Humor – die politische Dimension
Humor in Russland besitzt traditionell auch eine politische Dimension. In der Sowjetzeit diente Humor als Ventil, durch das das Unerlaubte zensurfrei reflektiert werden konnte. Anekdoten und Witze aus der damaligen Zeit spiegeln anschaulich die Absurdität der sowjetischen Realität und das Verhältnis sowjetischer Menschen zu dieser wieder.
In postsowjetischer Zeit entdeckten die Polittechnologen den Humor als ein effektives Instrument zur Manipulation der Bürger. Zu diesem Zweck bot sich das Fernsehen als ein geeignetes Medium an.
Im russischen Fernsehen nimmt die Sendezeit für humorvolle Unterhaltung beständig zu. Die Anzahl der Shows mit humoristischem Inhalt – Comedy Shows, Comedy Fallen, Sitcoms, Shows populärer Komiker – steigt auf allen Sendern. Diese Entwicklung der TV-Unterhaltung wird von vielen Kritikern des Putinschen Systems als bewusster Versuch der staatlichen Medien wahrgenommen, russische Bürger von politischen Aktivitäten fernzuhalten. Gleichzeitig werden scheinbar beiläufig staatliche Positionen und Ordnungsvorstellungen durch Unterhaltungssendungen und Witze vermittelt.
Der vorliegende Beitrag behandelt drei Humor- und Unterhaltungssendungen im russischen Fernsehen, die in den letzten Jahren hohe Einschaltquoten hatten: KWN (russ. Klub Wesjolych i Nachodtschiwych, dt.: Klub der Lustigen und Findigen), ProjektorParisHilton und Comedy Club. Diese Shows demonstrieren, wie Humor, Unterhaltung und Politik im aktuellen Russland zusammenwirken. Trotz unterschiedlicher Sendeformate erfolgt in den TV-Witzen ein und derselbe offizielle humoristische Diskurs, der sich durch eine wachsende Bedeutung der Glamour-Ideologie und simulierte Satire auszeichnet.
KWN
Unabhängig vom Alter ist vielen Russen die Kombination der drei Buchstaben KWN (übersetzt: »Klub der Lustigen und Findigen«) sehr vertraut. Die Humorsendung KWN ist eine der ältesten Sendungen in der Geschichte des russischen Fernsehens und läuft derzeit landesweit im ersten russischen Programm.
Ursprünglich ist KWN eine sowjetische Erfindung, die als studentische Initiative auf Amateurbasis im November 1961 startete: Mehrere Studentenmannschaften traten in einem Wettbewerb gegeneinander auf der Bühne an. Sie mussten Fragen auf humorvolle Weise beantworten und dabei viel Improvisation und andere amateurhafte musikalische, tänzerische oder theatralische Talente zeigen. KWN kann somit als ein Produkt des Tauwetters betrachtet werden, das neue fortschrittliche Elemente ins sowjetische Fernsehen einführte, wie z. B. Humor, Dialoge mit dem Zuschauer, Interaktion und Improvisation (wenn auch in beschränktem Umfang). Von Beginn an war die Sendung sehr beliebt.
In den 1970er Jahren wurde KWN aus ideologischen Gründen von der Senderleitung aus dem Programm genommen: Die Ironie der studentischen KVN-Mannschaften über die sowjetische Wirklichkeit und Ideologie ging den Zensurbehörden zu weit. Erst zu Beginn der Perestrojka kehrte die Sendung ins Fernsehen zurück und löste sogleich in der Sowjetunion und dann in Russland und den GUS-Staaten eine breite KWN-Welle aus. Heute werden KWN-Wettbewerbe an Universitäten in Russland, der Ukraine, Belarus, Kasachstan und Lettland durchgeführt; die besten Teams kommen dann ins Fernsehen. Überall in der Welt, wo Emigranten aus der ehemaligen UdSSR leben, entstehen mittlerweile lokale KWN-Teams.
Das Spiel KWN besteht aus mehreren Wettbewerben. Aber nur das »Warm-up« verlangt echte, spontane Improvisation von den Teilnehmern, da die Mannschaften hier schlagfertig auf die Fragen ihrer Mitstreiter, der Jury oder des Publikums antworten müssen. Fast alle anderen Auftritte der Teams werden im Voraus vorbereitet und zensiert, kontroverse Situationen aus den Fernsehübertragungen herausgeschnitten.
