Die demographische Entwicklung 1989 – 2002 – 2010

Von Isolde Brade, Christian Kolter, Sebastian Lentz (alle Leipzig)

Zusammenfassung
Die Demographie Russlands zeigt bezüglich verschiedener Faktoren eine Annäherung an internationale Trends. Dazu gehören z. B. die Alterung der Bevölkerung, vor allem auf Grund gesunkener Geburtenraten, und die Erhöhnug des Alters der Mütter bei der ersten Geburt. Die deutliche Erhöhung der Zahl russischer Bürger, die sich im Ausland aufhalten, sowie der Arbeitswanderer in Russland zeigt die wachsende Integration des Landes in die internationale Wirtschaft und ihre (Arbeits-)Migrationssysteme.

Ein erster Blick auf die Daten

Aus der Volkszählung von 2010 sind bislang die Ergebnisse zu demographischen Merkmalen und ihrer räumlichen Verteilung publiziert worden. Die Ergebnisse werden ins Verhältnis zu den Zahlen von 2002 und – wo möglich – zu 1989 gesetzt, um längerfristige Trends zu erkennen. Es liegt nahe, vor allem nach kurz- und mittelfristigen Effekten von Transformation und Finanzkrisen zu fragen. Allerdings sind die demographischen Erhebungsziele einer Volkszählung dazu nur sehr beschränkt tauglich, vor allem dann, wenn man räumliche Differenzierungen verschiedenen Ursachen zuordnen will. Weitergehende Interpretationen benötigen deshalb mindestens regional fein unterscheidbare sozioökonomische Daten, um Korrelationen und Ursachen ausreichend zu belegen. Vor dem Hintergrund, dass wichtige Volkszählungsdaten zur Sozioökonomie noch nicht veröffentlicht sind, muss die vorliegende Analyse deshalb vorläufig und unter dem Vorbehalt von Erkenntnissen, die erst nach der Publikation der weiteren Bände der Volkszählung zu gewinnen sind, stehen bleiben. Als erster Ausblick sind hier die Ergebnisse zur formellen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einbezogen worden.

Veränderungen der räumlichen Bevölkerungsverteilung sind in hohem Maße, aber nicht ausschließlich, mit strukturellen Veränderungen im Siedlungssystem eines Staates verknüpft, das eine in der Regel sehr stabile Struktur gesellschaftlich-räumlicher Organisation darstellt. Das heißt, es reagiert im Wesentlichen auf langfristige Entwicklungen. Der hier zu konstatierende Wandel in den Städten und Dörfern dient in diesem Sinne als Indikator für »dahinter« liegende Entwicklungen von Gesellschaft und Staat in Russland. Sie lassen sich auch auf der vergleichsweise groben regionalen Ebene der föderalen Subjekte mittels thematischer Karten veranschaulichen (vgl. Tab. 1 auf S. 4).

Bevölkerungsbilanz und demographische Struktur

In der Periode zwischen den Volkszählungen 1989 und 2002 wurde in Russland ein Rückgang der Bevölkerungszahl registriert. Dieser Trend hat sich fortgesetzt: Gegenüber 2002 hat die Einwohnerzahl um weitere 2,3 Millionen auf 142,9 Millionen abgenommen, während die Abnahme in den 13 Jahren zuvor 1,8 Millionen Personen betragen hatte, d. h. der Rückgang hat sich beschleunigt.

