Ein Haushaltssturm…
Im September 2012 hat die russische Regierung einen Entwurf für den Haushaltsplan 2013–2015 ausgearbeitet und vorgelegt. Am 18. September tadelte Präsident Putin seine Minister, weil diese für die von Putin im Mai versprochenen Ausgaben keine Vorkehrungen getroffen hatten. Die versprochenen Ausgaben sollten vor allem zu Gehaltserhöhungen im öffentlichen Bereich eingesetzt werden. Anfang Oktober sprach Andrei Klepatsch, einer der stellvertretenden Minister für wirtschaftliche Entwicklung, von einer Anpassung des Haushaltsplanes, damit die Ausgaben für Gesundheit und Bildung erhöht werden können. Der bestehende Haushaltsplan – vorwiegend ein Werk des Finanzministeriums – wurde dennoch ohne wesentliche Änderungen auf den Weg gebracht. Der Haushaltsausschuss der Staatsduma verkündete dann, dass es den Entwurf vor der ersten Lesung vier Tage lang genau prüfen werde, eine in dieser Phase des Verfahrens ungewöhnlich intensive Vorgehensweise. Die politische Elite verwickelte sich erneut – wie zuletzt bei einer Reihe anderer Themen – in öffentlichem Streit. Worum geht es?
Die Antwort ist: Um mehr als man denken könnte. Haushaltspolitik in Russland ist mit den fundamentalen Herausforderungen verknüpft, denen das Land gegenüber steht – einem mittelfristigen Schwund der Arbeitskräfte, einem abrupten Abschwung bei der Versorgung mit ausländischen Krediten, unsicheren Eigentumsrechten, einem schwachen Binnenwettbewerb und einer Anfälligkeit gegenüber volatilen Ölpreisen.
… im Wasserglas?
Auf den ersten Blick scheinen die Fragen, um die es geht, nicht fundamentaler Natur zu sein. Der betreffende Haushaltsplan gilt nur für den Haushalt auf Föderationsebene, die jüngste Haushaltsbilanz ist sehr viel gesünder gewesen als die Bilanzen in der westlichen Welt, und an OECD-Standards gemessen ist die öffentlichen Verschuldung lächerlich gering. Könnte da nicht ein bisschen mehr ausgegeben werden, ohne Schaden befürchten zu müssen?
Da wäre zunächst das Problem der vielen Haushalte auf den verschiedenen Ebenen in Russland. Der zentrale Haushalt macht zwar nur rund vier Siebtel der Staatsausgaben aus und beträgt in letzter Zeit etwa 20–21 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Doch werden die regionalen Haushalte durch Transferzahlungen aus dem zentralen Haushalt gestützt. Die regionalen und kommunalen Verwaltungen verfügen kaum über eine Unabhängigkeit bei der Wahl der Besteuerungsgrundlage oder der Steuersätze. Auch beim staatlichen Rentenfonds wird ein sehr großes Loch (rund 2 % des BIP) durch Transferzahlungen aus Moskau gestopft. Die Gesamtbilanz von Staatseinnahmen und -ausgaben hängt also am zentralen Haushalt.
Zum zweiten ist Russland derzeit in guter fiskaler Verfassung. Die Grafiken 1 und 2 zeigen eine – nach OECD-Standards – strahlend gesunde Haushaltssituation. Dies gilt nicht nur für Russland, sondern auch für eine Reihe anderer öl- und gasexportierender Länder. 2011 hatten Russland, Kasachstan, Saudi-Arabien und Norwegen alle eine positive Haushaltsbilanz. Die drei erstgenannten wiesen eine vergleichsweise geringe öffentliche Verschuldung auf. Norwegen mit seinem ausgebauten Sozialsystem hatte eine mittlere Verschuldung.