Die meisten Mannschaften vertreten ihre Stadt oder Region, nach denen sie auch benannt sind: Team Tschetschenien, Team Kasachstan, Team der Region Krasnodar, Team St. Petersburg usw. Das lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass die Teilnahme der Mannschaften an KWN eine kostspielige Angelegenheit ist, und sie auf die finanzielle Unterstützung ihrer Städte oder Regionen angewiesen sind. Als Gegenleistung werben die Mannschaften für ihre Stadt und leisten »Brand Management«.
Die erlaubte Satire von KWN
KWN ist deshalb ein interessantes Phänomen, weil die Sendung ganz unterschiedliche Zeit- und Politikphasen durchlebte. Jede neue Phase – Perestrojka, Zerfall der Sowjetunion, die wilden 1990-er Jahre – brachte ihre spezifischen Themen und Menschen mit bestimmten Habitus hervor, was unmittelbar in KWN und den Witzen seinen Niederschlag fand. Außerdem wurden im KWN der 1990er Jahre die neuesten Tendenzen und Themen der Welt aufgegriffen, man konnte in der Sendung etwas hören oder sehen, worüber in den offiziellen Nachrichten (noch) nicht berichtet wurde. In den 1990-er Jahren etwa diskutierten die KWN-Mannschaften über die Kooperation Russlands mit der Welt, reflektierten über die Einflüsse der US-amerikanischen Kultur. Aus ihrer Schließung in den 1970er Jahren gewann die Sendung symbolisches Kapital als eine oppositionelle/Dissidentensendung und wurde zu einer Art Treffpunkt für viele Menschen mit pro-europäischen, liberalen Ansichten. Das war der Grund, warum die damalige Intelligenz – Vertreter des liberalen politischen Flügels und Befürworter der westlichen Demokratie – in die KWN-Shows ging. Eine typische Figur in den KWN-Witzen der damaligen Zeit war ein intelligenter, politisch informierter junger Mann mit Englischkenntnissen. In den 1990-er Jahren scherzten die KWN-Teams scharfsinnig und offen über politische und soziale Themen und gaben auch den Zuschauern viel Stoff zum Nachdenken. Insgesamt waren die Witze damals länger, satirischer, wobei der Schwerpunkt auf dem verbalen und nicht dem theatralischen Akt lag, während das Bühnenbild bescheiden gehalten wurde.
Ein Witz aus jener Zeit: 1991. Zerfall der Sowjetunion. Wenn Marx noch lebte – jetzt wäre er gestorben.
(Witz der Mannschaft TMI Tjumen 1991)
Der KWN von heute, nach dem Namen seines unabsetzbaren Moderators Aleksandr Masljakow auch »Masljakows Imperium« genannt, hat sich aus studentischen Amateur-Initiativen in eine kommerzielle Unterhaltungsindustrie verwandelt, in eine professionelle Fernsehshow, die ihrem Produzenten hohe Einnahmen bringt. Mannschaften, die nun in Castings zusammengestellt werden, zahlen hohe Gebühren für die Teilnahme an den Fernsehshows. Fast jede Mannschaft bedient sich der Dienstleistungen von Auftragssautoren, die Auftrittstexte verfassen.
Im KWN werden heute zwar nach wie vor Witze über politische Themen gemacht, allerdings hat sich die Art verändert, in der sie präsentiert werden. Der politische Inhalt wird auf eine unterhaltsame Weise wiedergegeben, wodurch die sozial-politische Pointe nivelliert wird. Die Witze werden somit aus dem Bereich der Politik in die Unterhaltung verschoben. »Freaks«, Kriminelle und Rowdies, die von der Gesellschaft abgelehnt werden, sind typische Charaktere im KWN, über die heute am meisten gelacht werden. Ein beachtlicher Teil der Witze ist der Preisung des »Russischseins« gewidmet, in denen ein besonderer Status Russlands und seines Volkes hervorgehoben wird. Internationale politische Themen werden oft im Sinne der Konfrontation Russlands und seiner politischen Gegner aus der Zeit des Kalten Kriegs dargestellt. Das korrespondiert mit populären sowjetischen Witzen über Stierlitz, Gorbatschow und Reagan, oder aber vom Amerikaner, Franzosen und Russen.
