Regime, Opposition und die Herausforderungen des elektoralen Autoritarismus in Russland

Von Vladimir Gelman (St. Petersburg)

Zusammenfassung
Das politische System des elektoralen Autoritarismus, das sich in Russland in den 2000er Jahren herausgebildet hatte, geriet bei den Duma- und Präsidentschaftswahlen 2011/12 in eine schwere Krise. Erstmals ist es »systemischer« und »außersystemischer« Opposition gelungen, sich im Rahmen eines »negativen Konsens« gegen das Regime zu einen und Massen zu mobilisieren. Das Regime war jedoch in der Lage, seinerseits ausreichend Anhänger aufzubieten und trotz allem die Wahlen zu gewinnen. Es ist allerdings schwer vorherzusagen, ob das Regime weiterhin erfolgreich die politischen Parteien und das Parlament nutzen kann, und ob es gelingt, die »außersystemische« Opposition erfolgreich zu isolieren. In jedem Fall wird die Nachfrage der Staatsbürger nach Alternativen zum status quo zunehmen, und die Frage besteht darin, ob es der jetzigen russischen Opposition oder anderen politischen Akteuren gelingen wird, sie in den kommenden Jahren zu befriedigen.

Einleitung und Rückblick

Die Resultate der Wahlen 2011–2012 und deren Folgen kamen für die Mehrheit der Beteiligten und der Beobachter des politischen Prozesses in Russland unerwartet. Zu Beginn der Wahlkampagne gingen praktisch alle Einschätzungen davon aus, dass die »Partei der Macht« »Einiges Russland«, gestützt auf den Staatsapparat, die Beherrschung der Massenmedien und die Unterstützung der in der Bevölkerung populären Führer, ohne besondere Mühe die erdrückende Mehrheit der Sitze in der Staatsduma erringen und den Weg für die Rückkehr Wladimir Putins in das Amt des Staatschefs ebnen würde. Doch schon der Ausgang der Dumawahlen am 4. Dezember 2011 strafte diese Erwartungen Lügen. Während »Einiges Russland« nach offiziellen Mitteilungen nur 49,3 % der Wählerstimmen auf sich vereint hatte, zeugten zahlreiche direkte und indirekte Hinweise, von Exit-Polls bis hin zu den Berichten der Wahlbeobachter, von mannigfaltigen Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung. Heute gibt es keine Zweifel, dass der reale Anteil der für »Einiges Russland« abgegebenen Stimmen deutlich geringer war. Direkt nach den Wahlen überrollte eine Welle von Protesten das Land. Die Proteste gegen die offiziellen Wahlergebnisse erreichten ein im postsowjetischen Russland nicht dagewesenes Ausmaß: die Versammlungen in Moskau brachten mehrere 10.000 Teilnehmer auf die Beine.

Bis zu den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 gelang es der Staatsmacht jedoch, die Kontrolle über die Situation im Land wiederzuerlangen und unter Nutzung aller verfügbaren Mittel, den gewünschten Wahlausgang zu erreichen. Offiziellen Angaben zufolge erzielte Wladimir Putin 63,6 % der Stimmen – bei zahlreichen Unregelmäßigkeiten im Laufe der Wahlkampagne und bei der Stimmauszählung. Die daran anschließende Offensive der Staatsmacht gegen die Opposition war dazu bestimmt, im Land den status quo ante wiederherzustellen. Das autoritäre Regime in Russland hat bei den Wahlen 2011–12 empfindliche Verluste einstecken müssen. Es ist noch zu früh, von einer umfassenden Krise oder gar von baldigem Zerfall zu sprechen, doch die Herausforderungen, mit denen die Staatsmacht im Verlauf der vergangenen Wahlperiode konfrontiert war, haben systemischen und unabwendbaren Charakter.

