Rückblick auf die Dezemberdemonstrationen
Die (Neujahrs-)Feiertage boten die Gelegenheit, die stürmischen politischen Ereignisse des Dezembers zu bewerten und zu versuchen, die durch sie aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Antworten auf die erste naheliegende Frage – Warum gingen in Moskau Zehntausende auf die Straßen und was wollten sie? – sind im Grunde gegeben. Die Menschen waren der Lügen der Machthaber müde und wollten ehrliche Wahlen. Eine weitaus wichtigere Frage blieb bislang jedoch unbeantwortet – was sind die realen Folgen der Proteste im Dezember? Ihre Beantwortung erfordert einen Blick auf verschiedene historische Analogien. Unterdessen können sich diese Analogien, wie es in der Geschichte so oft der Fall ist, als nützlich erweisen für das Verständnis dessen, was die Ereignisse in Russland nicht sind.
Erste Analogie: »Bunte Revolutionen« oder »Arabischer Frühling«?
Die von niemandem vorhergesehenen und im Frühling 2011 spontan ausgebrochenen Revolutionen in Tunesien, Ägypten und Libyen, die mit dem Sturz und der rechtlichen Verfolgung der korrumpierten Diktatoren endeten, veranlassten viele Vertreter der russischen »demokratischen Opposition« dazu, dem Putin-Regime eine ähnliche Entwicklung zu prophezeien – allerdings nicht früher als in 5–7 Jahren, wenn alle Reserven zur Neige gehen und nichts verbleibt, um die sozialen Bedürfnisse zu finanzieren. Dieser Vergleich funktioniert jedoch nicht – im Nahen Osten (wie übrigens auch in Kirgistan in den Jahren 2005 und 2010) bestand die Masse der Protestierenden aus jungen Arbeitslosen der unteren sozialen Schichten und die Proteste mündeten bei dem Zusammenstoß mit der Staatsmacht in Blutvergießen. Im Gegensatz dazu versammelten sich in Moskau auf dem Bolotnaja-Platz und dem Sacharow-Prospekt erfolgreiche und gebildete Stadtbewohner im Alter von 30 bis 45 Jahren. Und die Demonstranten bemühten sich mit allen Mitteln um eine Vermeidung gewaltsamen Widerstands.
Bezüglich der sozialen Zusammensetzung der Protestierenden und des Charakters der Proteste (inklusive des grundlegenden Anlasses – der Wahlfälschungen) kommen die Moskauer Ereignisse auf den ersten Blick der ukrainischen »Orangen Revolution« von 2004/ 2005 wesentlich näher. Indessen besteht auch hier ein sehr gewichtiger Unterschied. Hinter den Protesten auf dem Maidan stand eine reale politische Konkurrenz, die sich auf starke Oppositionsparteien unter der Führung Juschenkos und Timoschenkos stützte. Darüber hinaus wurde die Opposition von einem bedeutenden Teil der nationalen Unternehmer unterstützt und finanziert. Ähnliches gab es in Moskau nicht – unsere »außersystemische Opposition« hat sich für Proteste solchen Maßstabes klar als noch nicht bereit erwiesen und aus der Reaktion der meisten Protestierenden auf die Auftritte der oppositionellen Hauptakteure wurde ersichtlich, dass diese die Meinung der vor der Bühne Versammelten nicht zum Ausdruck brachten.
Zweite Analogie: »70 – 80« und neue »Perestroika«
In den vergangenen zwei bis drei Jahren des Putinschen Jahrzehnts wurde der Vergleich mit der »späten Breshnew-Ära« sehr beliebt. Es ist auch der Begriff »70 – 80« aufgekommen, der den Leser in die 1970er und 80er Jahre versetzt und zugleich auf den Ölpreis von 70–80 Dollar pro Barrel verweist, der nach Ansicht von Experten heute die Aufrechterhaltung der Stabilität des politischen Regimes ermöglicht. Auf die gleiche Analogie beziehen sich die Führer der »Opposition«, die den 3. Massenprotest für den 4. Februar planen – das heißt an dem Tag, an dem vor 22 Jahren 400.000 Moskauer auf dem Gartenring marschierten, nachdem der Oberste Rat der Sowjetunion den Artikel über die »führende und leitende Rolle der KPdSU« aus der Verfassung gestrichen hatte.