Immigranten haben den Wilden Westen bewohnbar gemacht –viele von ihnen waren Russen.
(zu Musik vom St1M »I rap«)
Barack Obama könnte nicht so schnell sein Büro erreichen, wenn Sikorskij keine Flugzeuge erfunden hätte
Wenn Popow keine Radiotechnik entwickelt hätte, könnten die USA heute kein »Voice of Amerika« hören,
Würden unsere Jungs nicht in der NHL spielen, wer würde dann noch Eishockey schauen…?
Sogar Leonardo di Caprio ist ein bisschen Russe, denn er hat zu Hause einen Orenburg-Schal.
(Rap-Lied der Mannschaft »Schlechte Gesellschaft«, Region Krasnojarsk)
Große Popularität genießen Themen über das Leben in Moskau, etwa über die propiska, die heiß begehrte Registrierung dort oder über die Ankunft aus der Provinz in Moskau, über Staus, russische Polizei, Bestechungsgelder usw. Gleichzeitig machen sich die KWN-Mannschaften über die Rückständigkeit ihrer Städte lustig:
Ansage am Bahnhof: Sehr geehrte Fahrgäste! Der Zug von Njagan nach Moskau fährt in 12 Jahren ab.
(Witz der Mannschaft »Kefir«, Stadt Njagan)
Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi gibt es immer häufiger Witze über Korruptionsfälle bei Bauobjekten für die Olympischen Spielen, wie z. B. den folgenden Witz, der auf dem Party-Spiel »Mafia« basiert:
Der Moderator sagt an: »Sotschi Olympstroj hat alle seine Bauarbeiten abgeschlossen und spielt das Spiel Mafia«: »Die Stadt schläft ein« (alle auf der Bühne stehenden Teilnehmer machen die Augen zu). »Die Mafia wacht auf« (alle Teilnehmer, die gerade ihre Augen geschlossen hatten, machen die Augen wieder auf.)
(Witz der Mannschaft »BAK«, Region Krasnodar)
Bei den Witzen über den russischen Alltag und die Politik fällt ihre eklatante Ähnlichkeit mit sowjetischen Witzen ins Auge. In den sowjetischen Witzen wurden die Politik und der Alltag bekanntlich »nicht als das reale Leben, das man verändern kann, sondern als Ritual«, wahrgenommen, wobei der Mensch darin als »Opfer der Umstände und nicht als aktiver Gestalter seines Lebens erscheint.« (B. Beumers: Pop Culture Russia!.., S. 173)
Heutige Zuschauerreaktionen sind ein Indikator dafür, dass sich der Charakter von KWN verlagert hat. War es früher eine Sendung mit intellektuellem Anspruch, ist es heute immer mehr eine Unterhaltungsshow. Heutzutage möchten sich Zuschauer weniger harte Wahrheiten anhören. Sie besuchen die Shows eher, um sich unterhalten zu lassen, sich zu entspannen. Hierin ist auch ein Grund zu suchen, weshalb Satire über die harte Realität weniger gefragt ist. Die Besucher begegnen dort verschiedenen Prominenten aus Kultur, Fernsehen, Film oder Sport, die entweder in der Jury oder im Publikum sitzen. Einige KWN-Teams laden Persönlichkeiten des russischen Showbusiness zur Teilnahme an ihren Sketchen ein, denn je bekannter die prominente Person ist, desto höher steigen auch die Werte und die Popularität der betreffenden KWN-Mannschaft.
Die große Beliebtheit und die hohen Einschaltquoten von KWN sind nicht nur für Prominente aus der Kulturszene, sondern auch für Politiker attraktiv. Seit Beginn der Putin-Ära im Jahr 2000 genießt die Show viel Aufmerksamkeit durch russische Spitzenpolitiker. Putin und Medwedew waren mehrmals Gäste in der Show, ebenso der Gouverneur der Region Krasnodar Aleksandr Tkatschow, Verteidigungsminister Sergej Schojgu und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin.
