Russland: Wahlkampfthema in Paris?
Frankreich wählt. Im ersten Wahlgang am 22. April siegte der sozialistische Kandidat François Hollande knapp vor dem bisherigen Amtsinhaber, dem konservativen Nicolas Sarkozy. Wer von den beiden Kontrahenten neuer französischer Präsident wird, entscheidet sich in der Stichwahl am 6. Mai. Gewiss wird mit außenpolitischen Themen traditionell keine Wahl gewonnen. Doch ergibt sich aus der in der Verfassungspraxis bestehende Machtfülle des französischen Präsidenten im Bereich der Außenpolitik (oft als »domaine reservé« bezeichnet), dass die Positionen der Kandidaten durchaus relevant sind. Daher fragt man sich in Europa und insbesondere in Deutschland seit längerem, wie Frankreichs Außenpolitik unter einem Präsidenten Hollande aussehen würde.
Wie also bewerten die französischen Wahlkämpfer, insbesondere die Kandidaten des zweiten Wahlgangs, die jüngsten politischen Entwicklungen in Russland? Welche Schlussfolgerungen ziehen sie daraus für die französisch-russischen Beziehungen? Ähnlich wie andere außenpolitische Fragen wurde dem Thema Russland im Wahlkampf keine hohe Aufmerksamkeit zuteil. Dies ist sowohl auf die starke Fokussierung auf innen- und wirtschaftspolitische Fragen zurückzuführen als auch auf die Tatsache, dass Frankreichs Russlandpolitik in der französischen Bevölkerung keine besondere Beachtung findet. Doch ein Blick auf die konkreten Positionen einiger Kandidaten zeigt gewichtige Unterschiede und Widersprüche in der Interpretation der Rolle Putins und der jüngsten Ereignisse um die russischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, und deutet neue Visionen für die französische Russlandpolitik an.
Radikale Wende gefordert: le Pen vs. Joly
Die Kandidatin des rechtspopulistischen Front National, Marine le Pen, die mit 17,9 % der Wählerstimmen das drittbeste Ergebnis des ersten Wahlgangs und das beste Ergebnis in der Geschichte ihrer Partei erzielt hat, plädierte in ihrem Wahlkampf für eine Zäsur in der französischen Außenpolitik. Ihre Visionen sind rückwärtsgewandt und stehen im starken Widerspruch zu denen der anderen Kandidaten und Parteien. Das Wahlprogramm des Front National fordert einen klaren Bruch mit der Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte: das Ende der euro-atlantischen Ausrichtung, das Aufkündigen der bisherigen Zusammenarbeit in der EU, und eine fundamentale Aufwertung der bilateralen Beziehungen zu Russland. Zielvorstellung ist eine strategische Allianz »Paris-Berlin-Moskau«, die auf einer militärischen und energiepolitischen Partnerschaft basiert. Als weiteres Leitbild wird ein »Europa der Nationen« formuliert, eine paneuropäische Union unter Einschluss von Russland und der Schweiz (jedoch ohne die Türkei).
Marine Le Pen brachte im Wahlkampf ihre persönliche Bewunderung für Wladimir Putin zum Ausdruck und stilisierte das politische System Russlands zum Modell für Frankreich. Ein Modell, dessen historische Wurzeln sie im Gedankengut De Gaulles und in seinem Streben für ein einflussreiches und unabhängiges Frankreich findet. Diese Idee ist nicht völlig neu, und findet auch moderate Unterstützung in Frankreichs diplomatischen Kreisen; politische Relevanz hat sie jedoch nicht erlangt.
Eva Joly, Kandidatin der Grünen (Europe Écologie Les Verts), ist gewissermaßen das Gegenstück zu le Pen. Sie fordert eine normative Neuausrichtung französischer Diplomatie im Rahmen europäischer Außenpolitik. Als einzige Kandidatin im französischen Wahlkampf äußerte Joly fundierte und medienwirksame Kritik an den jüngsten Entwicklungen in Russland. Ende 2011 forderte sie die Freilassung festgenommener Demonstranten und monierte die Sperrung sozialer Netzwerke. Im Rahmen eines Treffens mit russischen Oppositionspolitikern Anfang 2012 kritisierte sie Putin und Medwedew, sowie die Korruption in der russischen Justiz. Sie forderte eine Wiederholung der Parlamentswahlen sowie die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen und bezeichnete das »autokratische Abdriften« Russlands angesichts der landesweiten Forderungen nach freien Wahlen als skandalös. Nicht nur Nicolas Sarkozy, sondern allen französischen und europäischen Politikern warf Joly »ohrenbetäubende Stille« und Passivität unter dem Vorwand der Energieabhängigkeit vor. Ihre Forderungen umfassen auch europäische Antworten, z. B. eine bessere finanzielle Ausstattung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, um eine angemessene rechtliche Klärung der Menschenrechtsverletzungen in Russland sicherzustellen, sowie das Einfrieren von Konten russischer Oligarchen.
