Postapokalypse, Intermedialität und soziales Misstrauen in der russischen Popkultur

Von Ulrich Schmid (St. Gallen)

Zusammenfassung
Popkultur dient nicht einfach nur der Unterhaltung. Popkultur kodiert Werthaltungen, Wahrnehmungsmuster und Wissensordnungen, die für ein breites Publikum wirkmächtig werden. Oft verdrängen Produkte aus der Popkultur sogar etablierte Wissensbestände, die in Schulen unterrichtet werden. Deshalb prägt die zunehmend intermedial auftretende Popkultur auch nachhaltig ideologische Strömungen in der Öffentlichkeit. In Russland präsentieren Bestseller, Kinofilme und Computerspiele sehr spezifische Narrative über gesellschaftliche und politische Systeme, die bei Einschätzungen über das russische Demokratisierungspotenzial berücksichtigt werden müssen.

Metro 2033 – ein multimedialer Erfolg

Im Zeitalter der Konvergenz der modernen Massenmedien ist es schwierig geworden, über isolierte Ereignisse in der russischen Popkultur zu sprechen. Oft taucht ein Produkt zunächst in einem Blog oder auf einer Website auf. Wenig später erhält es eine neue Gestalt und erscheint als Buch, Film oder Computerspiel. Diese intermediale Dynamik verstärkt den Aufmerksamkeitserfolg auf allen Kanälen und favorisiert so den ästhetischen Stil dieses Produkts. Ein gutes Beispiel bietet Dmitrij Gluchowskijs Science Fiction-Projekt »Metro 2033«. Der Journalist (geb. 1973) schuf im Jahr 2002 eine düstere Welt vor einem postapokalyptischen Hintergrund. Sein Projekt geht von folgenden Annahmen aus: Im Jahr 2013 verwandelt ein globaler Atomkrieg die gesamte Erdoberfläche in eine radioaktive Wüste. Die Sonne wird von Aschewolken verdeckt. Die meisten Lebewesen sind umgekommen, Dinosaurier und aggressive Mutanten sind die einzigen Organismen, die sich in dieser widrigen Umwelt behaupten können. Nur etwa 70.000 Menschen haben in Moskau überlebt – genau jene, die sich zum Zeitpunkt der Explosionen in der Metro befanden. Nach zwanzig Jahren haben sich in den einzelnen Stationen verschiedene Zivilisationen entwickelt, die einander bekämpfen, um an Wasser, Essen und Energieträger zu kommen.

Gluchowskij notierte die ersten Texte dieses Projekts in der Blog-Plattform LiveJournal, die vor allem unter russischen Intellektuellen sehr populär ist. Später kombinierte er die einzelnen Einträge und veröffentlichte den Roman als Monographie (Poljarnyje sumerki. Shurnal Dmitrija Gluchowskogo, http://dglu.livejournal.com/profile). Heute arbeitet eine Vielzahl von Autoren an Romanen, die im »Metro 2033«-Universum spielen. Mittlerweile existiert auch ein Videospiel – die dunkle Ästhetik des Romans wurde in die visuelle Welt eines Ego Shooters verwandelt. Der Spieler muss seine eigene Gemeinschaft vor den Angriffen geheimnisvoller Aliens, der so genannten »Schwarzen«, beschützen. Darüber hinaus müssen sowohl kommunistische als auch faschistische Feinde abgewehrt werden; das Endziel besteht in der Zerstörung der Basis der »Schwarzen«. Allerdings sieht das Spiel neben dem Standardabschluss auch ein Happy End vor. Wenn der Spieler gute Taten vollbringt und etwa Almosen spendet oder seinen Feinden das Leben schenkt, dann kann er Frieden mit den »Schwarzen« schließen. Diese Lösung erfordert allerdings ein hohes ethisches Engagement, weil die Handlungslinie sonst wieder in den üblichen »Live and let die«-Modus zurückfällt. Das Weltbild des Games beruht auf einem ständigen Kampf auf Leben und Tod. Die menschliche Existenz ist äußerst fragil und wird auf Schritt und Tritt von äußeren Gefahren und innerer Erschöpfung bedroht. Der Spieler muss beständig seine eigenen Wunden, die radioaktive Strahlung, den Sauerstoffvorrat, seine Ausrüstung und Munition kontrollieren. Nur wenn ein hohes ethisches Bewusstsein vorliegt, kann der Spieler die virtuelle Realität so beeinflussen, dass auch der Gegner nicht einfach als Vernichtungsobjekt, sondern als Mensch auftritt. Im Gegensatz zum Buch konstruiert das Computerspiel also nicht einfach eine hoffnungslos verlorene Welt, sondern erlaubt auch eine Erlösung, die allerdings eine radikal veränderte ethische Einstellung des Spielers voraussetzt.

»Metro 2033« ist nur eines von vielen Beispielen eines Themas, das in der aktuellen russischen Popkultur durch verschiedene Medien wandert. Bei der Analyse intermedialer Präsenz eines bestimmten Produkts müssen auch ökonomische Aspekte berücksichtigt werden. Gluchowskij startete sein Projekt ohne finanzielle Risiken einzugehen. LiveJournal ist vor allem unter russischen Intellektuellen eine beliebte Blog-Plattform, auf der Texte gratis eingetragen werden können. Gluchowskij ist es gelungen, schnell und ohne Produktions- oder Marketingkosten ein breites Publikum anzusprechen. Ein literarischer Erfolg auf LiveJournal öffnet meist den Weg zu einer Veröffentlichung in einem großen russischen Verlag. Gluchowskij konnte durch die Internet-Publikation das ökonomische Potenzial seines Textes testen. In der Tat erschien 2005 bei EKSMO, einem der größten russischen Verlage, eine erfolgreiche Buchausgabe. Konsequenterweise hat Gluchowskij nach dem Erscheinen der Printausgabe auch die elektronische Version seines Romans aus dem LiveJournal gelöscht. Zuvor hatte er in einer elektronischen Umfrage seine Leser gefragt, ob sie bereit wären, Fanartikel zu kaufen – aufgrund des negativen Umfrageergebnisses verzichtete er aber auf diese Vermarktungsoption.