KWN ist aus mindestens zwei Gründen für Politiker attraktiv: Die Sendung ist seit langem in der Lage, erfolgreich junge engagierte Menschen zu mobilisieren. Vom Aufschwung der ständig wachsenden KWN-Bewegung können russische Polittechnologen im Bereich der Jugendpolitik nur träumen.
Gleichzeitig kann dieses Interesse durch die Politik einer gezielten Vermarktung von nationalen, russischen Produktmarken erklärt werden, die von Putin aktiv unterstützt wird. Da KWN bereits seit vielen Jahren existiert und kein Pendant im Westen hat, bezeichnet Putin die Sendung nicht von ungefähr als »unser russisches geistiges Produkt«.
Wenn Putin oder Medwedew als Ehrengäste in der KWN-Show auftreten, wird die Sendung zur besten Sendezeit ausgestrahlt und als »Special Event« präsentiert. Die Show verläuft dabei nach folgendem Szenario: »Der Premiersident«– ein von KWN-Spielern geschaffenes Wortspiel aus »Premier« und »Präsident« – sitzt im Mittelpunkt des Publikums, umgeben von »vorbildlichen« KWN-Spielern. Die ganze Aufmerksamkeit ist auf ihn gerichtet, wobei die KWN-Teams auf der Bühne ihn vorsichtig zum Lachen zu bringen versuchen. Als besonders »cool« gilt es, wenn man es schafft, einen gelungenen Witz über den »Premiersident« in dessen Anwesenheit zu machen, wie es bei der Jubiläumsfeier von KWN im Jahr 2011 der Fall war:
Frage an die KWN Mannschaften: »Welches russische Auto kommt als erstes auf den deutschen Automarkt?«
Ein KWN Spieler schaut ins Publikum und antwortet: »der gelbe Lada ›Kalina‹, sein Fahrer sitzt hier irgendwo…«
Ein anderes Beispiel ist der Witz aus der Sommershow in Sotschi 2009, in Anwesenheit des damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedew und dessen Frau:
- »Ich lebe in Sotschi, wo kann ich mich erholen?«
- »In Botscharow Rutschej (Sommerresidenz des russischen Präsidenten in Sotschi), dort ist gerade was frei.«
Das Image des »vom Volk geliebten (Minister)Präsidenten«, das in der Tat »zu einer trendigen Marke der gegenwärtigen russischen Pop-Kultur« geworden ist, wird weiterhin von KWN-Teams und anderen Unterhaltungssendungen genutzt, trotz des Rückgangs von Putins Popularität nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012. Diese Witze genießen hohe Popularität, sowohl bei den Zuschauern, als auch bei den Comedians selbst, und machen einen beträchtlichen Anteil aller Witze aus. Beinahe jedes beachtenswerte KWN-Team hat nicht nur Witze über das Staatsoberhaupt im Programm, sondern auch eigene »Putins« und »Medwedews« in Form von Doppelgängern, die sie parodieren. Dmitrij Gratschow (Putin) und Anton Sasin (Medwedew), die eine starke äußerliche Ähnlichkeit mit den beiden Spitzenpolitikern haben, machten dadurch eine bemerkenswerte Karriere. Mittlerweile spielen sie in Fernsehkomödien und treten in verschiedenen Shows auf. (Abb. 2 u. 3).
Witze über Wladimir Wladimirowitsch (Putin) und Dmitrij Anatoljewitsch (Medwedew) haben einen spezifischen Stil. Putin und Medwedew wird jeweils ein offiziell propagiertes Image zugewiesen, das von allen KWN-Teams uneingeschränkt übernommen wird. Putin wird immer als eine ernst zu nehmende Führungsperson dargestellt, die eine unerschütterliche Autorität besitzt, Respekt und Furcht einflößt. Oft werden in den Witzen über ihn seine Bemühungen thematisiert, die russische Autoindustrie voranzutreiben. Medwedew wird in Gestalt eines Deep Purple-Fans und Befürworters der Nano-Technologien gezeigt. Im Großen und Ganzen ist das mediale Bild von Putin und Medwedew makellos positiv und stimmt mit dem offiziellen Kult des Präsidenten überein.
