Der politische Entschluss
Volkszählungen als Großereignis der Statistik sind eine wichtige politische Angelegenheit für jeden Staat. Sie sind in ihrer gesamten Anlage und Durchführung ambivalent: einerseits Ausdruck staatlicher Fürsorge und Effizienz, andererseits Manifestationen von Macht und Kontrolle des Behördenapparats.
Seit 2007 geplant und für 2010 vorgesehen, sollte der Zensus wegen Budgetkürzungen infolge der Finanzkrise auf 2013 verschoben werden. Ende 2009 entschied Präsident Putin jedoch, ihn wie ursprünglich geplant 2010 durchzuführen, und zwar mit dem Argument, aktuelle Informationen über die Bevölkerung seien für die Regierung unverzichtbar, um Entscheidungen treffen zu können, die für die sozialökonomische Entwicklung relevant seien.
Im September 2009 hatte der stellvertretende Minister für wirtschaftliche Entwicklung Andrej Klepatsch erklärt, dass der Zensus wegen Budgetbeschränkungen auf 2013 verschoben wird, woraufhin der Leiter von Rosstat Wladimir Sokolin die Entscheidung zum Aufschub als Fehler bezeichnete und seinen Rücktritt erklärte. Die Entscheidung wurde auch von vielen Experten kritisiert. Angesichts der sehr dynamischen strukturellen Veränderungen in den ersten Jahren der Gesellschaftstransformation und der großen Abweichungen zwischen fortgeschriebenen Datenbeständen und den Ergebnissen der Perepis von 2002 ist das Verlangen der staatlichen Administration nach regelmäßiger Aktualisierung der Datenbasis nachvollziehbar.
Die Durchführung
Die erste Volkszählung in der Russländischen Föderation wurde im Oktober 2002 durchgeführt, d. h. rund 12 Jahre nach Entstehung des selbständigen Staates. Die zweite Volkszählung folgte im Oktober 2010 (14.–25.10.2010); in schwer zugänglichen Gebieten zwischen dem 1. April und dem 20. Dezember 2010. Stichtag war der 14. Oktober. Berücksichtigt wurden neben den 54,6 Mio. Haushalten auch 90.000 Staatsbedienstete und die entsprechenden Haushaltsmitglieder, die zum Zeitpunkt der Zählung außerhalb Russlands lebten (2002: 107.000). Des Weiteren wurden 489.000 Personen erfasst, die ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben und die sich im Erfassungszeitraum zeitweilig (weniger als ein Jahr) in Russland aufhielten (2002: 239.000). Grundlage der Datenerhebung waren persönliche Befragungen mittels Fragebogen (im Ausnahmefall per Telefon). Dazu wurden neben Instruktoren und »Bezirksverantwortlichen« ebenfalls vertraglich angeheuerte und geschulte Befrager (in der Regel Studenten) eingesetzt, die nicht nur alle Wohnunterkünfte ihres Befragungsbezirks aufsuchten, sondern auch Räumlichkeiten von Behörden, Unternehmen und anderen Organisationen. Zusätzlich gab es in jedem Befragungsbezirk auch eine Station zur Datenaufnahme.
Wie bereits 2002 wurde 2010 die ständige (mit Hauptwohnsitz registrierte) Bevölkerung gezählt und befragt, deren Zahl wenige Tage später mittels Kontrollbegehungen in jedem Befragungskreis (betraf 10 % der Haushalte) korrigiert wurde, um Doppeleintragungen zu vermeiden (102.000 Eintragungen wurden berichtigt) oder um während des eigentlichen Befragungszeitraumes Abwesende nachzutragen. Im Vergleich zur sowjetischen Zeit war im Zensus 2002 die Frist für den Status »zeitweilig abwesend« von 6 Monaten auf 1 Jahr erhöht worden, und zwar mit der Begründung einer allgemein höheren Mobilität der Bevölkerung, insbesondere der inneren und äußeren Arbeitsmigration.
Kritik an der Durchführung und an der Validität der Ergebnisse allgemein oder von Einzelergebnissen bezog sich auf verschiedene Ebenen und Elemente des Zensus. Sie kann unterschieden werden nach Kriterien, die für die meisten Großzählungen gelten, und solche, die russische Spezifika adressieren:
Allgemeine Kritik an der Durchführung der Volkszählung
Die Kosten, die sich von ursprünglich rund 10 auf 18 Mrd. Rubel erhöhten, riefen öffentliche Kritik hervor. Selbst manche Demographen meinten, dass man sich diese Kosten sparen und ausreichende Daten aus laufenden Statistiken erhalten könne.Wie auch in westlichen Ländern formierte sich in Russland im Vorfeld des Zensus 2010 politischer Widerstand, der die Notwendigkeit und Legitimität von Volkszählungen überhaupt bestreitet (Stichwort: »Totalüberwachung und Manipulation«). Eine explizite Kampagne gegen den Zensus wurde von der Partei »Anderes Russland« mit ihrem Co-Vorsitzenden, dem enfant terrible Eduard Limonow, organisiert. »Anderes Russland« knüpfte ihre Akzeptanz des Zensus an die Beendigung der Ära Putin und schloss damit auch an die laufende und parteiunabhängige Kampagne »Putin muss gehen« an. Allerdings ist »Anderes Russland« die offizielle Zulassung als eingetragene Partei 2011 verweigert worden und scheint, wie jede ernsthafte Opposition in Russland derzeit überhaupt, auf eine politische Neben- oder Statistenrolle beschränkt. Immerhin hat die Kampagne ihre Wirkung nicht gänzlich verfehlt; als Reaktion drohte die Regierung die Einführung von Strafen bei Verweigerung der Zensus-Teilnahme an, was dennoch nicht zur »totalen« Beteiligung führte.In der russischen Presse wurde eine bisweilen unprofessionelle Vorbereitung und Durchführung moniert. So wurden längst nicht alle Personen/Haushalte aufgesucht. Die Befrager füllten die Formulare oft – sprachlich wie inhaltlich – fehlerhaft aus, was bis heute die Auswertung erschwert und verzögert. Zudem blieben große Teile der Bevölkerung trotz Mobilisierung durch Regierung und Massenmedien im Unklaren, worin der eigentliche Zweck des Zensus bzw. der Befragung besteht.