Die Bevölkerungsentwicklung ergibt sich aus den Bilanzen der so genannten natürlichen Faktoren (Geburten, Sterbefälle) und dem Migrationssaldo. Seit 1991 verzeichnet Russland wie alle spätindustriellen Staaten einen Sterbeüberschuss (vgl. Abb. 1 unten). Hintergrund dieses sehr plötzlich auftretenden Phänomens ist ein Absinken der Geburtenrate, die mit der gesellschaftlichen Transformation Anfang der 1990er Jahre einsetzt. In der extremen Ausprägung wird dies als Reaktion auf eine allgemeine Verunsicherung über die individuelle Zukunft gedeutet, die potentielle Eltern dazu bringt, den Wunsch nach Kindern für eine gewisse Zeit zurückzustellen. In einem ähnlichen Zusammenhang wird der Anstieg der Sterberate gedeutet, die, wie sich an den Todesursachen ablesen ließ, zu beachtlichen Anteilen auf gestiegene Armut und riskante, ungesunde Verhaltensweisen (z. B. Unfälle, Vergiftungen, Alkoholismus, Krankheiten in Folge Alkoholmissbrauchs) zurückzuführen ist. Das langsame Abfallen der Sterberaten bzw. das Ansteigen der Geburtenrate deutet darauf hin, dass derartige Transformationsschocks inzwischen überwunden wurden. Dennoch ist der natürliche Bevölkerungssaldo weiterhin negativ.

Die Bevölkerungsverluste während der 1990er Jahre wurden durch einen zeitweilig sehr positiven Wanderungssaldo teilweise kompensiert. Er speiste sich aus Zuwanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die die zunächst hohe Abwanderung mehr als wettmachte. Zwar hat die Abwanderung aus Russland seit Beginn der 1990er Jahre nachgelassen, da aber auch die Zuwanderung geringer geworden ist – derzeit sind es jährlich etwa 200.000 Personen, vor allem als Arbeitsmigranten –, steigt die Bedeutung der so genannten »natürlichen« Faktoren (Geburten, Todesfälle) in der Bevölkerungsbilanz, die deshalb weiterhin negativ bleibt (vgl. Abb. 2 unten).

Im postsowjetischen Russland änderten und ändern sich nicht nur migrationspolitische Ansätze, sondern auch die Berechnungsweisen und Registrationsformen der Migration. Inwieweit dies politischen und wirtschaftlichen Motiven oder aber der tatsächlichen Absicht des Staates geschuldet ist, Migration realistisch abzubilden, ist im Einzelnen kaum auszumachen. Die hier visualisierten Zahlen orientieren sich an den jeweils gültigen offiziellen Statistiken, aus denen aber veränderten Definitionen wegen Trends nur mit großer Vorsicht abgeleitet werden dürfen. Beispielhaft lässt sich hier anführen, dass 2007 die Berechnung und Registrierung dahingehend geändert wurde, dass Ausländer und Staatenlose schon als Immigranten registriert wurden, sobald sie erstmals eine zeitweilige Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Allein damit wuchs das registrierte Migrationsaufkommen 2007 um 54 % im Vergleich zum Vorjahr.

2011 verkürzte Russland die Aufenthaltsgrenze für die Kategorie »langfristige Migration« von den international üblichen 12 auf 9 Monate. Nach Experteneinschätzung erhöhte sich dadurch der Migrationssaldo Russlands beträchtlich; berechnete man beispielsweise den offiziellen Migrationssaldo nach den in den Vorjahren geltenden Regeln, käme man auf knapp 107.000, während nach der neuen offiziellen Berechnungsweise 320.000 zu Buche schlagen, wodurch auch erstmals seit 20 Jahren die Gesamtbevölkerung zunahm.

Lebenserwartung

Die mittlere Lebenserwartung wird in der Regel als Indikator für Lebensstandard und die Leistungsfähigkeit gesundheitlicher Vorsorge in Staaten verwendet. Im internationalen Vergleich weist Russland diesbezüglich zwei ungewöhnliche Werte auf (vgl. Abb. 3 unten). Zum einen ist die seit etwa 1965 bis etwa Mitte der 1990er Jahre rückläufige Lebenserwartung bei Männern (stärker) wie bei Frauen (etwas schwächer) bemerkenswert. Sie lag schließlich 1994 bei 71 Jahren für Frauen und bei 57 Jahren für Männer. Dieser Trend wurde nur Mitte der 1980er Jahre kurz unterbrochen – der Zeit der Gorbatschowschen Anti-Alkohol-Kampagne. Mit Beginn der 1990er Jahre, d. h. in der gesellschaftlichen Transformation, sinkt sie dramatisch ab. Seit 1995 steigt sie – mit Schwankungen – wieder an und liegt für Männer mittlerweile bei etwa 64 Jahren und für Frauen bei rund 76 Jahren. Es gibt allerdings auch Stimmen, die mahnen, diese Tendenz mit Vorsicht zu bewerten, beinhaltet sie doch Anstiege von teilweise mehr als einem Lebensjahr innerhalb eines Kalenderjahres.