Die jüngste Erfahrung in Russland verweist allerdings auf ein ernst zu nehmendes Risiko. Als der Ölpreis 2008/09 drastisch zurückging, schrumpfte das russische BIP 2009 um 7,8 % (im Jahresvergleich zu 2008). Dies war der prozentual stärkste Rückgang in den G20-Staaten. Überraschenderweise erfolgte in anderen wichtigen ölexportierenden Ländern, etwa in Saudi-Arabien lediglich eine Abschwächung des Wachstums, jedoch kein ausgesprochener Rückgang des BIP.
Diese Anfälligkeit ist nicht einfach zu erklären. Sie könnte daher rühren, dass es sowohl in der russischen Wirtschaft als auch auf den globalen Märkten in besonderem Maße an Vertrauen fehlt, dass Russland einen niedrigeren Ölpreis bewältigen kann. Somit könnte es sich hier um das Resultat einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung handeln. Alexej Kudrin, der vielbewunderte und langgediente, im September vergangenen Jahres zurückgetretene Finanzminister Russlands, hat argumentiert, dass Russland sich nicht ohne weiteres kurzfristig die nötigen Mittel leihen könne, um ein Haushaltsdefizit von 3 % des BIP auszugleichen. Im gleichen Sinne hat er immer wieder erklärt, dass Russland sich nicht den Luxus einer öffentlichen Verschuldung von deutlich über 30 % des BIP erlauben könne. Grafik 2 illustriert die weitaus luxuriöseren Verschuldungsquoten, die sich einige führende westliche Nationen leisten.
Zwei Sichten auf den Weg, der vor Russland liegt
Für den größten Teil des bisherigen 21. Jahrhunderts sahen Politiker in Russland die Öldollars strömen. Es gab zwei entgegengesetzte Reaktionen auf diesen Geldfluss: ausgeben oder sparen. Dies hieße natürlich, die Dinge vereinfacht darzustellen, doch nicht allzu sehr. Die Einnahmen aus den Steuern auf mineralische Rohstoffe und die Exportabgaben auf Öl und Gas haben bislang rund die Hälfte der Einnahmen im Zentralhaushalt ausgemacht. Für den größten Teil seiner zehn Amtsjahre als Finanzminister hat Kudrin den Ausgabenbefürwortern Widerstand entgegen gebracht. Seit 2004 baute er den Stabilisierungsfonds auf, der später in den Reservefonds und den Nationalen Wohlstandsfonds (russ: FNB) geteilt wurde. Dessen Mittel haben 2008 und 2009 die Staatsausgaben gestützt, als die Einnahmen aus fossilen Energieträgern zurückgegangen waren. Russland konnte dadurch die heftige Rezession ohne eine größere Verschuldung bewältigen.
Diese Position wurde von Kudrins Nachfolger Anton Siluanow beibehalten. Weder Siluanow noch Kudrin haben es jedoch vermocht, den Anstieg der Ausgaben zu bremsen. 2007 betrug der Preis für die Ölsorte Urals, bei dem der Haushalt absolut ausgeglichen wäre, 29 US-Dollar pro Barrel, 2012 liegt er bei 117 $.
Der Druck zu höheren Ausgaben entsteht zum Teil durch hochgestellte Beamte, die ihre eigenen Pläne haben, Gelder aus staatlichen Projekten abzuschöpfen. Dementsprechend lautete einer der Einwände Kudrins gegen erhöhte Ausgaben, dass unter den Bedingungen in Russland ein großer Teil der Gelder nicht dort ankommt, wo es vorgesehen war. Es gibt aber auch eine Denkschule, die als Teil einer Strategie zur Entwicklung und Diversifizierung der russischen Wirtschaft mehr Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Forschung befürwortet. Diese Ansicht wurde in jüngster Zeit – um es an einem Ressort festzumachen – durch das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung vertreten. Sie wird auch von einer ganzen Armee von Wirtschaftsexperten geteilt, die Vorschläge für eine Revision der bestehenden nationalen Wirtschaftsstrategie bis 2020 vorgelegt haben.
