Am 21. November tritt das sogenannte NGO-Agentengesetz in Kraft. Nichtregierungsorganisationen, die sich »politisch« betätigen (was immer das heißt) und gleichzeitig Geld aus dem Ausland bekommen, werden verpflichtet, sich beim Justizministerium in ein besonderes Register eintragen zu lassen. Sobald das geschehen ist, müssen sie alle öffentlichen Äußerungen mit der Formel kennzeichnen, sie agierten in der »Funktion eines ausländischen Agenten«. Ab dem 21. November wird es also darum gehen, welche NGOs zu »ausländischen Agenten« werden und welche nicht.
Anfang November hat das Justizministerium, wie vorgeschrieben, einen Entwurf der Durchführungsbestimmungen des Gesetzes im Internet veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Die endgültige Fassung wird für Ende des Jahres erwartet. Auf die Gretchenfrage, wer oder was als »politisch« eingestuft werden könnte, findet man dort erwartungsgemäß keine Antwort. Die Erfahrung mit derartigen, zur Kontrolle von Politik und Gesellschaft geschaffenen Gesetzen zeigt ohnehin, dass sie hoch selektiv angewandt werden. Wer also als »politisch« angesehen werden wird, wird kaum im Justizministerium, sondern im Kreml entschieden.
Wie werden die NGOs reagieren? Vier mögliche Strategien zeichnen sich ab: Die Weigerung, sich als »Agent« registrieren zu lassen, ein Ausweichen auf andere Organisationformen, demonstrative Selbstbezichtigung als »Agent« und der Verzicht auf ausländisches Geld. Letzteres wäre ganz im Sinne der Initiatoren des Gesetzes. Diesen Weg dürften vor allem kleine und regionale Organisationen wählen. Die demonstrative Selbstbezichtigung als »Agent« soll das Absurde dieser Anschuldigung in den Vordergrund rücken und so das Gesetz selbst denunzieren. Diesen Weg werden voraussichtlich nur einige wenige NGOs gehen, die sich ohnehin seit Jahren dem Vorwurf, »Vaterlandsverräter« oder »Extremisten« zu sein ausgesetzt sehen. Das Ausweichen auf andere Organisationsformen als die einer NGO bietet sich vor allem für Organisationen an, deren Arbeit sich auch als Dienstleistung betrachten ließe. In zahlreichen NGOs gibt es daher die Überlegung, neben der eigenen Organisation eine Firma zu gründen. Wirtschaftsunternehmen, egal welcher juristischen Form, dürfen Geld aus dem Ausland ohne Einschränkungen annehmen. Zudem ist ihre Registrierung weniger aufwändig und die staatliche Kontrolle geringer.
Bleiben die Verweigerer. Einige der angesehensten und bekanntesten russischen NGOs haben bereits öffentlich erklärt, dass sie ihre Arbeit wie bisher auch mit ausländischer Finanzierung fortführen werden, sich aber gleichzeitig nicht als »Agenten« registrieren lassen. Memorial hat das Gesetz bereits Ende September in einer Erklärung seines Vorstands als »amoralisch und ungesetzlich« bezeichnet. Zur Begründung weist Memorial insbesondere auf die von Stalin begründete sowjetische Tradition hin, Andersdenkende als »Spione« anzuklagen und aufgrund gefälschter Beweise oder unter Druck und Folter erpresster Geständnisse zu langjähriger Lagerhaft oder gar zum Tode zu verurteilen. Anfang November nannte der Vorstand von Transparency International Russland das Gesetz in einer Erklärung verfassungswidrig. Er stützt dieses Urteil auf ein Gutachten des Vorstandsvorsitzenden Michail Krasnow, eines der bekanntesten russischen Verfassungsrechtler. Auch die Moskauer Helsinki Gruppe mit ihrer Vorsitzenden Ludmila Alexejewa hat erklärt, die »Agenten«-Registrierung verweigern zu wollen.
Auf der anderen Seite hat Irina Jarowa, die Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Sicherheit und Korruptionsbekämpfung und eine der Initiatoren des Gesetzes, das Justizministerium auf der Website ihrer Partei Einiges Russland bereits aufgefordert, die Weigerung von Transparency International als »bewusste, vorsätzliche Nichteinhaltung des Gesetzes« zu werten und entsprechende, im Gesetz vorgesehene Maßnahmen einzuleiten. Ein großer öffentlicher Konflikt zwischen den NGOs und dem Staat scheint damit kaum mehr vermeidbar.
Das gilt auch, weil das NGO-Agenten-Gesetz (wie im übrigen auch andere in den vergangenen Monaten beschlossene Gesetze, wie das Gesetz über Internetsperren oder das verschärfte Spionagegesetz) die Menschen in Russland ausdrücklich auffordert, den Behörden »verdächtige« NGOs zu melden. Das Justizministerium ist dann ausdrücklich verpflichtet, »gemeldete« NGOs zu überprüfen. Mit diesem »Denunziationsparagraphen« hat sich der Staat die Möglichkeiten zu Kompromissen verstellt, wie sie bisher in vielen Konflikten möglich waren.
Ist erst einmal ein Verfahren beim Justizministerium eröffnet, hat das Ministerium zwei Möglichkeiten: Es gibt der Klage recht und fordert die entsprechende NGO auf, sich zu registrieren. Weigert sie sich weiter, kommt es zum Prozess, gegebenenfalls zur Aussetzung ihrer Tätigkeit und, später, zur Schließung. Bei großen, bekannten und auch international angesehenen NGOs wie Memorial oder Transparency International wäre das ein großer politischer Skandal. Kämen mehrere solcher Fälle zusammen (und das scheint angesichts der Denunziationsaufforderung fast unvermeidlich), würde das zu erheblicher Verschlechterung der Beziehungen zum Westen führen. Auch im Land dürften viele Schließungen bekannter NGOs zu Solidarisierung und Protesten führen. Sollte das Justizministerium aber zum Schluss kommen, die Beschwerde sei unbegründet, weil zum Beispiel Memorial oder Transparency International nicht »politisch« im Sinne des Gesetzes handele, würde das unweigerlich als Niederlage oder Rückzieher des Kremls gewertet, mit entsprechendem Gesichts- und Steuerungsverlust. Es sieht also so aus, als habe sich der Kreml in Zugzwang gesetzt. Er hat mit dem »Denunziationsparagraphen«, bewusst oder unbewusst, die Möglichkeit zu für beide Seiten tragbare Kompromisse, wie sie bisher immer wieder in Konflikten möglich waren, erheblich erschwert.
Während der konstituierenden Sitzung des erneuerten und erweiterten präsidialen Rates für Zivilgesellschaft und Menschenrechte am 12. November hat Putin auf dieses Problem bereits reagiert. Für drei repressive Gesetze hat er Erleichterungen versprochen. Putin »riet« der Duma, das umstrittene Spionagegesetz, das bei ihm zur Unterschrift liegt, nachzuarbeiten und mit dem »Gesetz zum Schutz religiöser Gefühle« noch ein wenig zu warten. Beim bereits von ihm unterzeichneten NGO-Agentengesetz solle darauf geachtet werden, dass es wirklich »rein politische« Tätigkeit trifft. Ein kleines, taktisches Zugeständnis, das zu nichts verpflichtet (wie Putin am selbst zeigte, indem er nur zwei Tage darauf das Spionagegesetz unterzeichnete), aber den eigenen Bewegungsspielraum erweitert.
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