»… eine moralische Niederlage der Partei der Macht«. Beim Durchblättern der regierungskritischen russischen Presse

Von Falk Bomsdorf (München)

Zusammenfassung
Die »Nowaja gaseta« und die »Nowoe wremja/The New Times« tragen in Verbindung mit dem Internet, in dem ihre Artikel ständig präsent sind, zu dem Ausmaß von Offenheit und Öffentlichkeit (glasnost) bei, ohne das der gegenwärtige demokratische Aufbruch in Russland nicht möglich wäre. Im Folgenden werden in der notwendigen Kürze Artikel aus der ersten Nachwahlausgabe von »Nowaja gaseta« und »The New Times« vorgestellt, in denen Ergebnisse und Durchführung der Wahlen vom 4. Dezember kritisch beleuchtet werden. Die Beiträge wurden, wohlgemerkt, sämtlich vor den Protesten in Moskau am 6.12. und natürlich vor der großen Demonstration am 10.12. geschrieben.

Fälschung und Verstöße

Die Berichte über Verstöße gegen die Wahlgesetze, über offene Fälschungen und sonstige Unregelmäßigkeiten ziehen sich durch beide Publikationen; dabei stößt der Leser immer wieder auf dieselben Methoden, mit denen nach den Schilderungen der Autoren vorgegangen wurde. In nahezu allen Artikeln wird der Stimmenanteil von Einiges Russland (ER) als zu hoch bezeichnet. Besonders weit geht »The New Times« im Eingangsbeitrag der Redaktion: ER habe fast 15 Millionen ihrer bisherigen Wähler verloren und insgesamt nicht mehr als 40 % der Stimmen erhalten. Und dies auch nur, weil ER in »odiosen Regionen« – angeführt werden Tschukotka, Tywa, Tschetschenien – nahezu 100 % Stimmenanteil erreicht habe.

Das Vorgehen »der Macht« gegen GOLOS und andere (Zeitungen, soziale Netzwerke, NGOs), vor allem also die Abschaltung der entsprechenden Webseiten, wird in »The New Times« (E. Mostowschtschikow/I. Barabanow, »GOLOS im Visier«) mit dem (von Alexander Kynew stammenden) Satz gekennzeichnet: »Der Angriff auf GOLOS illustriert sehr gut die mittelalterliche Übung, den Überbringer einer schlechten Nachricht zu erschlagen.« Die Bürger hätten auf keinen Fall erfahren sollen – so die hinter diesem Vorgehen steckende Motivation –, dass und mit welchen Mitteln die Macht versucht habe, die Wahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Dieser Versuch ist, wie auch in beiden Publikationen deutlich wird, gründlich fehlgeschlagen. Dmitrij Oreschkin, einer der deutlichsten Kritiker »der Macht«, berichtet in der »Nowaja« (»Benennen wir die wirklichen Ergebnisse in Moskau«) unter Berufung auf seine Gewährsleute von Einzelfällen in der Hauptstadt und hebt dabei einen hervor, in dem in ein- und derselben Schule zwei Wahllokale untergebracht waren, in denen, nach Herkunft und Zusammensetzung zu urteilen, dieselben Menschen abstimmten. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass in einem Wahllokal die Mitarbeiter des Projektes »Bürgerbeobachter« (»Grashdanin nabljudatel«) tätig waren, im anderen nicht. Im beobachteten Wahllokal erhielt ER 26 %, dort, wo kein Beobachter des Projektes anwesend war, bekam die Partei 41 %. Entsprechendes könne man, so offenbar ist Oreschkin zu verstehen, für ganz Moskau und ganz Russland feststellen.

Methoden wie in Tula

Dem Bericht aus Tula von Vladimir Timakow in der »Nowaja« (»Wie die der Verfassung nicht entsprechende Mehrheit geschaffen wurde«) ist zu entnehmen, dass dort die Wahlbeteiligung mit 74 % und der Stimmenanteil von ER mit 62 % anderthalbmal so hoch wie in den benachbarten Städten Kaluga, Orel und Rjazan waren. Die örtlichen Parteigrößen erklärten das damit, dass in Tula der Vorsitzende der Staatsduma, Boris Gryslow, die Liste von ER anführte. Den Skeptikern, so Timakow, entlocke das allerdings allenfalls ein Lächeln, entsprächen doch weder die Popularität Gryslows noch sein Bekanntheitsgrad den verkündeten Zahlen.