Jolys Äußerungen und Wahlkampfaktivitäten werden jedoch, aufgrund ihres schwachen Abschneidens im ersten Wahlgang (sie konnte nur 2,31 % der Stimmen auf sich vereinen), wohl keine Auswirkungen auf die französische Außenpolitik nach dem 6. Mai haben.
Kontinuität wahren: Russland als strategischer Partner
Nicolas Sarkozy, seit 2007 französischer Präsident, erreichte im ersten Wahlgang 27,18 % der Stimmen und liegt somit knapp hinter seinem sozialistischen Herausforderer François Hollande. Sarkozys Bilanz der letzten fünf Jahre und sein Wahlkampf lassen konkrete Rückschlüsse auf die Prinzipien und Prioritäten zu, die wohl auch seine zukünftige Russlandpolitik im Falle eines Wahlsieges prägen werden.
Die außenpolitische Ausrichtung des Programms seiner Partei, der konservativen UMP vom Dezember 2011 wird von drei traditionellen Schwerpunkten dominiert: Außenwirtschaft, auswärtige Kulturpolitik und nationale Verteidigung. Eine Referenz zu Russland enthält es nicht. Auch Sarkozy selbst griff das Thema Russland im Wahlkampf nicht auf.
Der bisherige Amtsinhaber startete im Februar 2012 ohne konkretes Programm in seinen Wahlkampf. Seine Haltung zu den politischen Entwicklungen in Russland ist gewissermaßen vorbelastet. 2007 hatte er, deutlicher Kritik der OSZE am Ablauf der russischen Parlamentswahlen zum Trotz und noch vor Bekanntgabe des endgültigen Ergebnisses, Wladimir Putin zum Sieg seiner Partei gratuliert. 2010 verhandelte er mit Putin erfolgreich über den Verkauf von französischen Kriegsschiffen – ein in Frankreich und Europa umstrittener Deal. Generell war Sarkozys Russlandpolitik von engen persönlichen Kontakten zu Putin und Medwedew, dem Primat wirtschafts- und sicherheitspolitischer Kooperation und der Vernachlässigung sensibler Themen, wie Demokratie und Menschenrechten geprägt. Darüber hinaus hat Sarkozy es in vielen Bereichen versäumt bzw. vermieden, seine Russlandpolitik im Rahmen der EU abzustimmen, bzw. positive Dynamiken der bilateralen Beziehungen konstruktiv für die EU-Russland Beziehungen zu nutzen.
Sarkozys Reaktionen auf die Massendemonstrationen auf Moskaus Straßen, und die von der OSZE festgestellten massiven Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess waren mehr als verhalten. Ein Sprecher des französischen Außenministeriums stellte lediglich vage fest, die russischen Parlamentswahlen seien ein wichtiges Ereignis für die Demokratie in Russland, die Präsenz internationaler Beobachter sei bedeutsam, und die von der OSZE festgestellten Unregelmäßigkeiten müssten geprüft werden. Während andere europäische Staats- und Regierungschefs deutlichere Worte fanden, waren Sarkozys Glückwünsche an den Wahlsieger Putin eher ambivalent. Er ermutigte den russischen Präsidenten, den Weg der demokratischen und wirtschaftlichen Modernisierung Russlands, wie vom russischen Volk gewünscht, weiterzuführen. Kontinuität unter Putin: für viele russische Bürger wohl kein attraktives Leitmotiv!
Veränderung wünscht Sarkozy sich hingegen von Russlands Außenpolitik, insbesondere gegenüber Syrien. In einem Fernsehinterview Anfang März äußerte er die Hoffnung, dass Putin in seiner neuen Amtszeit seine Haltung gegenüber einer UN Resolution zu Syrien überdenken werde.
Moderate Neuausrichtung: Dialog und Kritik
Insgesamt war Russland auch für François Hollande (Sieger des ersten Wahlgangs mit 28,63 %), im Wahlkampf nicht mehr als ein marginales Randthema. Anders als Nicolas Sarkozy, bewertete Hollande die politischen Entwicklungen in Russland jedoch kritischer. Er beklagte die brutale Niederschlagung der Proteste im Anschluss an die russischen Parlamentswahlen und rief die politischen Autoritäten in Moskau auf, die demokratischen Forderungen der Demonstranten ernst zu nehmen. Auch forderte er die Wahrung von Bürger- und Grundrechten und der Medienfreiheit. Der sozialistische Kandidat kritisierte den amtierenden Präsidenten Sarkozy, der mit autoritären Machthabern paktiere und so das historische Erbe Frankreichs belaste. Sarkozys Wahlkampf sei eine Mischung aus der ideologischen Leere eines Silvio Berlusconi und brutalen Methoden eines Wladimir Putin. Hollandes eigene Zukunftsvision für den Fall seines Sieges ist eine (vorsichtige) Warnung an den neuen alten Präsidenten im Kreml. Frankreich werde weiterhin an guten Beziehungen zu Russland interessiert sein. Aber nicht auf Kosten von Demokratie und Menschenrechten.