Zum anderen ist es der große geschlechtsspezifische Abstand der Lebenserwartung: Zwar haben Frauen in vielen Ländern eine höhere Lebenserwartung als Männer, eine Differenz von 12 bis 13 Jahren ist im Vergleich zu den meisten entwickelten Ländern allerdings sehr groß. International sind Werte von sechs bis acht Jahren verbreitet, in Deutschland beträgt er etwa fünf Jahre.

Neben den üblichen Erklärungen über ein traditionelles Rollenbild von Männern, das riskanteres Verhalten zur Folge habe, und unfallträchtige Arbeitsumwelten ist ein Verweis auf die mangelnde Modernisierung des Gesundheitssystems aufschlussreich (Wischnewski 2003). Das Selbstverständnis der sowjetischen Gesundheitsvorsorge kann demnach als paternalistisch bezeichnet werden, dessen Möglichkeiten zur staatlich organisierten Prophylaxe dort ebenso wie in anderen Ländern seit den 1960er Jahren ausgeschöpft waren. In vielen westlichen Ländern ging man in der Folge dazu über, Anreizsysteme zu installieren, die stärker auf Selbstbeobachtung, Selbstregulierung und Eigenvorsorge setzende Prophylaxe bauten, insbesondere gegenüber Risiken von Nicht-Infektionskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alkoholismus, Gewalt, Unfällen usw. Der UdSSR bzw. Russland gelang die Umsetzung solcher Strategien bislang nur unzureichend.

Altersstruktur und künftige Bevölkerungsentwicklung

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung stieg von 32,8 Jahre (1989), 37,7 Jahre (2002) auf 39 Jahre (2012). Ursache ist in erster Linie die rückläufige natürliche Bevölkerungsentwicklung, d. h. der geringer werdende Anteil der Kinder und Jugendlichen und in den letzten Jahren auch die steigende Lebenserwartung, wie insbesondere am starken Anstieg in den 1990er Jahren, als die Geburtenrate drastisch absank, ablesbar ist. Der Anteil der über 60-Jährigen betrug 2010 rund 20 %, ein Wert, der deutlich unter westeuropäischem oder japanischem Niveau liegt, sich dem Trend nach jedoch weiter angleicht.

Die Zeit seit der Volkszählung 2002 markiert eine Wende in der Alterszusammensetzung der russischen Bevölkerung. Durch eine aus volkswirtschaftlicher Perspektive zunächst noch relativ günstige Struktur (relativ hohe Geburtenraten bis in die 1970er Jahre) nahm die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter seit Mitte der 1990er Jahre bis 2005 noch zu, obwohl die Bevölkerungszahl insgesamt bereits zurückging. Seit 2005 nimmt auch die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung sehr schnell ab (2011 bspw. um 700.000 Personen). Dieser Trend wird sich bis nach 2020 fortsetzen (Abb. 4 auf der nächsten Seite). Damit schwenkt Russland auf einen Trend ein, wie er in vielen entwickelten Staaten bereits seit längerem zu beobachten ist. Eine Konsequenz ist, dass einerseits eine Modernisierung der Wirtschaft immer dringlicher wird, und andererseits Immigration und Arbeitsimmigration in den nächsten zehn Jahren für die Volkswirtschaft sehr wichtig werden. Die Volkszählung 2010 stellt eine Momentaufnahme mit sehr günstigen Beschäftigungsverhältnissen dar, obwohl der historische Tiefststand mit 4,0 Mio. Arbeitslosen 2008 vor der Weltfinanzkrise erreicht worden war und die Arbeitslosenzahl seitdem leicht angestiegen ist.