Stets sind Eigenschaften wie Volksnähe, Sorge um den Staat und Menschlichkeit in den Charakterisierungen mit enthalten. Besonders populär sind Sketche, die Situationen aus dem Alltag und somit Erfahrungen von Durchschnittsbürgern aufgreifen: Putins Arbeitstag im Büro, Putin bei der Anmeldung in sozialen Netzwerken, Medwedew beim Schlagzeugspielen und während der Arbeit, Putin bei der Maßregelung von Beamten usw.
Eine große Resonanz löste bei KWN-Zuschauern eine Parodie auf ein Amateurvideo aus, in dem Dmitrij Medwedew beim Klassentreffen zu Musik der 1990er Jahre in etwas altmodischer Manier tanzte (http://www.youtube.com/watch?v=VUG6I96gl-s; http://www.youtube.com/watch?v=_Hzg2IL9xQ0) Bei der Fernsehausstrahlung wurde diese Parodie allerdings auf Beschluss der Senderleitung herausgeschnitten. Nach heftigen Reaktionen der Zuschauer in Internet-Foren und sozialen Netzwerken hat man den Tanz von Medwedew bei der Wiederholungsübertragung dann doch gezeigt. Dieser Fall demonstriert zum einen die Zensur beim KWN, aber ebenso auch den wachsenden Einfluss des noch weitgehend zensurfreien Internets in Russland. Über die Zensur beim KWN und darüber, was man von der KWN-Bühne sagen und nicht sagen darf, zeugt unter anderem die Tatsache, dass der Gerichtsprozess gegen Pussy Riot, die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz und die Oppositionsbewegung in den Witzen der KWN-Teams praktisch nicht thematisiert wurden. Sehr selten schleichen sich Witze über den Oppositionsführer Alexej Nawalnyj ein, wie im folgenden Witz über dessen Wahl in das Aufsichtsgremium der Fluggesellschaft Aeroflot, der dessen schwierige Lage in Russland unterstreichen soll:
Ich rufe Nawalnyj an und sage zu ihm: »Wenn Du so unabhängig bist, warum hast Du dann den Job bei Aeroflot angenommen?« Nawalnyj antwortet: »Weißt Du, ich bin in einer Situation, in der es ratsam ist, ein Flugzeug in greifbarer Nähe zu haben.«
(Witz des Teams BAK, Region Krasnodar)
Heutzutage übernimmt der KWN auch immer mehr die Rolle eines Inkubators, in dem Kader für Humor- und Unterhaltungssendungen in Russland und den GUS-Staaten geschmiedet werden. Komiker, die heute höchst gefragt sind, waren seinerzeit in KWN-Shows entdeckt worden. Viele ehemalige KWN-Teilnehmer arbeiten heute als Schauspieler, Moderatoren oder Drehbuchautoren für die stetig wachsende Unterhaltungsindustrie im russischen Fernsehen.
Humor mit politischen Konnotationen in »ProjektorParisHilton«
Noch vor einem Jahr hätte auf die Frage »Was haben Paris Hilton und das russische Fernsehen gemeinsam?« jeder Russe geantwortet: »ProjektorParisHilton«. Gemeint war damit die populäre russische Sendung mit hohen Einschaltquoten, die auf dem Sender »Der Erste« von 2008 bis Juni 2012 zu sehen war. Der etwas ungewöhnliche Name »ProjektorParisHilton« hat in der Wirklichkeit nichts mit der amerikanischen Prominenten und Hotelbesitzerin zu tun, sondern wurde, so Autoren der Sendung, von dem Namen einer anderen Fernsehsendung abgeleitet (»Projektor Perestrojki« – dt.: »Scheinwerfer der Perestrojka«), die Ende der 1980er Jahre im Fernsehen zu sehen war. Der zweite Teil des Namens – ParisHilton – scheint eine Andeutung auf die im heutigen Russland herrschende Glamour-Ideologie zu sein; er steht symbolisch für Skandale, Intrigen und Geld/Reichtum.