Dennoch kann man die Periode der 1970er und 1980er Jahre, die eindeutig als »stagnierend« zu bezeichnen sind, nicht mit den 2000er Jahren vergleichen, obgleich diese allem Anschein nach durch wachsende Korruption und fehlende Innovationen gekennzeichnet waren. Weitaus angemessener ist meiner Ansicht nach der Vergleich zu ganz anderen Perioden der sowjetischen Geschichte – nämlich zu den 1920er Jahren. Zum ersten Mal bin ich diesem vor drei Jahren begegnet, als auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in einem informellen Gespräch über den Zustand und die Struktur unserer Eliten plötzlich die für die 1920er Jahre charakteristischen Begriffe »bourgeoise Experten« und »militärische Spezialisten« fielen. Eben diese Begriffe verwendeten die Kollegen, die das bestehende System der Entscheidungsfindung aus dem Innern heraus kennen, zur Beschreibung der Beziehungder Moskauer »Liberalen Technokraten« zu der »Petersburger Gruppe«, die den Kern der heutigen Führungselite bildet.
Die Assoziation mit den 1920er Jahren kam mir auf der Konferenz »Twenty years after the collapse of the Soviet Union«, die Anfang Dezember 2011 in Berlin stattfand, erneut in den Sinn. Neben Wirtschaftswissenschaftlern waren dort auch Historiker, Soziologen und Literaturwissenschaftler vertreten. Ihre ganz verschiedenen Vorträge und auch Gespräche am Rande der Veranstaltung haben in mir ein interessantes Gefühl wachgerufen. Sowohl in den 1920er Jahren als auch in den 2000ern hat die Stärkung des politischen Regimes auf der Stützung durch nur eine Partei basiert. Wie in den 1920er Jahren verschwindet auch heute die Vielfalt der Massenmedien, unliebsame Unternehmer werden inhaftiert oder ins Exil gedrängt, die Miliz zerschlägt die Versammlungen der Opposition und Einzelne, wie derzeit der Blogger Nawalny, decken staatliche Korruption auf. Erinnern wir uns, dass auch damals der Kampf mit der Bürokratie beliebt war, die Trotzkisten wie heute die Opposition verfolgt wurden und die Versammlungen wie auch heute vor allem in den Hauptstädten stattfanden. Daneben entsteht eine Vielzahl neuer Bücher, Filme und Theaterstücke und die soziopolitische Diskussion blüht. Mit anderen Worten folgten in beiden Fällen auf das große Chaos und die Zerstörung ein Jahrzehnt des Wirtschaftswachstums und ein aktives gesellschaftliches Leben.
Es ist bekannt, wie die 1920er Jahre endeten und was mit den »bourgeoisen Experten« und »militärischen Spezialisten« geschah. Die regierenden Eliten versuchten den objektiven Widerspruch zwischen Stadt und Land durch Kollektivierung und Industrialisierung aufzuheben, die durch eine permanente »Suche nach Feinden«, gefolgt durch den »Roten Terror«, begleitet wurden. Der Widerspruch eines nicht ausgeglichenen Wachstums wurde auch in den 2000ern ersichtlich. Und die faktische Nationalisierung der Produktion von Bodenschätzen, die nach dem »Fall JUKOS« stattfand, war eine Reaktion auf ernste soziale Widersprüche und Ungleichverteilung zu Beginn der 2000er Jahre. Kann die heutige Regierung ihre »Suche nach den Feinden« dennoch fortsetzen und Massenrepressionen veranlassen?
Meine Antwort lautet: nein. In den 1920er Jahren wurde das Land durch einen quasi-religiösen Orden geführt, dessen Vertreter meist fanatisch an die verkündeten Ideen glaubten und bereit waren, für die Verwirklichung dieser Ideen zu sterben bzw. die Hälfte des Landes zu töten. Die heutige Führungselite besteht nicht aus Fanatikern, sondern aus Pragmatikern. Und sie ist von Europa und den USA in stärkerem Maße abhängig als alle unsere »Oppositionellen«, weil ihre Kinder in London, ihre Villen an der Côte d’Azur und die Bankkonten in der Schweiz und auf den Bahamas sind. Darüber hinaus zeigten die Beispiele Mubaraks und Gaddafis kürzlich, dass die aus dem Land gebrachten Milliarden nichts mehr retten konnten. Trotz aller demonstrierten Analogien zu den 1920er Jahren kann der Pragmatismus der herrschenden Eliten zum Ausgangspunkt für eine positive Entwicklung des Landes und zu Kompromissen mit der Gesellschaft werden – insofern diese Leute im Unterschied zu den »ideologischen Leninisten« mehr als Macht zu verlieren haben.
