPRF betroffen, die einst die am stärksten ideologisierte Partei war, und der nun die Kraft fehlt, dieser allgemeinen Tendenz zu widerstehen.

Zur Verteidigung der Parteien lässt sich jedoch gleichzeitig sagen, dass zum einen ihre Abhängigkeit vom Staat eine erzwungene ist und zweitens eine Änderung der politischen Lage und mögliche Spaltungen innerhalb der Eliten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit Änderungen im strategischen Vorgehen der Parteiführern mit sich bringen würde.

Diese Spezifik des russischen Parteiensystems erzeugt nicht nur Ströme von Kandidaten, die zwischen den Parteien wechseln, sondern auch ein Wählerverhalten, bei dem der Wähler mit Leichtigkeit jede der »Alternativen« zu Einiges Russland wählen kann – lediglich in Abhängigkeit davon, welches Stimmverhalten ihm produktiver erscheint (indem etwa die Alternative mit den besten Umfragewerten gewählt wird), welcher konkrete Kandidat persönlich unterstützenswerter, oder welcher Wahlkampf oder Gegenwahlkampf am besten erscheint. Die Protestwähler sind im heutigen Russland entideologisiert, und die Spaltung der Wählerschaft verläuft zwischen der »Partei der Macht« (status quo) und »allen anderen«. Es bestehen zwar ideologische, stilistische und andere Unterschiede zwischen den »Alternativen«, doch sind sie vor diesem Hintergrund nicht wesentlich.

Fazit

Was hat nun die Zentralmacht durch eine solche Evolution des Parteien- und Wahlsystems erreicht, und ist auf nationaler und regionaler Ebene eine Lenkbarkeit der Wahlen hergestellt worden? Formal ist diese Lenkbarkeit in vielerlei Hinsicht erreicht worden, herrscht doch äußerlich die Dominanz einer einzigen Partei. In der Praxis jedoch sind die Widersprüche zwischen den lokalen Interessengruppen in den Regionen keineswegs verschwunden, es hat sich lediglich die Form geändert, in der sie ausgetragen werden. Der Wettbewerb zwischen den Parteien wird jetzt durch einen innerparteilichen Wettbewerb ersetzt, mal über öffentliche innerparteiliche Konflikte und Skandale, mal mit saftigen Intrigen und anonym geführten Medienkriegen. In vielen Fällen findet beides gleichzeitig statt.

Das scheinbar gelenkte Parteiensystem könnte also sehr schnell Veränderungen erfahren, wenn sich die allgemeine politische oder wirtschaftliche Situation im Lande verändert.

Übersetzung: Hartmut Schröder

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des gemeinsamen Projektes von GOLOS, Europäischem Austausch, Heinrich Böll Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.

Lesetipps / Bibliographie

  • Stephen White: Elections Russian-Style, in: Europe-Asia Studies, 63.2011, Issue 4, S. 531–556.
  • Stephen White; Ol‘ga Kryshtanovskaya: Changing the Russian Electoral System: Inside the Black Box, in: Europe-Asia Studies, 63.2011, Issue 4, S. 557–578.
  • Stephen White; Valentina Feklyunina: Russia’s Authoritarian Elections: The View from Below, in: Europe-Asia Studies, 63.2011, Issue 4, S. 579–602.

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