Diese abendliche Infotainment-Show lief jeden Samstag zur besten Sendezeit und hatte Millionen von Zuschauern. In ProjektorParisHilton diskutierten vier Moderatoren bei Tee und Kuchen über Zeitungsnachrichten, aktuelle Ereignisse in Russland und der Welt sowie über Aussagen von Politikern. Ihre Improvisation und nicht aufhörende Witze gefielen dem Publikum. Zum Erfolg der Show trug auch die Star-Besetzung bei, die aus den gefragtesten und populärsten Komikern Russlands, Iwan Urgant, Sergej Swetlakow, Garik Martirosjan und Alexandr Zekalo bestand. Die Moderatoren sind den russischen Zuschauern im Alter zwischen 10 und 45 Jahren aus anderen Fernsehshows bekannt.
Ein Witz über die Wirtschaftskrise in Griechenland: Die andauernde Krise in Griechenland erinnert an eine Seifenoper, in der die Tochter »Griechenland« ins Koma fällt. Und wenn sie aufwacht, verliert sie nicht nur das Gedächtnis, sondern auch das Gewissen. (ProjektorParisHilton, 05. 11. 2011)
Ein Witz über Putins Besuch in der Volkswagenfabrik in der russischen Stadt Kaluga:
Putin sagt zu den Leuten von VW: »Sie bauen gute Autos«
Jemand fragt ihn: »Besser als der Lada Niva?«
Putin (zögernd): »Niva ist mein. Und was kann da besser sein?«
Dann kommt Putin nach Hause und geht in die Garage. Dort sieht er seinen Niva stehen, der ihn mit einem vorwurfsvollen Blick wie einen betrunkenen Ehemann anschaut. Niva (mit zitternder Stimme): »Wladimir Wladimirowitsch, wo waren Sie? Sind Sie wieder bei VW gewesen?« Putin: »Nein, Niva, du bist doch mein, mein ein und alles.« Niva (weinend): »Und warum riechen Sie dann nach ausländischen Autoteilen?«
Zum Erfolg der Show trugen weiter regelmäßige Gastauftritte russischer und westlicher Prominenter wie etwa Daniel Radcliffe, Hugh Jackman, Til Schweiger, Mila Yovovich, Rowan Atkinson, Mickey Rourke bei (einige Beispiele: http://www.youtube.com/watch?v=DTRcQEBMvc4; mit Daniel Radcliffe: http://www.youtube.com/watch?v=eML9EjBGE8Q). Die eingeladenen Stars haben zusammen mit den Moderatoren innenpolitische sowie internationale Nachrichten kommentiert. Zum Beispiel sang der Politiker und Milliardär Michail Prochorow zusammen mit den Moderatoren ein Rap-Lied über sich selbst anlässlich seines gemeinsamen Kaufs (mit dem Rap-Sänger Jay-Z) eines amerikanischen Basketball Klubs (http://www.youtube.com/watch?v=o1ijztVyseY). Rowan Atkinson, der sich als Liebhaber von Rennautos outete, musste z. B. zwischen drei Motorenklängen den Motorenklang des russischen Autos Lada Granta Sport unterscheiden können, des wohl beliebtesten Spottobjekts russischer Komiker, (http://www.youtube.com/watch?v=N8iKb3MprK0).
ProjektorParisHilton wurde von einigen russischen Journalisten und Fernsehkritikern wegen Banalisierung, Voreingenommenheit und einseitiger Verspottung der offiziellen »Feinde« Russlands – USA, Georgien, Belarus – kritisiert, während angeblich keine Witze über russische Spitzenpolitiker und die mit Russland verbündeten Länder gemacht würden.
Fairerweise ist anzumerken, dass ProjektorParisHilton zu den wenigen Sendungen im russischen Fernsehen gehörte, die im Vergleich mit anderen humoristischen Shows auch Politsatire sendeten, was in der Spezifik der Show lag, aktuelle Pressenachrichten zu kommentieren. Natürlich konnte ProjektorParisHilton Witze über Putin-Medwedew, das wichtigste politische Tandem Russlands, nicht einfach ignorieren. Aber die Witze überschritten keine Grenze der Political Correctness, sondern beschränkten sich auf drei Themen: Putins Werbekampagne für die russische Automobilindustrie, Putins öffentliche Selbstinszenierung sowie Medwedews und Putins Kontrolle über die Vorbereitungen für die Olympiade in Sotschi 2014.