Auf diese Weise erlaubt der Vergleich mit den 1920er Jahren die Beantwortung der Frage, warum die Machthaber im Dezember das Kommando zur Gewaltanwendung eindeutig nicht gaben – und vor allem auch in Zukunft nicht geben werden. Dennoch kann dieser Vergleich die Situation seitens der Protestierenden nicht erklären – welches positive Programm kann die unterschiedlichen Menschen wirklich vereinen, die an den Dezemberprotesten in Moskau teilnahmen?
Dritte Analogie: Die »Progressiven« des 21. Jahrhunderts?
Es war eine Zeit lang populär die russischen 1990er Jahre mit dem »wilden Kapitalismus« der USA Ende des 19. Jahrhunderts verglichen. Dieser Vergleich bezog sich üblicherweise auf das Funktionieren des Marktmechanismus und die räuberischen Methoden der »ursprünglichen Kapitalakkumulation«. Er bezieht sich gleichermaßen auf das politische System und den Staatsapparat, sowie auf deren Niveau der Korrumpierung, das in den USA damals um ein Vielfaches ausgeprägter war als wir es heute von der russischen Bürokratie kennen.
Diese Entwicklung nahm ihren Anfang durch den Gründer der Demokratischen Partei und Präsident der USA von 1829–1837, Andrew Jackson. Gleichzeitig mit der Einführung des Wahlrechts für alle weißen Männer wurde das spoils system geschaffen – eine Verteilung der Staatsposten an die Parteianhänger der siegreichen Partei. Eine der klarsten Erscheinungsformen dieses Systems waren die Aktivitäten des Senators William Tweed (»Boss« Tweed), der auf der Grundlage der Wohlfahrtsgesellschaft Tammany Hall in New York eine »politische Maschine« der Demokratischen Partei gründete und mit deren Hilfe die Vergabe von Schlüsselpositionen im Staat sowie die »Erteilung« staatlicher Aufträge vornahm.
So auch im Jahr 1858, als Tweed den Beschluss zum Bau eines neuen Gebäudes der Kreisverwaltung (courthouse) im Senat erfolgreich durchsetzte. Hierfür wurden ursprünglich Staatsgelder in Höhe von 250.000 Dollar genehmigt. Im Laufe der folgenden 13 Jahre wurden zusätzlich 13 Millionen Dollar genehmigt, inklusive 5,6 Millionen Dollar für Möbel, Teppiche und Vorhänge – was die jährlichen föderalen Ausgaben für die Aufrechterhaltung des gesamten Postwesens der USA übertraf. Nichtsdestoweniger wurden der Bau und die Verzierung des Gebäudes bis 1871 nicht fertiggestellt. Zeitzeugen zufolge betrug die persönliche Rücklage Tweeds aus der Vergabe der Verträge 65 %. Es wird geschätzt, dass Tweed und die ihm Nahestehenden von 1857 bis 1870 insgesamt zwischen 30 und 200 Millionen Dollar aus dem Budget New Yorks in die eigene Tasche wirtschafteten (in heutigen Preisen übersteigt diese Summe das Vermögen Abramowitschs und Beresowskis zusammen). Ungeachtet dieses offenen Diebstahls blieb Tweed fast 20 Jahre an der Macht. Dies wurde möglich, weil die Polizei den Wählern der Opposition zu dieser Zeit nicht erlaubte, an den Wahlen teilzunehmen und sie die Augen vor den »Karussells« mehrfach wählender Immigranten verschloss, die für Tweed und seine Anhänger stimmten. Zugleich gingen die von Tweed gekauften Staatsanwälte und Richter nicht gerichtlich gegen ihn vor.
Nichtsdestoweniger verlor Tweed am Ende im Jahr 1870 die Wahlen, kam vor Gericht und fristete sein Lebensende im Gefängnis. Unterdessen wurden »politische Maschinen« in der amerikanischen Politik eine allgegenwärtige Erscheinung und Tammany Hall blieb bis zu den 1930er Jahren eine der einflussreichsten Organisationen der Demokratischen Partei. Eine Folge dieser Bestechlichkeit von Politikern Ende des 19. Jahrhunderts war auch das rasante Wachstum von Monopolen in der Industrie, im Transport- und dem Bankensektor – denn die »Verschmelzung mit der Macht« erlaubte es den Unternehmern, Vergünstigungen und Privilegien zu erreichen und ungeliebte Konkurrenten zu beseitigen, und die Ausgaben für die Bestechung von Politikern kompensierten sie durch die darauf folgende Erhöhung der Preise und Tarife. (Ein grundlegender Unterschied zur gegenwärtigen russischen Situation bestand darin, dass die föderale Regierung der USA in dieser Periode außergewöhnlich schwach war; damit wurde die Konkurrenz zwischen den Staaten erhalten, auf deren Ebene sich die gesamte reale Politik abspielte.)