Warum sind diese Herausforderungen »hier und jetzt« entstanden? Wie kam das Wahlergebnis zustande, und welche Mechanismen und Gründe führten einerseits zum teilweisen Wahldebakel der herrschenden Partei und andererseits zum Aufschwung und nachfolgenden Rückgang der Protestaktivität? Wie wirkten sich diese Ereignisse auf die weitere Entwicklung des politischen Systems in Russland aus?

»Stunning elections«: Warum?

Das politische Regime, das sich in Russland in den 2000er Jahren herausgebildet hat, wird von vielen Experten als »elektoraler Autoritarimus« eingestuft, ein Begriff, der sich in den vergangenen Jahren durchgesetzt hat. In solchen Regimen hat die Institution der Wahlen eine ganz reale Bedeutung: Im Gegensatz zum »klassischen« Autoritarismus, bei dem »Wahlen ohne Wahl« vorherrschen (zum Beispiel in Kasachstan und Usbekistan) lässt man im »elektoralen Autoritarismus« unterschiedliche Parteien und Kandidaten zur Wahl zu. Die formellen und informellen Regeln solcher Wahlen sehen jedoch hohe Barrieren für die Wahlteilnehmer vor, etwa den offensichtlich ungleichen Zugang zu Ressourcen, den Einsatz des Staatsapparates zur Maximierung der Stimmenzahl für die herrschende Partei und deren Kandidaten, sowie Manipulationen in allen Bereichen der Wahl, unter anderem bei der Stimmauszählung. Die ungleichen »Spielregeln«, die den Wahlsieg der an der Macht befindlichen Gruppe um jeden Preis und unabhängig von den Präferenzen der Wähler garantieren soll, unterscheidet den elektoralen Autoritarismus von der elektoralen Demokratie. Doch auch das Phänomen der »überraschenden Wahlen« (stunning elections) ist gut bekannt, bei denen autoritäre Regime zur Stärkung ihrer Legitimität Wahlen durchführen, diese aber zu einer Niederlage der herrschenden Gruppe führen und den Weg zu einer umfassenden Demokratisierung eröffnen, wie es in der UdSSR 1989/1990 geschah.

Unfälle des elektoralen Autoritarismus

In den letzten Jahren haben Experten den Einfluss von Regime- und Oppositionshandeln auf den Zerfall von elektoralen autoritären Regimen analysiert, gestützt auf die Erfahrungen der »farbigen Revolutionen« von Serbien (2000) bis Moldowa (2009). Ein Teil der Experten thematisierte die kritische Rolle von Massenmobilisierungen als Folge der Oppositionsbemühungen und richtete besondere Aufmerksamkeit auf die Kooperation unterschiedlicher Gruppen von Regimegegnern und die Taktiken der Oppositionskräfte. Andere Wissenschaftler wiederum richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Verwundbarkeit der autoritären Regime selbst, ihre Offenheit gegenüber dem Einfluss des Westens, die Schwäche des Staatsapparates und/oder der dominierenden Partei, die nicht in der Lage waren, eine umfassende Kontrolle über den politischen Prozess zu garantieren.

Die Schlappe des elektoralen Autoritarismus in Russland im Dezember 2011 kann als Argument für beide Sichtweisen dienen. Auf der einen Seite wendeten die politischen Entscheidungsträger in Russland in den 2000er Jahren große Anstrengungen auf, um das politische Monopols zu festigen, indem sie sich auf die Hierarchie des Staatsapparates (»Vertikale der Macht«) und die dominierende Partei (»Einiges Russland«) stützten und die Innenpolitik des Landes vom Einfluss des Westens abschirmten. Auf der anderen Seite drängten die Aktionen der Staatsmacht, die auf eine systematische Marginalisierung der Opposition ausgerichtet waren, diese in ein politisches Ghetto. Die Spaltung der Oppositionellen in »Systemparteien«, die offiziell registriert sind, doch unter Kontrolle des Kremls stehen, und eine »außersystemische Opposition«, die aus dem politischen Prozess ausgeschlossen war, schwächte die Segmente der Opposition noch weiter.