Im Übrigen machen die Wahlen in Tula den Druck der Macht deutlich, der auf den in der Stadt Verantwortlichen lastete, und der zu deren beträchtlichem Erfindungsreichtum führte. Am Vorabend der Wahlen, so die Geschichte in den Worten von Timakow, sei den Vertretern der Oppositionsparteien privatim vorgeschlagen worden, keine eigenen Beobachter zu den Wahlen zu schicken, sondern diejenigen zu akzeptieren, die ER benenne. Die Tulaer Kommunisten hätten sich darauf ebenso wenig eingelassen wie die örtlichen «Jablotschniki« [Mitglieder der Partei »Jabloko«] und die Entsendung eigener Beobachter angekündigt. Doch dazu kam es nicht, oder jedenfalls nicht im erforderlichen Ausmaß: Fast alle Mitglieder der Wahlkommissionen in den einzelnen Wahllokalen von Seiten der KPRF konnten am Morgen ihre Wohnungen nicht verlassen, weil ihre Türen mit Industriekleber verschlossen worden waren. Die Beobachter von Jabloko kamen zwar aus ihren Wohnungen, mussten aber in einzelnen Wahllokalen feststellen, dass dort bereits entsprechend ausgewiesene Vertreter von Jabloko saßen, die ihnen allerdings sämtlich unbekannt waren. Es dauerte geraume Zeit und bedurfte beträchtlicher Anstrengungen des Vorsitzenden des Regionalverbandes von Jabloko, um die Verantwortlichen in den Wahllokalen davon zu überzeugen, dass die Dokumente, welche die falschen Jablotschniki vorgelegt hatten, nicht echt waren. Schneller ging die Entlarvung im Falle zweier anderer ungerufener Vertreter von Jabloko vonstatten: Sie erwiesen sich als Staatsbürger Tadschikistans.

Nach einer Schilderung zahlreicher weiterer Verstöße gegen die Wahlgesetze schließt der Autor mit der sarkastischen Bemerkung, am Morgen nach dem Wahltag könne die Tulaer Sektion von ER zu Recht ausrufen: »Klarer Sieg!« Timakov fügt als Postskriptum hinzu: Trotz allem solle man unbedingt zu den Wahlen gehen. Die gegenwärtigen Fälschungsmethoden beruhten in ihrer Mehrheit auf der Nutzung der Stimmen derjenigen, die nicht zur Wahl gegangen sind.

Lügner und Kleptokraten

Mit Blick auf die politische Einordnung der Wahlen findet Dmitri Oreschkin in der »Nowaja«, nichts anderes sei zu erwarten gewesen von den Erben eines Systems, das seinerzeit seinen Bürgern ins Gesicht gelogen habe, indem es die UdSSR als in jeder Hinsicht blühenden Staat hingestellt habe. Heute wie damals seien es die gleichen Kader, die entsprechend handelten: weil es von ihnen verlangt werde. Es sei kennzeichnend, so Oreschkin, dass Präsident Medwedew den Gouverneuren bedeutet habe, sie könnten ihren Hut nehmen, sofern sie nicht für die erforderliche Zahl von Stimmen für ER sorgten. Diejenigen aber, die »auf erbarmungslose Weise« die notwendige Prozentzahl sicherstellten, würden belobigt und befördert. Wer es noch nicht begriffen habe, dem müsse es jetzt angesichts der Wahlen klar werden: wie die Putinsche Machtvertikale konstruiert sei und welche Figuren sie hervorbringe.

Deutliche Worte findet einmal mehr auch Julia Latynina, eine der kritischsten Stimmen in der Moskauer Medienlandschaft. In der »Nowaja« beklagt sie (»Jeder für sich alleine«), dass die Macht den Begriff der Wahlen seines Sinnes entleert habe: Nicht eine einzige Partei habe sie zugelassen, der man die Bezeichnung »Opposition« zubilligen könne; darüber hinaus habe sie die Möglichkeit, »gegen alle« zu stimmen, durch Streichung der entsprechenden Rubrik abgeschafft. Gleichzeitig habe sie alle Mittel der Agitation und der Fälschung eingesetzt, um ER zu befördern. Es habe alles nichts genützt: Nicht einmal 50 % habe die Partei bekommen. Die Autorin sieht damit die Macht des Arguments beraubt, das sie bisher in der Tat stets verwendet hat, wenn ihr Handeln in Zweifel gezogen wurde: Die Bevölkerung sei in ihrer Mehrheit für die Staatspartei.