Der gesellschaftliche Protest gegen eine solche »Grimasse des Kapitalismus« wurde für die Bewegung der Progressiven entscheidend, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA entstand. Die grundlegenden Forderungen der »Progressiven« bestanden in einer Verbesserung der staatlichen Verwaltung und der Erfüllung seiner Funktionen durch den Staat (vor allem auf der lokalen und regionalen Ebene), nämlich die Kontrolle der tariflichen Monopole, die Gewährleistung der Sicherheit, die Erhaltung von Schulen und des Postwesens sowie der Bau und die Sanierung von Straßen. Wie Knott und Miller (1987) feststellten, war die soziale Basis der »Progressiven« äußerst heterogen. Sie beinhaltete mindestens fünf verschiedene soziale Gruppen:
Ehemalige »Populisten« – Farmer und Kleinunternehmer aus dem Westen und Süden, die gegen das kontinuierliche Wachstum der Tarife und Versicherungsfirmen protestierten und die Einführung von wettbewerbsrechtlichen Regulierungsmaßnahmen forderten. »Gentlemen-Reformer« – Repräsentanten adeliger Familien von der Ostküste, die eine Auflösung des »spoils system« (und damit den faktischen Verkauf staatlicher Ämter) und die Einführung eines staatlichen Dienstes nach dem Qualifikations- und Leistungsprinzip und des »wissenschaftlichen Managements« für notwendig hielten. Auf ihre Initiative hin wurde 1906 in New York das Bureau of Municipal Research gegründet, das über 20 Jahre hinweg große Arbeit bei der Entdeckung, Analyse und Verbreitung der besten Verfahren der Gemeindeverwaltung leistete. Gut ausgebildete Vertreter der Mittelklasse in großen Städten (Ingenieure, Ärzte, Lehrer), die Steuern zahlten und regelmäßig an Wahlen teilnahmen. Sie forderten, dass die Machthaber anstelle der Verteilung von Ämtern unter ihren Anhängern und der Förderung von Großunternehmen (über die Gewährung vom Steuervergünstigungen und Privilegien) anfangen sollten, »ihre Arbeit zu erfüllen« – die Säuberung der Straßen zu gewährleisten, für Schutz vor Verbrechern und für eine normale Ausbildung der Kinder an Schulen zu sorgen. Städtische Mittel- und Kleinunternehmer, die wollten, dass ihre Käufer nicht an Müll auf den Straßen und an Taschendiebe denken mussten, dass die Polizei den Schutz der Wirtschaft vor Verbrechern gewährleistete und mit Brandschutzmaßnahmen Bränden vorbeugte, und dass Postsendungen rechtzeitig eintrafen.»Soziale Reformer« (vereint in der Association for Improving the Conditions for the Poor) –Vertreter der oberen und mittleren Schichten, die es für nötig hielten, einen angemessenen minimalen Lebensstandard für die städtischen Armen zu gewährleisten und die neben dem Spendensammeln für Waisenkinder und Obdachlose auch die Einführung von sanitären Standards in den Städten zur Vorbeugung vor Seuchen forderten.
Es ist anzumerken, dass die »Progressiven« sich nicht mit den traditionellen politischen Parteien verbanden, da sowohl die Republikaner als auch die Demokraten in dieser Periode gleichermaßen bestechlich waren. Und obwohl Theodor Roosevelt für den Führer der »Progressiven« gehalten wurde, führte sein scharfer Konflikt mit anderen einflussreichen Republikanern dazu, dass seine Gesinnungsgenossen im August 1912 die Progressive Party gründeten. In gleicher Weise zerfiel die neue Partei nach Roosevelts Niederlage bei den folgenden Präsidentschaftswahlen wieder. Das war kein Zufall. Denn in Wirklichkeit bestanden die »Progressiven« aus einer Minderheit unter den amerikanischen Wählern, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts größtenteils wenig von unseren heutigen Mitbürgern unterschieden – mit ihrer geringen Bereitschaft, Zeit zur Verteidigung ihrer eigenen Rechte aufzuwenden und mit einer noch geringeren Neigung zu kollektivem Handeln.