Einerseits wäre da also die Sicht des Finanzministeriums, das zu einer Haushaltskonsolidierung rät, und zwar mit einem bis 2015 ausgeglichenen Haushalt und einem Aufbau des Reservefonds und des Nationalen Wohlstandsfonds. Vorrangig wäre demnach, dass Russland als gut dastehend wahrgenommen wird, um einen möglichen Rückgang der Ölpreise bewältigen zu können.
Dem stehen auf der anderen Seite gleich zwei Interessengruppen gegenüber. Zum einen diejenigen, die sich aus zweifelhaften Motiven große Staatsausgaben wünschen. Daneben gibt es aber auch jene, die von liberalen Standpunkten aus für mehr Privatisierung und den Aufbau einer unabhängigen Justiz eintreten – gleichsam für ein Spielfeld von Millionen Hektar, auf dem gleiche Bedingungen herrschen –, die aber gleichzeitig höhere Ausgaben für Bildung, Gesundheit und die Infrastruktur befürworten, um das Wachstum langfristig zu sichern.
Die Gefahr fallender Ölpreise
In den ersten acht Monaten 2012 haben die Öl- und Gaseinnahmen – so, wie sie offiziell definiert werden – knapp über die Hälfte der Einnahmen des zentralen Haushalts ausgemacht. Die reale Haushaltswirkung der Öleinnahmen ist jedoch größer. Zu »Öl- und Gaseinnahmen« im Sinne des Finanzministeriums werden nämlich nicht die Einnahmen aus der Besteuerung von Gewinnen gezählt, die zwischen dem zentralen Haushalt und denen der unteren Ebenen aufgeteilt werden. Darüber hinaus beeinflusst der Strom der Öl- und Gaseinnahmen – obwohl ein Teil davon durch Umlenkung in den Reservefonds und den Wohlstandsfonds »sterilisiert«, also aus dem Umlauf des Inlandseinkommens genommen wird – die Einkommen und dadurch die Nachfrage, also allgemeinere Bereiche wirtschaftlicher Aktivität in Russland. Dies bedeutet, dass Änderungen des Ölpreises einen Sekundäreffekt auf die Staatseinnahmen aus dem Nichtöl- und Nichtgas-Bereich haben.
Die Risiken durch niedrigere Ölpreise sind in den jüngsten Zahlen des zentralen Haushalts nicht sofort erkennbar.
Auf den ersten Blick zeigt Tabelle 1 eine stimmige Ausgangssituation im Jahre 2012 und dann recht konservativ ausfallende Projektionen des Urals-Ölpreises für die nächsten Jahre in einem Szenario, bei dem ein sehr bescheidenes Defizit allmählich reduziert wird. Es sollte aber nicht außer Acht gelassen werden, dass im zentralen Haushalt die Ausgaben regelmäßig erst im Dezember verstärkt zu Buche schlagen, so dass das Gesamtergebnis dieses Jahr weniger freundlich aussehen dürfte, als es die aktuellen Zahlen nahelegen. Zudem könnte der für die Jahre 2013–15 projizierte Ölpreis sich tatsächlich als unberechtigt gering herausstellen. Er könnte sich aber auch als zu hoch erweisen. Wenn wir nämlich eines über Ölpreise wissen, dann, dass sie sich bewegen. Ziel des Finanzministeriums ist es daher, Russlands Anfälligkeit gegenüber heftigen Ausschlägen beim Ölpreis zu reduzieren. Dies soll zum Teil durch Begrenzung der Ausgaben erreicht werden, damit der zentrale Haushalt bei knapp über 90 US-$ ausgeglichen wäre, gegenüber 117 $ dieses Jahr.
Angesichts dieses Durcheinander und einer Stagnation – an guten Tagen – in Europa, des drohenden »Fiscal Cliff« in den USA sowie einer schwächelnden Wirtschaft in China und einigen anderen Schwellenländern sind aus Moskauer Sicht Horrorszenarien von einem Ölpreis von unter 80 oder gar 60 US-$ nicht ganz unberechtigt. Die Kudrinsche Vorstellung geht davon aus, dass Russland auf solche Eventualitäten vorbereitet sein sollte. Dies impliziert aber auch, dass zusätzliche Staatsausgaben die Aussichten für Russland nicht zum Besseren wenden werden.