Die plötzliche Schließung der Show auf dem Höhepunkt ihrer Popularität löste viele Spekulationen und Gerüchte in den russischen Medien aus. Als offizieller Grund wurde ein ökonomisch-rechtlicher genannt: zwei Moderatoren der Show, Sergej Swetlakow und Garik Martirosjan, die bereits in einem erfolgreichen TV-Projekt »Comedy Club« im Sender TNT involviert waren, hätten einen Vertrag unterzeichnet, dem zufolge sie im »Ersten Kanal« nicht mehr arbeiten dürften. Einige Journalisten neigen jedoch zur Interpretation, einen politischen Hintergrund zu sehen, indem sie die Schließung der Show mit dem Ablauf der Amtszeit von Dmitri Medwedew in Verbindung bringen. Michail Sacharow von polit.ru schrieb: »ProjektorParisHilton wurde am 17. Mai 2008 zum ersten Mal im russischen Fernsehen ausgestrahlt. Nun wird sie geschlossen, nachdem es die ›liberale‹ Amtszeit von Medwedew um weniger als ein halbes Jahr überdauert hat. Ein reiner Zufall, aber einer, der schmerzlich zur passenden Zeit erfolgt.« (Sacharow, Michail: Proshektjoram sdes ne mesto, in: Polit.ru, 27.09.2012; http://polit.ru/article/2012/09/27/projektor/)
In der Tat lenkte ProjektorParisHilton, dem ersten Teil des Namens getreu, der so viel wie »Scheinwerfer« bedeutet, die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf Themen wie die Gesetzesverstöße bei den Wahlen, die Abholzung des Chimki-Waldes oder das Polizei-Gesetz, die im russischen Fernsehen sonst kaum beleuchtet wurden (Sacharow, M.: Proshektjoram sdes ne mesto…).
»Glamouröse Schurken« vom »Comedy Club«
Die Komiker der Sendung »Comedy Club« werden auch als Reformatoren des russischen TV-Humors bezeichnet, da sie eine Alternative zur Vorherrschaft von Komikern früherer Generationen, aus den 1990er Jahre, boten. Comedy Club wurde von der KWN-Mannschaft »Neue Armenier« ins Leben gerufen und stellt eine russische Version des US-amerikanischen »Stand-Up Comedy« dar. Im Unterschied zu den oben behandelten Humorsendungen läuft der Comedy Club im Sender TNT, der zur Medien-Holding »Gazprom-Media« gehört und sich auf die Produktion von Reality-Shows und Unterhaltungsprogrammen spezialisiert hat.
Comedy Club besteht aus einer Reihe selbständiger Mini-Shows von einzelnen Komikern, die von einem Moderator präsentiert werden. Die Nummern werden als Solo-Shows, Duo- oder Gruppenauftritte mit Musik-, Video oder Fotobegleitung dargeboten. Alle Mitglieder des Comedy Clubs – zur Stammbesetzung gehören etwa 30–40 Personen – sind selbstsichere, stilvoll gekleidete junge Männer, wobei die meisten von ihnen ehemalige KWN-ler sind und keine professionelle Schauspielausbildung haben.
Seit ihren ersten Auftritten haben die Jungs vom Comedy Club den medialen Raum Russlands erobert. Einige Mitglieder werden in ihren Comedy Club-Rollen zu Shows bei anderen Sendern eingeladen. Sogar der »Erste Kanal« strahlt Sonderausgaben des Comedy Club aus. Die Sendung hat sich mittlerweile multipliziert und einige Spin-offs produziert, wie Comedy Woman, Comedy Battle usw.
Für junge Leute in Russland ist der Comedy Club die Verkörperung des neuen Lifestyles, eine Fernsehsendung, die all das umfasst und vermittelt, wonach sie streben: Geld, Ruhm, entspanntes Leben, Schönheit, Pathos und Coolness.
Der Comedy Club brach verschiedene Tabus im Fernsehen und brachte einige Innovationen mit sich, die Schock und stürmische Resonanz in der russischen Öffentlichkeit und insbesondere bei der älteren Generation auslösten:
Hier einige dieser Innovationen:
1) Zu Beginn jeder Sendung macht das dreiste Comedy Club-Mitglied Pawel Wolja, der sich selbst als glamourösen Schurken bezeichnet, sich über im Publikum sitzende Prominente im Stil des Stand-Up lustig, was für das russische Fernsehen neu ist. Die mutigen Gäste, die trotz der Angst, ausgelacht zu werden, in die Show kommen, sehen die Teilnahme sogar als eine Ehre und Chance, den eigenen Sinn für Humor zu zeigen.