Demontage des potemkinschen Dorfes?

Es zeigte sich jedoch, dass das Regime selbst nicht geschlossen und monolithisch genug war und die Veränderungen der politischen »Nachfrage« nicht berücksichtigten. Das Verhältnis von Zuckerbrot und Peitsche, welches das Regime seinen Mitbürgern präsentierte, war unausgeglichen. Außerdem war die Taktik der Wahlkampagne schlecht durchdacht. Bildhaft gesprochen kümmerte sich die russische Staatsmacht zu Beginn der Wahlkampagne um die Verschönerung der Fassade des »potemkinschen Dorfes« und richtete keine Aufmerksamkeit darauf, dass sich in den Wänden dahinter immer neue Risse auftaten. Man rechnete damit, dass durch den »umgekehrten Personalwechsel« mit der Rückkehr Putins in das Präsidentenamt, die Demontage der »potemkinschen« Fassade sich von selbst verstehen würde – da die Täuschung dann nicht mehr nötig sein würde. Diese Überlegung ließ jedoch außer acht, dass das »potemkinsche Dorf« von den Bürgern des Landes bewohnt war, deren Beseitigung im Rahmen der Demontage der »Fassade« (zum Beispiel durch Massenrepression) riskant war. Der Versuch, die Bevölkerung davon zu überzeugen, die Demontage freiwillig zu akzeptieren (zum Beispiel durch den Kauf ihrer Loyalität), wäre zu teuer geworden. Die Peitsche war ineffektiv, das Zuckerbrot, das angesichts der grenzenlosen Korruption ohnehin nicht ausreichte, blieb eine Versprechung.

In dieser Situation öffnete der Wahlkampf ein »window of opportunity« für die Opposition. Zu ihr stießen neue Personen, die der Staatsmacht eine Reihe von Überraschungen bereiteten. Der »außersystemischen Opposition« gelang es, durch »negativen Konsens« eine neue politische Identität zu gewinnen, durch »negativen Konsens« (unter dem Motto: »Stimme für wen auch immer, außer für ›Einiges Russland‹!«) und einen Teil der ehemals dem Kreml loyalen »systemischen« Oppositionellen von »Gerechtes Russland« und der Kommunistischen Partei auf ihre Seite zu ziehen. Die Reaktion der Staatsmacht auf diese Prozesse war häufig unadäquat, das Regime erlitt bei jedem Schritt immer verheerendere Verluste. Die früheren Methoden garantierten nicht mehr die Kontrolle über den politischen Prozess im Land, und die Unterstützung für den status quo schwand.

Der Opposition gelang es nicht nur, aus dem »Ghetto« auszubrechen, sondern auch die Initiative an sich zu reißen und ihre Fähigkeit zur Kooperation und zur Mobilisierung der Massen gegen das Regime zu demonstrieren. Das Regime verlor die politische Unterstützung der »fortschrittlichen« Wähler (vor allem der jüngeren, gebildeten und begüterten Großstadtbewohner), seine politische Unterstützerbasis blieb das »periphere« Elektorat: Rentner, gering Gebildete und arme Bewohner der zurückgebliebenen Regionen. Obwohl diese Ereignisse nicht zu einem Regimewechsel führten, stellten sie eine ernsthafte Bedrohung dar und zwangen das Regime zu einer aktiveren und aggressiveren Taktik, die ihm schlussendlich erlaubte, im Verlauf der Wahlen das gewünschte Resultat zu erreichen.

