Sergej Magnitskij, Dima Jakowlew und der Aufstand der Anständigen

Von Jens Siegert (Moskau)

Die traditionellen Neujahrsferien in Russland waren dieses Jahr unruhig. Auslöser dieser Unruhe (wenn auch nur zum Teil Grund) war ein Gesetz, das die Staatsduma in aller Eile kurz vor Neujahr verabschiedete und von Präsident Putin am 28. Dezember unterzeichnet wurde: das sogenannte Dima Jakowlew-Gesetz. Dieses Gesetz war die direkte Antwort auf die sogenannte Magnitskij-Liste der USA. Diese beiden Namen müssen kurz erklärt werden.

Sergej Magnitskij war ein junger russischer Wirtschaftsprüfer, der entdeckt hatte, dass ein Kartell aus Beamten den russischen Staat auf Kosten einer von ihm zu prüfenden Firma um mehrere Hundert Millionen US-Dollar betrog. Er zeigte den Betrug an, landete selbst in Untersuchungshaft und starb dort, wie eine Untersuchung des präsidialen Rats für Zivilgesellschaft und Menschenrechte zeigte, Ende 2009, weil man ihm notwendige medizinischen Hilfe systematisch verweigert, vielleicht sogar noch nachgeholfen hatte. Alle staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen endeten ergebnislos, was bei kräftiger staatsanwaltschaftlicher, polizeilicher und gerichtlicher Verwicklung in den Fall kein Wunder war. Bis heute ist niemand für den Tod von Sergej Magnitskij zur Verantwortung gezogen worden. Mehr noch: Posthum wurde ein Verfahren gegen Magnitskij eröffnet, mit dem Ziel, ihn eben wegen des Betrugs zu verurteilen, den er aufgedeckt und angezeigt hatte.

Dank äußerst reger Lobbyarbeit, vor allem von Magnitskijs Auftraggeber Bill Browder, beschloss der US-Kongress ein Gesetz. Künftig, solang der Fall Magnitskij in Russland nicht ordentlich untersucht und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, wird den in den Fall verwickelten russischen Beamten und Politikern die Einreise in die USA verweigert. Zwar gibt es die zugehörigen Liste noch nicht und wahrscheinlich werden auf ihr nur dritt- und viertrangige Namen stehen, aber das politische russische Establishment (sprich: der Kreml und sein Hausherr) nahm die Magnitskij-Liste übel. Schnell wurden Stimmen laut, man müsse darauf hart und (Lieblingswort!) »asymmetrisch« reagieren. Die Asymmetrie liegt nun im Dima Jakowlew-Gesetz verborgen.

Dima Jakowlew war ein russisches Waisenkind, dass von einer US-Familie adoptiert worden war, wie rund 60.000 andere Waisen seit dem Ende der Sowjetunion. Sein amerikanischer Adoptivvater vergaß den knapp Zweijährigen im Juli 2008 an einem heißen Tag auf der Fahrt zur Arbeit in seinem Kindersitz im Auto. Als er zurückkam, war das Kind tot. Im darauf folgenden Strafprozess verzichtete der Richter nach mehreren Monaten Untersuchungshaft auf eine Haftstrafe mit Hinweis auf das ohnehin zerstörte Leben des Adoptivvaters. Dieses Urteil löste in Russland seinerzeit bereits eine mit Antiamerikanismen gespickte Welle der Empörung aus. Schon damals wurden (oft mit nationalistischen Tönen unterlegte) Rufe laut, die Praxis der Adoption ins Ausland zu beenden. Offenbar dachte man im Kreml, den Strom dieser Empörung nun auf die eigenen Mühlen zu leiten. Das ist gründlich misslungen.

Die Empörung kam aus der anderen Richtung. Nicht die angebliche und notorische Russenfeindlichkeit der Amerikaner, die nun auch noch russische Kinder straflos töten dürfen, wurde trotz äußerster propagandistischer Anstrengungen zum Skandalon, sondern das Benutzen russischer Waisenkinder als außenpolitische Waffe. So groß war die Verwunderung, dass sich anfangs kaum jemand vorstellen mochte, Putin werde das Gesetz, so es das Parlament verabschieden würde, auch wirklich unterzeichnen. Die Ablehnung ging bis in die Regierung. Drei Minister, darunter der ansonsten innenpolitisch äußerst zurückhaltende Außenminister Sergej Lawrow, wandten sich öffentlich gegen das Gesetz. Ein bis dahin einmaliger Vorgang. Wjatscheslaw Nikonow, Dumaabgeordneter und Leiter der Stiftung »Russkij Mir« (»Russische Welt«), ansonsten einer der ersten, heftigsten und zynischsten Verteidiger des Russentums gegen den verderbten Westen, zeigte sich noch Mitte Dezember im Fernsehen überzeugt, dass so etwas Unsinn sei. Niemand mit einigermaßen Verstand würde »sowas« machen, kanzelte er den Moderator mit typisch süffisant-überlegenem Lächeln ab. Im Parlament stimmte dann auch Nikonow für das Gesetz und die Minister schwiegen. Auch der bekannte Priester-Publizist Andrej Kurajew, keineswegs ein Liberaler, kritisierte das Gesetz.

