Was tun mit Russland? Wie die USA und die EU aus unterschiedlichen Gründen zur gleichen Russlandpolitik finden

Von Jens Siegert (Moskau)

Jahrelang gab es kaum etwas Böseres für russische Außenpolitiker (und für die meisten anderen, also normalen Menschen im Land auch) als die in Aufbau befindliche US-amerikanische Raketenabwehr in Europa. Die USA behaupten, es gelte sich gegen den Iran zu schützen. Die Russen (die meisten, nicht nur der Kreml) glauben (wie so oft), eigentlich seien sie gemeint und der Iran nur ein Vorwand. Als Beweis dienen Polen, die baltischen Staaten und Tschechien, die alle die Raketenabwehr dringend haben wollen – und das kann ja gar nicht anders als zumindest auch »antirussisch« (so nennt man alles, was Russland nicht liebevoll umarmt oder respekt-, respektive reuevoll vor ihm kniet) motiviert sein (was es sicher auch ist).

Nun hat der neue US-Verteidigungsminister Chuck Hagel erklärt, die USA würden die vierte Ausbaustufe der Raketenabwehr »bis 2022« (also ziemlich endgültig) auf Eis legen. Nordkorea sei nun wichtiger. Geld und Waffen würden in Nordostasien gebraucht. Zusätzliches Geld gibt es für das Pentagon bekanntermaßen auf absehbare Zeit nicht. Diese vierte Stufe wurde von russischen Militärs als besonders heikel, ja geradezu schicksalhaft angesehen, weil mit ihr die atomare Zweitschlagskapazität Russlands gefährdet sei. Da sollte die US-Umorientierung doch eigentlich ein Fest für den Kreml sein. Ist es aber nicht.

Der Kreml möchte weiter »rechtliche Garantien«, dass die US-Raketenabwehr nie und niemals kommt, auch nicht im fernen Jahr 2022. »Das ist kein Entgegenkommen in Bezug auf Russland und wird von uns auch so nicht aufgefasst«, nölte entsprechend sogleich Sergej Rjabkow, stellvertretender Außenminister und brachte das Problem, wohl eher ungewollt, auf den Punkt: Die Entscheidung der US-Regierung wurde nicht wegen der russischen Einwände getroffen oder weil Russland so stark und wichtig ist, sondern umgekehrt, weil das Land für die USA strategischer immer unwichtiger wird.

Schon im US-Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Herbst spielt Russland kaum eine Rolle. Ich habe darüber in meinem Blog ausführlich geschrieben (http://russland.boellblog.org/2012/11/04/us-prasidentenwahl-und-das-verhaltnis-zwischen-den-usa-und-russland/). Aus Washingtoner Sicht ist Russland, wie Ivan Krastev vom Centre for Liberal Strategies in Sofia kürzlich schrieb (http://www.opendemocracy.net/od-russia/ivan-krastev/would-democratic-change-in-russia-transform-its-foreign-policy), »nerviger und lästiger« geworden, vor allem braucht die USA Russland immer weniger. Durch die Schiefergas-Revolution ist Russland als Energiepartner uninteressant geworden. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und den USA, ohnehin nie wirklich bedeutend für eine der beiden Seiten, bleiben auf absehbare Zeit vernachlässigbar.

Auch das internationale Störpotential Russlands ist aus US-Sicht geringer geworden. Das liegt nicht daran, dass Putin und die Seinen sich nicht bemühen würden. Bei den meisten weltpolitisch wichtigen Brennpunkten stehen Russland und die USA inzwischen auf unterschiedlichen Seiten, fast wie im Kalten Krieg. Gleichzeitig spielt die UNO für die USA eine immer kleinere Rolle. In Washington scheint sich die Sichtweise durchgesetzt zu haben, dass die UNO für die Bewältigung der aktuellen globalen Krisen nicht sonderlich gut zu gebrauchen ist. Folglich verliert das russische Vetorecht im Sicherheitsrat erheblich an Wert, wenn der gar nicht mehr erst gefragt wird. Mit dem Rückzug der US- und anderer NATO-Truppen aus Afghanistan verliert Russland auch seinen Wert als Transitland für den Nachschub (dafür müssen sich die Russen bald selbst um Afghanistan kümmern, eine Diskussion, die in Russland noch gar nicht richtig angefangen hat). Den Umgang mit der russischen (Unter-)Stützung des Assad-Regimes in Syrien haben die USA sozusagen outgesourct. Das überlassen sie weitgehend dem NATO-Partner Türkei.