Kanonen, Renten und Rosneftegas
Die grundlegenden Differenzen zur Haushaltspolitik sind auch mit unterschiedlichen Ansichten zu den Verteidigungsausgaben, zur Reform des staatlichen Rentensystems und zur Kontrolle über Unternehmen im Energiesektor verknüpft. Ich möchte diese hier aus Platzgründen nicht zu sehr ausbreiten. Einige Punkte werden, so hoffe ich, genügen.
Die öffentlichen Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit wachsen in diesem Jahr schneller als das BIP und die Haushaltseinnahmen. Kudrin kritisiert nun – wie auch Klepatsch vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung – den Haushaltsentwurf wegen der Vernachlässigung von Infrastruktur, Gesundheit und Bildung, gibt aber indirekt zu verstehen, dass die Verteidigungsausgaben zugunsten dieser Posten gekürzt werden sollten.
Die vom Arbeitsministerium vorgeschlagene »Reform« des Rentensystems liefe darauf hinaus, dass das System sogar 2030 noch auf Zuschüsse aus dem zentralen Haushalt angewiesen wäre.
Der Kampf um die Privatisierung einiger großer staatlicher Stromunternehmen neigt sich in einer Richtung, dass diese letztendlichen unter die Kontrolle von Igor Setschins staatlicher Holding Rosneftegaz geraten.
Für Reformer bedeuten alle diese Momente keine gute Nachrichten, sondern eher ein »Der Kampf geht weiter!«
Schlussfolgerungen
Die aktuellen Debatten über Haushaltsfragen sind bereits als Tatsache an sich bedeutsam. Die Risiken einer anhaltenden globalen Rezession sprechen für Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben.
Nehmen wir einmal an, dass grundlegende Wirtschaftsreformen umgesetzt würden. Ein Russland mit unabhängigen Gerichten, Rechtsstaatlichkeit und einem gesicherten Recht auf Eigentum wäre ein Land, in dem die Investitionsrate höher und Wettbewerb in größerem Maße wirksam wäre und in dem die Manipulation der Renten aus dem Öl- und Gasgeschäft nicht länger im Zentrum des politischen Lebens stünde. Es wäre somit ein Land, das eine höhere öffentliche Schuldenlast schultern könnte, ohne unter den Investoren Panik auszulösen. Öffentliche Ausgaben für Infrastruktur und Bildung hätten eine größere Chance, für einen breiteren Teil der Gesellschaft einen Nutzen zu bewirken.
Die Risiken durch fallende Ölpreise, die sich derzeit so drohend aufbauen, wären dann viel geringer. Die Optionen bei makroökonomischen Fragen wären andere, weil sich die mikroökonomischen Spielregeln geändert hätten. So, wie die Dinge derzeit stehen, lässt sich nur schwer gegen die Ansicht argumentieren, die das russische Finanzministerium zu den bestehenden Optionen hat.
In den gegenwärtigen öffentlichen Differenzen zum Haushalt und den damit verbundenen Fragen ist wohl kaum nur ein Teil der üblichen Reibereien zu sehen, die es in jeder Regierung gibt. Wichtiger ist, dass sie nicht mit dem normalen Funktionieren jener Putinistischen Ordnung im Einklang zu stehen scheinen, die wir seit den frühen 2000er Jahren kennen. Die Streitereien sind zu zahlreich, werden zu öffentlich ausgetragen und sind zu sehr mit den Kompetenzen und der Legitimität diverser Teile des Staatssystems verknüpft. Es könnten also – mit den Worten einer polnischen Expertin – Turbulenzen bevorstehen.
Übersetzung: Hartmut Schröder