Die Tagesordnung für morgen

Das teilweise Scheitern des elektoralen Autoritarismus in Russland bestimmt die politische Tagesordnung heute und morgen. Der Misserfolg im Verlauf der Dumawahlen 2011 war keineswegs unausweichlich oder vorherbestimmt; im Gegenteil war er eine Folge der strategischen Fehler der herrschenden Gruppe. Die Überbewertung der Wirkung politischer Manipulation, die sich angesichts der bisherigen Erfahrungen eingestellt hatte, verführte das Regime, die Risiken zu unterschätzen, die eine Aktivierung des »fortschrittlicheren« Teils der Wählerschaft bedeutete. Die bekannte These des amerikanischen Politologen V. O. Key jr. »Wähler sind keine Dummköpfe« (»voters are no fools«), die bei der Analyse von Wahlen in Demokratien häufig zitiert wird, macht auch bei der Erforschung von Wahlen im elektoralen Autoritarismus Sinn. Dieser Leitsatz geht auf eine berühmte Äußerung Abraham Lincolns zurück, der erklärte, man könne wenige Menschen lange oder viele für kurze Zeit täuschen, doch niemals alle auf Dauer. Die russischen Wähler hätten noch einige Zeit ihre gleichgültige Haltung gegenüber den Manipulationen und Missbräuchen des Regimes beibehalten, wenn nicht die Opposition gewesen wäre, die die Fehler der herrschenden Gruppe rechtzeitig genutzt und effektive Instrumente zur Aktivierung und Mobilisierung ihrer Anhänger eingesetzt hätte. Allerdings erwies sich das Ressourcenpotential des Regimes als ausreichend, um die Mehrheit ihrer Anhänger zu halten und im März, wenn auch nicht ohne Mühe, die Herrschaft zu behaupten.

Bedeutet dieses Ergebnis die Rückkehr zur Situation vor den Wahlen? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Schlüsse Regime und Opposition aus den Erfahrungen der Jahre 2011/12 ziehen. Für das russische Regime (wie auch für andere autoritäre Regime in der Welt), könnte die zentrale Lehre für die Zukunft die Erkenntnis sein, dass eine Liberalisierung eine Gefahr für den Erhalt des status quo darstellt, was bedeutet, dass zur Aufrechterhaltung der Macht die »Daumenschrauben angezogen« werden müssen. Die jüngste Verschärfung der Strafen bei Verstößen gegen das Versammlungsgesetz sowie die Markierung aller Nichtregierungsorganisationen, die Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als »ausländische Agenten«, scheinen diesen Zielen zu dienen. Es ist jedoch schwer vorherzusagen, ob das Regime weiterhin erfolgreich die politischen Parteien und das Parlament zur Kooptation der »systemischen« Opposition nutzen kann und ob es gelingt, die »außersystemische« Opposition erfolgreich zu isolieren.

Was die Opposition betrifft, so sind die vor ihr liegenden Herausforderungen ungleich größer. Die Aufrechterhaltung des »negativen Konsens« gegen das bestehende Regime über einen langen Zeitraum und dessen Ausbau durch eine organisatorische Konsolidierung wird für die russische Opposition äußerst schwierig werden. Erschwert wird dies auch dadurch, dass das Regime nicht davor zurückschreckt, gegenüber seinen Gegnern eine Taktik des »Teile und Herrsche« anzuwenden. Nichtsdestoweniger war die Erfahrung der Protestmobilisierung in den Jahren 2011/12 nicht nutzlos, weder für die Opposition selbst, noch für die Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen ihrer Anhänger. Die Samen, die im vergangenen Winter auf den Protestveranstaltungen in Moskau und anderen Städten ausgesät wurden, werden auf jeden Fall Früchte tragen, wenn auch möglicherweise nicht in nächster Zukunft. Der Opposition spielt der Faktor in die Hände, dass die Einstellung der »fortschrittlicheren« Wähler über die Zeit auch an einen Teil des peripheren Elektorats weitergegeben und sich dadurch die potentielle Basis der Oppositionsanhänger vergrößern wird. Anders ausgedrückt, die Nachfrage der Staatsbürger nach Alternativen zum status quo wird zunehmen, und die Frage besteht darin, ob es der jetzigen russischen Opposition oder anderen politischen Akteuren gelingen wird, sie in den kommenden Jahren zu befriedigen.

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