Seitens der Regierung wird die demographische Entwicklung mit Sorge betrachtet, da negative Effekte für die ökonomische Leistungsfähigkeit erwartet werden. Deshalb sind verschiedene Maßnahmen ergriffen worden. 2001 wurde die »Konzeption zur demographischen Entwicklung der RF bis 2015« beschlossen (inzwischen mit Nachfolge-Programmen bis 2025), deren Ziel u. a. die Anhebung der Geburtenrate auf Reproduktionsniveau und eine qualitativ wie quantitativ ergiebige Arbeitsimmigration und Immigration überhaupt ist. Seitdem wurden z. B. die Aufenthalts- und Arbeitsbestimmungen für GUS-Ausländer erleichtert. Zu den verschiedenen pro-natalistischen Maßnahmen gehören z. B. Unterstützungen zu Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft, das einmalige Geburtsgeld, seit 2007 ein erhöhtes Kindergeld und Erziehungsurlaub. Besonders offensichtlich ist die Förderabsicht beim sogenannten Mutterschaftskapital (»materinski kapital«), das ab dem zweiten und jedem darauffolgenden Kind gezahlt wird. Der Wirkungsgrad solcher Maßnahmen ist fraglich. Die geburtenstärksten Regionen (Dagestan, Tschetschenien, Altai, Tuwa) zeigen sich in ihrem Geburtenverhalten ohnehin kaum von derlei Programmen abhängig. In den übrigen Regionen steigen die Geburtenraten seit einigen Jahren zwar an, aber darin steckt auch ein »Nachholeffekt« von Geburten, die während der unsicheren Transformationszeit aufgeschoben wurden. Um 2000 war die Geburtenrate mit 1,21 Geburten je Frau auf ihren historischen Tiefststand gefallen; derzeit liegt sie wieder bei 1,5, was noch deutlich unter dem Reproduktionsniveau von etwa 2,1 liegt.

Die Fertilität war in der Sowjetunion schon 1964 unter das Reproduktionsniveau gefallen. Durch eine pro-natalistische Politik gelang es in den 1980er Jahren, die Geburtenrate kurzfristig noch einmal anzuheben, anschließend stürzte sie jedoch regelrecht ab (vgl. Abb. 1 auf S. 6). Das durchschnittliche Erstgebäralter der Mütter ist seitdem von unter 22 Jahren auf über 24 Jahre angestiegen, womit auch hier ein Trend vorliegt, der in anderen entwickelten Ländern bereits seit längerem anhält: Die zunehmende Bildung und berufliche Karriere in Leitungspositionen führen dazu, dass die Mutterschaft bewusster geplant und in der Regel auf ein höheres Alter, auf einen mit der Karriere besser zu vereinbarenden Zeitpunkt verschoben wird. Das komplexe Phänomen wird in der internationalen Diskussion um den Zweiten Demographischen Übergang als postponement bezeichnet. In spätindustriellen bzw. in Dienstleistungs-Gesellschaften liegen gute Berufschancen für Frauen im gehobenen Dienstleistungs-/Informationssektor. Dafür wird in der Regel eine höhere oder Hochschulbildung benötigt, so dass häufig Bildungsmobilität notwendig wird, ein weiterer Umstand, der ein Aufschieben des Kinderwunschs wahrscheinlich macht.

Die Bevölkerungsprognosen für Russland machen diese Trends noch deutlicher (vgl. Abb. 5 unten). Je nachdem, wie sich die Einzelfaktoren ändern, zeichnet sich die mittelfristige Entwicklung ab. Dabei entstehen für die Familienpolitik wichtige Herausforderungen, wenn zur Modernisierung der Wirtschaft vermehrt gut ausgebildete junge Frauen für die Wirtschaft gewonnen werden sollen und dies mit durchschnittlich steigenden Geburtenzahlen einhergehen soll. Die hier abgebildeten »reinen« Prognosetrends dienen zur Veranschaulichung der möglichen Entwicklungen. Wenn Russland sich dem Trend in anderen spätindustriellen Ländern annähert, ist es wahrscheinlich, dass sich die künftige Bevölkerungsentwicklung aus einer Mischung von Einzeltrends herausbilden wird. Dabei werden die Geburtenraten in etwa auf dem momentanen Niveau bleiben.

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