Russland wird auf seinen gewohnten und tragischen Weg gedrängt. Erklärung von Memorial International

Vor 38 Jahren, am 30. Oktober 1974 haben Gefangene in den Lagern in Mordowien und im Gebiet Perm, sowie im Gefängnis in Wladimir mit Hungerstreiks und anderen Protestaktionen den »Tag der politischen Gefangenen in der UdSSR« begangen.

Heute begehen wir den 30. Oktober nicht nur als Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Repression, sondern auch wieder als Tag der politischen Gefangenen, nun schon im modernen Russland.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die russische Staatsmacht im Dialog mit der Opposition vor allem die Sprache der Repression nutzt: Festnahmen, Gerichte und Lager. Wieder, wie in den 1920er und 1930er Jahren wird Erfahrung bei der Fabrikation politischer Prozesse gebraucht. Erneut sind Verwünschungen als »ausländische Agenten« im Gebrauch. Nützlich ist auch die frische »kaukasische« Erfahrung mit Entführungen und Geheimgefängnissen.

Russland wird erneut auf seinen gewohnten und tragischen Weg gedrängt.

Wir appellieren nicht an das historische Verantwortungsgefühl unserer Staatsführer. Dieses Gefühl fehlt ihnen offenbar. Wir wenden uns auch nicht an den Selbsterhaltungsinstinkt der russischen Machtelite. Um dieses Gefühl zu entwickeln müsste es zumindest eine ungefähre Vorstellung der Realität geben, die aber bei der gegenwärtigen Elite letztendlich fehlt.

Wir wenden uns an die Gesellschaft und hoffen auf ihre staatsbürgerliche Reife. Wir haben kein fertiges Rezept, wie wir verhindern können, dass Russland in eine neue Spirale von Revolution und Staatsterrorismus abrutscht. Wir müssen gemeinsam nach Formen suchen, wie wir diesen verrückten und selbstmörderischen Schritten, die die Staatsmacht unternimmt, entgegen wirken können. Das Einzige, zu dem alle gesellschaftlichen Kräfte, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, aufzurufen wir notwendig finden, ist die unbedingte Absage an jede Form von Gewalt. Zu Ruhe, Weisheit und Standhaftigkeit.

Wir sind in der Lage die Freiheit zu schützen, wenn wir uns auf das Recht stützen und nicht auf Gewalt.

Vorstand Memorial International

30. Oktober 2012

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Artikel

Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik: Russlands Regime und der Geist der Revolution

Von Il’ja Kalinin
Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. (…)
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Gnose

Perm-36

Von Anke Giesen
Als der Permer Geschichtsstudent Andrej Kalich und seine Freunde auf einer Paddeltour im Sommer 1988 die zum großen Teil noch erhaltenen Gebäude eines ehemaligen Arbeitslagers entdeckten, ahnten sie kaum, welche Bedeutung jenem Ort zukam. Doch Andrejs Vater, der Permer Journalist und Mitbegründer der örtlichen Memorial-Gruppe Alexander Kalich, konnte der Erzählung seines Sohnes entnehmen, dass es sich um das »Besserungs-Arbeitslager für politische Gefangene VS-389/36« handeln musste, im Gefangenen-Jargon schlicht als Perm-36 bezeichnet. Vornehmlich als Graswurzelinitiative entstand dort in den 1990er Jahren eine Gedenkstätte mit einem Museum. Sie entwickelte sich – nicht zuletzt dank dem lokalen Bürgerfestival – in den 2000er Jahren zu einem bedeutenden Zentrum der russischen Zivilgesellschaft. Die aktuellen Entwicklungen im und um das Museum gelten der russischen Opposition als Musterbeispiel für die Neuausrichtung der russischen Geschichtspolitik und für den Umgang des Staates mit unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen.
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