Die wichtigste Errungenschaft der »Progressiven« war die Einführung neuer Prinzipien zur Organisation des Staatsdienstes – einschließlich der Trennung von Politik und Staatsverwaltung, der Rekrutierung professioneller Leiter für staatliche Ämter, ausgewählt nach den Kriterien Kompetenz und Qualifikation, der Ausarbeitung und Anwendung administrativer Regeln, der Einführung von Hierarchien, sowie der organisierten Spezialisierung und klar definierter Verantwortungsbereiche für Staatsbeamte. Dieser Prozess begann auf der Ebene der Gemeinden und einzelner Staaten (wo die »Progressiven« ihre Reformen durchführten, indem sie die Meinungsverschiedenheiten zwischen Republikanern und Demokraten ausspielten) und später, im Laufe der 1920er und 1930er Jahre, wurden die Reformen auf föderale Agenturen und Dienste ausgeweitet. Heute geht man davon aus, dass gerade die Bewegung der »Progressiven« zur Etablierung der heutigen Effektivität in der staatlichen Verwaltung der USA beitrug und die Begrenzung der Korruption im Staatsapparat erlaubte.
Lehren aus der Vergangenheit
Könnten die Ideen der »Progressiven« heute, 120 Jahre später, zum Fundament der gesellschaftlichen Bewegung werden, die nach den Wahlen am 4. Dezember auf den Straßen Moskaus auftauchte? Ja und nein. Es ist offensichtlich, dass wir in einem anderen Jahrhundert leben, mit vollkommen anderen Technologien. Allgemeine Ideen – die Rechenschaftspflicht der Macht und die Verbannung der Korruption aus der Politik, die Erhöhung der Effizienz staatlicher Behörden in der Gewährleistung staatlicher Dienste, und die Schaffung einer »Feedback«-Schleife zu den aktiven Wählern, während ein großer Teil der Wähler passiv bleibt und durch verschiedene Manipulationsstrategien beeinflusst wird, lassen sich aber gänzlich auf die heutige russische Wirklichkeit übertragen.
So muss betont werden, dass diese Ideen bereits in den Arbeiten russischer Experten geäußert wurden. Darüber hinaus haben die »liberalen Technokraten« (die russische Analogie zu den »Gentlemen-Reformern« in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts) in Zusammenarbeit mit den Machthabern mit verschiedenen Mitteln versucht, diese Ideen zu verwirklichen – inklusive der Reform der Vergabe von Staatsaufträgen, eines verschärften Wettbewerbsrecht zur Verhinderung von Monopolen und die Deklarierungspflicht für Einnahmen von Beamten. Dabei fehlte allerdings allen diesen »Reformen von oben« eine unterstützende gesellschaftliche Bewegung und die Reformen berücksichtigten die Interessen der Bürger nicht wirklich. Deshalb gelang es »Interessensgruppen« aus Politik und Wirtschaft, die Reformen erfolgreich unter Kontrolle zu bringen und im eigenen Interesse zu instrumentalisieren.
Die Dezemberproteste in Moskau haben gezeigt, dass ein Jahrzehnt Wirtschaftswachstum und die sozial-politische Stabilität zur Bildung einer Schicht geführt hat, die Stimmrecht haben möchte und bereit ist, Druck auf die Machthaber auszuüben. Der Auftritt dieser aktiven und erfolgreichen Minderheit in der politischen Arena ist eine Chance für das Land. Denn nur solch ein sichtbarer und kontinuierlicher Druck von unten wird die Machthaber dazu bewegen, andere »Spielregeln« zu schaffen, die die gegenwärtige Elite in der Realisierung ihrer eigenen Interessen zugunsten der gesellschaftlichen Interessen einschränken würden.
Ob diese Chance allerdings ergriffen wird, hängt von der Vernunft der machthabenden Elite ab – denn neue Spielregeln werden nicht auf Demonstrationen geschaffen, sondern nur durch gemeinsame Absprache der wichtigsten Gruppen der Eliten. In diesem Fall sind dies die leitenden Etagen der nationalen und regionalen Staatsverwaltungen, die Silowiki, Großunternehmer und die Leiter großer staatlich-finanzierter Institutionen. Im bekannten Sinne befindet sich die russische Elite derzeit in der Lage des Barons von Münchhausen, der sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf herausziehen musste. Wenn dies in den nächsten Jahren nicht geschieht, dann könnten die derzeitigen Ereignisse in Ägypten, Jemen oder Libyen in sieben bis zehn Jahren durchaus realistische Szenarien für Russland werden. Dies könnte vermieden werden, wenn Vertreter der Eliten mit Hilfe der Expertengemeinde in der Lage wären, miteinander über neue, ehrlichere und transparentere »Spielregeln« zu verhandeln, die sozialen Aufstieg möglich machen und neuen Spielern den Zugang zu Politik und Wirtschaft eröffnen würden.
Übersetzung: Kristina Puzarina und Ann-Catherine Roth