Hinzu kommt das, wie soll man sagen, US-amerikanische »Unverständnis« über das sogenannte Dima-Jakowlew-Gesetz zum Verbot der Adoption russischer Waisen durch US-Bürger als Antwort auf die sogenannte Magnitskij-Liste (siehe ausführlicher: http://russ land.boell blog.org/2013/01/21/sergej-magnitskij-dima-jakowlew-und-der-aufstand-der-anstandigen und die Russlandanalysen Nr. 252). Die moralische Zweifelhaftigkeit dieser, wie das im Kremlsprech heißt, »asymmetrischen Antwort« auf einen »antirussischen Akt« hat in den USA die Bereitschaft, sich mit Russland seriös auseinander zu setzen sicher nicht erhöht. Man könnte, mit Krastev, sagen, die USA erwarten von Russland in naher Zukunft kaum Gutes, aber auch wenig wirklich Schlechtes. Da scheint es rational, lieber auf Änderungen in Moskau zu warten und vorerst die eigenen Anstrengungen klein zu halten.

Ein wenig anders sieht die Sache zwischen der EU und Russland aus. Zwar sind sowohl die EU-Führung in Brüssel als auch die Regierungen in Berlin, Paris, London oder Warschau zunehmend ratlos, wie mit dem seltsamen großen Land am östlichen Rand Europas umzugehen sei. Aber die strategische Bedeutung Russlands für die EU im Allgemeinen und viele EU-Mitgliedsländer im Besonderen ist doch immer noch erheblich größer als bei den USA. Das gilt sowohl für die Wirtschaft (Energieimporte einerseits, Russland als Exportmarkt für hochwertige Industrieprodukte aber auch Nahrungsmittel andererseits) als auch sicherheitsstrategisch. Geographie spielt eben auch im 21. Jahrhundert eine große Rolle.

Die EU-Ratlosigkeit wird, neben der sich in Bezug auf Demokratie und Freiheit immer weiter verschlechternden innenpolitischen Situation in Russland, vor allem aus zwei Quellen gespeist: Zum einen ist die EU angesichts der Krise viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Kraft für eine neue, auf jeden Fall andere Russlandpolitik zu formulieren. Und da, wo die Krise auch Russlands Interessen betrifft, wie im Fall Zyperns, tun sich sofort neue Problemzonen auf: Wie angestochen reagierte der Kreml auf die von den EU-Finanzministern beschlossene Beteiligung der Anleger an der Rettung des zyprischen Bankensystems. Kurz darauf, das zyprische Parlament hatte den Plan abgelehnt, wuchs in der EU die Furcht, Russland könne die kleine Insel durch neue Kredite einfach »übernehmen« und sich so direkten Einfluss auf innere Angelegenheiten der EU verschaffen. Zum anderen ist es (neben der von Gazprom verschlafenen Schiefergas-Revolution in den USA) vor allem die EU, die mit ihren Antimonopolverfahren der Kremlmelkkuh Gasprom Probleme bereitet. Trotz aller russischer Diversifikationsversuche (die z. B. am kommenden Wochenende beim Besuch des neuen chinesischen Präsidenten Xi Jinping intensiv fortgesetzt werden) wird die EU nämlich zumindest mittelfristig der wichtigste, vor allem aber der zahlungskräftigste und -willigste Markt für russisches Gas bleiben.

Hinzu kommt noch, dass die lange Zeit in vielen wichtigen EU-Ländern, vor allem in Deutschland, eher günstige öffentliche Stimmung für Putin im Vorjahr endgültig umgeschlagen ist. Durch das repressive Vorgehen gegen die Straßenproteste, gegen NGOs und Oppositionelle, vor allem aber der Prozess gegen Pussy Riot und nicht zuletzt die zunehmende Diskriminierung von Homosexuellen, Bisexuellen und Transgendern haben Putins Image und damit das seines Landes haben erheblichen Schaden genommen.

Kurz zusammen gefasst: Auch in der EU ist die Hoffnung, mit der gegenwärtigen russischen Führung zu einem für beide Seiten akzeptablen Modus Vivendi zu kommen, erheblich kleiner geworden. Das Ergebnis ist, ich wiederhole mich, weitgehende Ratlosigkeit. Was bei den meisten westlichen BeobachterInnen und AkteurInnen bleibt, ist die durch viele Analysen gestützte Hoffnung, es könne nicht mehr so lange in Russland gut gehen, wenn das Putin-Regime sich nicht bald öffnet (wofür es aber immer weniger Anzeichen gibt, eher umgekehrt). Also auch hier eher ein Abwartemodus, der sich gut mit der eigenen Beschäftigung mit sich selbst verträgt.

Das mag, angesichts der eigenen Möglichkeiten und der russischen Gegebenheiten, ein realistischer Ansatz sein. Da politische Änderungen wo auch immer und in welche Richtung auch immer aber die dumme Angewohnheit haben unerwartet zu passieren, sollte man zumindest die Diskussion über eine zukünftige Russlandpolitik aktiver gestalten. Doch auch dazu scheint gegenwärtig die Kraft weder in den USA noch in der EU zu reichen.

Und Russland? Die russische Führung scheint sich, wie schon zu Beginn der Finanzkrise, vor allem in den Problemen der anderen zu sonnen und die eigenen lieber nicht wahr zu nehmen. Das kann noch eine Weile, aber nicht mehr allzu lange gut gehen. Dann wird sich auch Russland ändern müssen.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.

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