2) Comedy Club-Mitglieder benutzen Fluchwörter, die bis vor kurzem im Fernsehen tabu waren.
3) Viele Mitglieder des Comedy Club machen typische Herrenwitze mit sexistischen Anspielungen (Humor unter der Gürtellinie).
4) Der Comedy Club hat ein Sakrileg begangen und das Heiligtum der nationalen Kultur angegriffen: den Kanon russischer Kultur, indem sich Comedians über Klassiker der russischen Literatur wie Wladimir Majakowskij (http://www.youtube.com/watch?v=lLgu-FuJ4cA), Leo Tolstoj, Fjodor Dostojewskij, Nikolaj Gogol, Kornej Tschukowskij u. a. lustig machten.
Nach Aussage eines Comedy Club-Mitglieds bestehe das Grundprinzip darin, dass »der Witz dreist, beleidigend, schmutzig, dumm sein kann. Vor allem soll er wirklich lustig sein«. Ihr Ziel sei es, gute Laune zu vermitteln, wobei kein Anspruch darauf bestehe, eine moralisch-erzieherische Instanz zu sein. Allerdings sind die Mitglieder des Comedy Club in Bezug auf die Qualität ihrer Witze nicht immer so konsequent in der Befolgung ihrer prinzipiellen Prinzipienlosigkeit, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Logisch betrachtet, erlaubt ihnen der Umstand, dass die meisten von ihnen Befürworter des amtierenden Präsidenten sind, was sie auch offen bei der Wahlkampagne 2011/12 kundgaben (https://www.youtube.com/watch?v=pXCNzKrsGZc&feature=endsc reen), nicht so prinzipienlos zu sein. Sie können keine »schmutzigen, dummen und beleidigenden« Witze über alles und jeden machen. Während ihre Witze über russische Schriftsteller obszön sind, wird in den Witzen über Putin und Medwedew nach wie vor deren offizielles mediales Bild eingesetzt, wie es z. B. am folgenden Sketch über Putin ersichtlich wird. Der Sketch wurde von Putins Doppelgänger Dmitrij Gratschow gespielt. Putin wird hier in der Rolle eines Märchenvorlesers in der Sendung »Gute Nacht, Erwachsene«, einer Parodie auf die Kindersendung »Gute Nacht, Kinder«, dargestellt (http://rutube.ru/video/3b4fbb49d4a54aee415ea245063f56dd/):
Sie sehen »Gute Nacht, Erwachsene«. Heute erzähle ich Ihnen über das Rotkäppchen. Eines Tages schickte die Mutter das Rotkäppchen, um der Oma Kuchen vorbeizubringen. Wir haben Informationen, dass in einigen Subjekten der Russischen Föderation nicht alle Kuchen die Omas erreichen. Wir sind bestrebt, das zu bekämpfen. Außerdem planen wir den Anteil die zurückgewonnenen Kuchen auf 14 % zu indexieren (…)
Fazit
Der hier vorgestellte Überblick von drei beliebten Humorsendungen im russischen Fernsehen zeigt einige Gemeinsamkeiten auf. Erstens lässt sich der vereinheitlichte humoristische Diskurs im russischen Fernsehen nicht nur durch die Zensur der vom Staat kontrollierten Sender erklären, sondern auch dadurch, dass die gleichen Comedians von einer Sendung zur anderen, von einem Sender zum anderen wandern, wobei sie die gleichen Witze und Images replizieren und somit spezifische Werte transportieren. Zweitens ist die Politik zwar der Hauptlieferant für Witze, doch stellen die Witze über politische Themen eher eine Simulation, eine nur vermeintlich politische Satire dar. Außerdem lässt sich feststellen, dass die Etablierung der Glamour-Ideologie in Russland sich auch unmittelbar auf den Humor auswirkt, indem kritisch Inhalte zunehmend ausgeblendet werden.