Wenngleich Hollande sich während des Wahlkampfes dem Vorwurf ausgesetzt sah, er verfüge über keine Regierungserfahrung und habe ein schwaches außenpolitisches Profil, so hat er fähige Unterstützung. Mit Pierre Moscovici, dem bisher am längsten amtierenden Europaminister (1997 bis 2002 im Kabinett von Lionel Jospin unter Präsident Jacques Chirac) und zweimaligen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, hat Hollande einen Politiker mit europäischer und internationaler Erfahrung zu seinem Wahlkampfleiter gemacht. Moscovici dürfte auch unter einem neuen Präsidenten Hollande eine wichtige Rolle spielen.
Einige Äußerungen aus den letzten Jahren geben Aufschluss über Moscovicis Position zu den innenpolitischen Entwicklungen in Russland und Sarkozys Russlandpolitik. 2007 etwa kritisierte Moscovici den vorprogrammierten Machtwechsel zwischen Putin und Medwedew, die Verhärtung eines autoritären Regierungsstils und die Zementierung der Vertikale der Macht unter Putin. Sarkozy warf er eine erratische Russlandpolitik vor, sowie eine »Diplomatie der Gefälligkeiten«, insbesondere gegenüber Putin. Entgegen den Versprechungen aus dem Wahlkampf 2007 dominierten, so Moscovici, wirtschaftspolitische Interessen in den Beziehungen zu Russland – und zwar zulasten einer Diplomatie der Menschenrechte. Frankreichs Russlandpolitik sei damit weit entfernt von einer linken Außenpolitik, basierend auf humanistischen Idealen.
In einem Fernsehinterview im März dieses Jahres äußerte sich Moscovici allerdings deutlich zurückhaltender. Er bezeichnete Putin als legitimen, da vom Volk gewählten Präsidenten Russlands und kündigte für den Fall eines Wahlsieges von François Hollande eine Russlandpolitik an, die trotz unterschiedlicher Werte auf Dialog setzt. Russlands Blockadehaltung zu einem gemeinsamen Vorgehen gegenüber Syrien im Rahmen der Vereinten Nationen bezeichnete er als inakzeptabel.
Wie weiter nach dem 6. Mai?
Zäsur, Neuausrichtung oder business as usual? Die Kandidaten im französischen Präsidentschaftswahlkampf sind uneins über den zukünftigen Gang der Beziehungen zwischen Paris und Moskau. Ihre Zukunftsvisionen für das französisch-russische Verhältnis speisen sich dabei insbesondere aus einer Bewertung des russischen Machtapparats, der Figur Putins, und der jüngsten politischen Proteste.
Marine le Pen und Eva Joly fordern eine radikale Wende französischer Russlandpolitik, jedoch in diametral unterschiedliche Richtungen: le Pen skizziert einen Schulterschluss mit Russland und ein Ende europäischer und euro-atlantischer Strukturen, während Joly französische Diplomatie im europäischen Rahmen fordert, mit Menschenrechten als Leitmotiv. Die Positionen der beiden Kontrahenten des zweiten Wahlgangs sind deutlich moderater. Sollte Nicolas Sarkozy die Stichwahl am 6. Mai gewinnen, so wäre kein grundlegender Kurswechsel zu erwarten. Insgesamt positive Aussichten für den Machthaber im Kreml. Geht François Hollande als Sieger aus der Stichwahl hervor und setzt seine Andeutungen aus dem Wahlkampf um, dann würde französische Außenpolitik gegenüber Russland stärker wertegeleitet ausgerichtet sein. Moskau wäre jedoch weiterhin ein wichtiger Partner für Paris. Es bleibt abzuwarten, wie Hollande diesen Weg gehen will, ohne außenwirtschaftliche Interessen zu kompromittieren. Welche Rolle ein Präsident Hollande den EU-Russland Beziehungen zuschreibt, und ob das Leitmotiv ‚Außenpolitik im nationalen Interesse’ weiterhin die französische Diplomatie prägt, wird sich ebenfalls zeigen. Einige von Hollandes außenpolitischen Wahlversprechen, insbesondere ein sofortiger Abzug französischer Truppen aus Afghanistan deuten schließlich Konfliktpotenzial zwischen Paris und Moskau an.