Die Wahlen haben gezeigt, dass dies nun nicht mehr so ist. Die Gründe für diese Entwicklung liegen für Latynina in der Natur der Kleptokratie, als die sie das gegenwärtige System sieht: Das Regime sei – ein ambivalentes Argument – trotz aller Kontrolle außerstande, ein ausreichendes Maß von Zwang anzuwenden, um die erwünschten Resultate zu erzielen. Darüber hinaus sei, so Latynina, die Beeinflussung der Wähler durch die Macht an ihre Grenzen gestoßen ist. Man könne der Öffentlichkeit vieles vormachen, vieles aber auch nicht. Insbesondere die »totale Korruption, die völlige Zersetzung der herrschenden Klasse, das Verschwinden des Staates … als einer Institution, die dem Schutz der Rechte und der Freiheit der Bürger dient«, könne »die Macht« nicht manipulativ zum Verschwinden bringen: weil jeder Bürger in Russland seine eigenen Erfahrungen mit diesen Erscheinungen gemacht habe und stetig neu mache. Latyninas Fazit: Das System zerstört sich selbst – mit angsteinflößender Schnelligkeit: »Die nächsten Wahlen wird es nicht überleben.«

Das Newtonsche Gesetz

Slawa Taroschtschina, auch sie eine der Zierden der russischen Journalistenzunft, ist da nicht so sicher. Ebenfalls in der »Nowaja« meint sie zum Schluss ihres Artikels (»Die Verletzten der Machtvertikale«), erneut bleibe die Frage unbeantwortet, was auf das Land und seine Menschen zukomme. Klar sei eines: Alle müssten lernen, anders als bisher zu leben. In jedem Fall und trotz des guten Abschneidens der KPRF sei der Wahlausgang letztlich als positiv zu werten: Das Fernsehen habe seinen Wettkampf mit dem Internet verloren. Und zwar deshalb, weil die für das Fernsehen Verantwortlichen – Taroschtschina hat ihren Physikunterricht offenbar nicht vergessen – das Newtonsche Gesetz ignoriert hätten: Aktion gleich Reaktion. »Der zynische, grenzenlose und widerliche Druck auf die Wähler« habe einen entsprechenden Gegendruck erzeugt, nämlich einen wesentlichen Rückgang des Ratings von ER und damit das Gegenteil des Gewollten.

Das Internet habe damit – so das Fazit von Slawa Taroschtschina – das Unmögliche geschafft: Es habe das Land aus seiner Lethargie geweckt und das geistige Klima verändert. Mit dem Einheitsdenken und -fühlen sei es nun zu Ende. Und das heißt, so die Autorin: Es gibt eine neue Machtkonstellation. Vorbei sei es nun, so lässt Taroschtschina erkennen, mit Figuren wie Vladimir Tschurow, dem Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, der das punktuelle Abschalten des Internets durch »die Macht« – ein ernsthaft nicht zu bestreitender Vorgang – mit Worten kommentiert hat, die in den ewigen Sprachschatz der russischen Politik eingehen dürften: »Die Mitteilung über eine Verletzung (sc. der Wahlgesetze) bedeutet nicht das Vorliegen einer Verletzung.«

Auch Jewgenija Albaz, die Chefredakteurin von »The New Times«, unterstreicht in ihrer Kolumne (»Furcht«) die Bedeutung des Internet, und zwar auch und besonders mit Blick auf die Regionen Russlands. Die sozialen Medien erlaubten der Macht nicht mehr, die in von Moskau weit entfernten Städten Protestierenden still und heimlich »in den Boden zu stampfen«, wie das seinerzeit in Nowotscherkassk geschehen sei. Das Internet vervielfache den Protest einzelner und erzeuge schließlich den Protest von Millionen und damit ein gemeinsames Handeln, welches der Kreml so sehr fürchte. Mit Blick auf die Zukunft meint Albaz, einen Aufstand gebe es – noch – nicht. Doch wenn die Macht sich nicht besinne, könne er sich »in seiner ganzen Größe« erheben.

Die Bewertung der Wahlen durch »The New Times« kommt in der Überschrift zum Ausdruck, die die Redaktion ihrem Eingangsartikel gegeben hat: »Das ist eine öffentliche moralische Niederlage der Partei der Macht.«

Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz. – Foto: Christoph Laug

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Kommentar

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