Für die Opposition hat der Protest gegen das »Schurken-Gesetz«, wie es schnell getauft wurde, eine doppelte Wirkung. Es konsolidiert und spaltet. Es konsolidiert das »anständige« Russland, den tragenden Teil der Vorjahresproteste, die sogenannte »Creative Class«, eine liberale Mittelschicht. Gleichzeitig zieht es einen ersten klaren Strich zwischen dieser Mehrheit innerhalb der Opposition (die auch im vorigen September per Internetabstimmung gewählten Koordinationsrat der Opposition abgebildet ist) und einer kommunistischen und nationalistischen Minderheit. Am »Marsch gegen die Schurken« am 13. Januar vom Puschkin-Platz zum Sacharow-Prospekt nahmen fast nur VertreterInnen des liberalen Oppositionsflügels teil. Die bisher immer stark vertretenen Nationalisten blieben ganz weg. Kommunisten kamen wenig. Eduard Limonow, Gründer und Führer der Nationalbolschewisten, die in den fast demonstrationsfreien Jahren bis Ende 2011 das Gros des Fußvolks gebildet hatten, unterstützte, gegen den »US-Imperialismus« wetternd, gar das Gesetz.

Zugleich zeigte die Mobilisierung das anhaltend große Potential der Protestbewegung, die ja im der zweiten Jahreshälfte 2012 immer wieder für tot erklärt worden war. Zum »Marsch gegen die Schurken« kamen zwischen 20.000 und 30.000 Menschen. Wichtiger aber vielleicht waren die jeweils mehr als 100.000 Unterschriften unter zwei Kampagnen der Nowaja Gaseta, erst im Dezember gegen das Gesetz selbst und nun (die Sammlung läuft noch, Stand 21.1.2013, 13.15 Uhr: 127470 Unterschriften) für eine Parlamentsauflösung und Neuwahlen.

Offenbar hat man im Kreml recht bald gespürt, dass das Dima Jakowlew-Gesetz in der Bevölkerung nicht gut ankommt. Jedenfalls wurden die Regionalparlamente aufgefordert, das Gesetz, mit dem sie formal nichts zu tun haben, durch Resolutionen zu unterstützen. Einige taten das auch. Im Parlament des Gebietes Pskow jedoch kam die erforderliche Stimmenzahl dank Lew Schlosberg nicht zusammen. Der langjährige Jabloko-Abgeordnete rief in einer wohlargumentierten Rede, in der er unter anderem auf die katastrophale Lage vieler Waisen in Russland hinwies, dazu auf, die Resolution, eingebracht vom Parlamentsvorsitzenden, nicht anzunehmen. Schlosberg ist die Spannung anzumerken, aber seine Intervention zeigt, dass ein wenig Anstand und Mut immer noch etwas ausrichten kann in Russland heute.

Das Dima Jakowlew-Gesetz und die Reaktionen darauf machen aber auch eine grundsätzliche Veränderung des Charakters des Regimes deutlich. Es gibt nichts mehr zu verhandeln. Putin setzt auf eine angenommene antiwestliche, antiliberale Mehrheit. Bis zum Vorjahr war es nach repressiven Gesetzen immer so, dass zwischen Kreml und liberaler Opposition ein neuer Modus Vivendi ausgehandelt wurde. Bei vielen der jüngst beschlossenen Maßnahmen gibt es, im Wortsinn, nichts mehr zu verhandeln. Das ist in vielem eine moralische und weniger eine politische Frage. Der Kreml reagiert auf die Rückkehr der Politik durch die Massendemonstrationen, indem er sie durch Moral (oder, aus der Sicht der Opposition: Unmoral) ersetzt. Dadurch aber drängt er die Opposition so in die Enge, dass Kompromisse nicht mehr möglich sind.

Das war schon beim NGO-Agentengesetz so. Memorial, nur als Beispiel, kann sich nicht zum »Agenten« erklären lassen, weil genau das die stalinistische und poststalinistische Methode war, mit der der Sowjetstaat seine (angeblichen) Feinde zu diskreditieren und erniedrigen suchte. Da die Aufarbeitung dieser Methode und die Rehabilitierung ihrer Opfer Kern des Selbstverständnisses von Memorial ist, ist kein Zurückweichen möglich. Ähnliches gilt jetzt für das Dima Jakowlew-Gesetz: Wo mit Kindern auf derart unanständige Weise Politik gemacht wird, sind Kompromisse fehl am Platz.

Hinzu kommen Gesetze ohne Sinn, wie das neuformulierte Spionagegesetz oder, eigentlich eine gute Sache, das neue Datenschutzgesetz. Es ist schlechte russische Tradition Gesetze so zu formulieren, dass sie von der Verwaltung vielfältig auslegbar sind. Doch für diese beiden Gesetze gilt nicht nur das. Sie sind zudem so gestaltet, dass sie einzuhalten unmöglich ist. Der russische Staat treibt so die Methode, seine BürgerInnen ihm gegenüber grundsätzlich für »schuldig« zu halten, auf die Spitze. Nach dem Spionagegesetz steht praktisch jeder Kontakt mit dem Ausland in Gefahr, als Vaterlandsverrat gewertet zu werden. Das steht völlig im Belieben der Exekutive. Das Datenschutzgesetz stellt so hohe Schutzhürden auf, dass schon die Aufbewahrung allgemeiner Personendaten wie Name, Geburtsdatum und Adresse in einem Computer ohne vom Geheimdienst zertifiziertes Schutzprogramm (das teuer zu erwerben ist) strafbar ist.

Der Staat hat den Teil des »Gesellschaftsvertrag« der 2000er Jahre, nach dem er sich in das Privatleben der Menschen nicht einmischt, einseitig aufgekündigt. Die BürgerInnen unterhöhlen derweil das Politikverbot. Wenn die wirtschaftlichen Prognosen fast aller ExpertInnen nicht trügen, wird der Staat bald auch mit seinem Wohlstandsversprechen Probleme bekommen. Unruhige Zeiten.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.

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