Spezifische Schwierigkeiten, die die Qualität der Datenerhebung beeinflusst haben
Etwa eine Million Bürger verweigerten den Befragern jegliche Auskünfte. Die Daten der Verweigerer wurden mit Angaben aus administrativen Quellen ersetzt (beschränkt auf Geschlecht und Geburtsdatum). 2,6 Mio. Bürger wurden von den Befragern im Erhebungszeitraum nicht angetroffen (Namen und Geburtsdaten aus administrativen Quellen ersetzt).Von 5,6 Mio. Menschen fehlten bei Beendigung der Befragung die Angaben zur nationalen Zugehörigkeit. Diese Zahl setzt sich zusammen aus der erwähnten eine Million Verweigerern und den 2,6 Mio. Abwesenden sowie aus rund zwei Millionen Personen, die von ihrem Recht Gebrauch machten, keine Angaben zu dieser Frage zu machen. Bei 4,1 Mio. Menschen fehlten die Angaben zu ihrer Staatsangehörigkeit (2002: 1,3 Mio).Neben den großen Volkszählungen gibt es die fortgeführten Statistiken zu Bevölkerungsdaten. Sowohl 2002 als auch 2010 traten teilweise erhebliche Abweichungen zwischen beiden Erhebungsmethoden auf. So wurde z. B. die Gesamtbevölkerungszahl 2002 um fast zwei Millionen, 2010 um etwa eine Million Einwohner nach oben korrigiert. Als Ursache wird vor allem auf die nicht registrierte Zuwanderung verwiesen. In Russland halten sich ständig 3 bis 5 Millionen Arbeitsmigranten auf, die aber von der jährlichen Hochrechnung nicht, und auch bei der Volkszählung nicht vollständig, erfasst werden.
Spezifische Schwierigkeiten, die in ihrer Auswirkung auf die Datenqualität unklar oder vernachlässigbar sind
In den russischen Massenmedien wurde gelegentlich von Rechtsverletzungen während der Volkszählung berichtet (Gewalt gegen Zensus-Mitarbeiter, Diebstähle seitens der Zensus-Mitarbeiter etc.), die allerdings nicht in einer Häufigkeit auftraten, dass sie als Diskreditierung der Volkszählung insgesamt zu werten wären.Bereits bei der Volkszählung von 2002 hatte die Frage der nationalen Zugehörigkeit für Debatten und Wirbel gesorgt, insbesondere die Erstellung der Nationalitätenliste. Die eindeutige Unterscheidung von Nationalität und Staatsbürgerschaft spielte in sowjetischer Zeit keine Rolle, erst das Ende der UdSSR machte Nationalität zu einer essentiellen Kategorie für die Einwohner Russlands. Zwar ist der Nationalitätenvermerk aus den Pässen verschwunden, doch entschied sich die russische Statistik schon aus Kontinuitätsgründen dafür, die nationale Zugehörigkeit weiter zu registrieren. Hierbei sind im Vorfeld eine Reihe von Fragen zu klären: Wie und wodurch bestimmt sich nationale Zugehörigkeit – durch Sprache, Abkunft/Stammbaum, Selbstzuschreibung oder (bürokratische) Fremdzuschreibung? Ausdruck dieses Problems war im Vorfeld des Zensus 2002 die mehrmalige Umformulierung der Frage der nationalen Zugehörigkeit von einer objektiven/objektivistischen Fassung (»Welche ist ihre Nationalität?«) zu einer deutlich subjektiveren (»Welcher Nationalität ordnen sie sich zu?«), die schließlich in eine Kompromissformulierung mündete (»Welche ist ihre nationale Zugehörigkeit?«). Prinzipiell stehen hier die »Zensus-Designer« Russlands vor dem Dilemma, mit der Fortführung der Frage nach der nationalen Zugehörigkeit einerseits den politischen Blick auf die Bevölkerung und in der Bevölkerung zusätzlich zu »ethnisieren«. Andererseits hätte die staatliche Statistik und dementsprechend die russische Regierung bei konsequenter Streichung des Nationalitätenrasters mit dem Vorwurf zu rechnen, sie brächte damit kleine bzw. indigene Völker (noch schneller) zum Verschwinden, oder unterminiere die Machtbasis nicht-russischer Titularvölker in verschiedenen föderalen Subjekten.Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass sich die staatliche Statistik Russlands in der Darstellung der Zensusergebnisse zum ersten Mal in ihrer Geschichte dazu entschlossen hat, in einer gesonderten Rubrik sozialökonomische Daten mit nationaler Zugehörigkeit zu verknüpfen.
Bis dato sind 2 von 11 Bänden zu den Zensusergebnissen von 2010 erschienen. Es gibt jedoch einen zusammenfassenden Ergebnisbericht von Rosstat und Überblickstabellen zu allen Themen aus allen Zensusrubriken mit Differenzierung nach föderalen Subjekten. Daten liegen vor zu demographischen Merkmalen und ihrer räumlichen Verteilung. Darauf konzentriert sich die folgende Auswertung.