Der Erfolg von »Metro 2033« kann nicht durch die literarische Meisterschaft des Autors erklärt werden. Im Gegenteil: Die Handlung ist einfach gestrickt, die Charaktere sind eindimensional, die Sprache verfügt über keine stilistische Raffinesse. Gluchowskij folgt narrativen Klischees, die aus dem Inventar des sozialistischen Realismus stammen. Der Grund für das enorme Echo des Romans liegt in seiner Symbolkraft. Der postapokalyptische Hintergrund von »Metro 2033« scheint einen Nerv der heutigen Gesellschaft zu treffen. Die russische Kultur war seit jeher stark auf die Zukunft ausgerichtet. Im 19. Jahrhundert entwarfen viele Romane utopische Szenarien für Russland. Im 20. Jahrhundert war das sowjetische Gesellschaftsprojekt besessen von zukünftiger Glückseligkeit nicht nur für Russland, sondern für die gesamte Menschheit (Heller, Leonid, Michel Niqueux: Geschichte der Utopie in Russland. Bietigheim-Bissingen, 2003).

Apocalypse Now im postsowjetischen Russland

Der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete für viele Russen eine Katastrophe. Das politische Chaos der frühen neunziger Jahre, die Hyperinflation, der Krieg in Tschetschenien – alle diese Elemente verstärkten die apokalyptische Stimmung in Russland, die im Bewusstsein der meisten Bürger zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht wirklich überwunden, sondern nur verdrängt wurde.

Das erste Produkt der Popkultur, das die postapokalyptische Stimmung thematisierte, war der Film »Wächter der Nacht« (2004). Der Film basiert auf einem erfolgreichen Roman des Science Fiction-Autors Sergej Lukjanenko. Der Regisseur Timur Bekmambetow siedelt die Handlung im heutigen Moskau an, er konstruiert aber eine symbolische Erzählung, die eine schlagende Erklärung für die unstabile Situation in Russland bietet. Die guten und bösen Mächte sind gleich stark und vereinbarten deshalb in mythischer Urzeit einen Waffenstillstand. Tagsüber kontrollieren die Bösen die Guten und in der Nacht wachen die Guten über die Bösen. Dieses manichäische Konzept bot eine überzeugende Deutung für die ideologische Leere der postsowjetischen Epoche. Es gab keine gültigen moralischen Normen mehr – für die meisten Russen erschien das Leben als endloser Kampf ohne Ziel. Bekmambetows Film bettete diese Befindlichkeit in eine mythische Erzählung, die wenig metaphysischen Trost bot, aber wenigstens den russischen alltäglichen Überlebenskampf mit einem tieferen Sinn ausstattete. Die Geschichte wurde in einer visuellen Sprache erzählt, die dem russischen Publikum sehr vertraut war. Die Spezialeffekte aus »Wächter der Nacht« zitieren extensiv aus amerikanischen Blockbustern wie »Star Wars«, »Matrix« oder »Terminator«.

In seinem ersten Hollywood-Film »Wanted« (2008) legte Bekmambetow eine ähnliche Weltdeutung vor. Sein Protagonist ist ein unscheinbarer Buchhalter, der in einem Großraumbüro arbeitet. Er wird Mitglied einer Geheimbruderschaft, die seit tausend Jahren existiert. Die Tätigkeit dieser Verschwörer wird gesteuert von einem geheimnisvollen Webstuhl, der einen symbolischen Stoff mit eingewobenen Geheimbotschaften herstellt. Die Bruderschaft führt Hinrichtungsbefehle aus und wacht so in einer verfluchten Welt über das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Die Schlussszene zeigt den Helden, der sein eigenes Leben in die Hand nimmt, indem er den Mörder seines Vaters tötet. Wie in »Wächter der Nacht« zeigt Bekmambetow eine Welt im Kriegszustand, in der jeder Einzelne für sein Leben kämpfen und sogar töten muss. Es gibt in dieser Konzeption sogar so etwas wie eine »unsichtbare Hand«: Die Mörder der Bruderschaft töten nicht aus egoistischen Motiven, sondern erweisen sich als Jäger, die im Dienst der globalen Ökologie von Gut und Böse stehen.

Die Postproduktion mit den Spezialeffekten wurde für »Wanted« von Bekmambetows eigener Firma »Bazelevs« in Moskau ausgeführt. Für die russische Ausgabe des Films übersetzte kein Geringerer als Sergej Lukjanenko die Dialoge. Lukjanenko ist ein gutes Beispiel für einen Vermittler zwischen den Medien Buch, Film und Computerspiel. Sein Roman »Die Rivalen« (2008) basiert auf dem russischen Video Game »Starquake«, in dem menschliche Piloten einen Angriff aus dem All abwehren müssen. Lukjanenko baut seinen Roman auf der ontologischen Ungewissheit auf, ob die Wirklichkeit letztlich nicht ein Computerspiel ist. Seine Protagonisten kommen zum Schluss, dass sie die Frage nicht lösen können – in beiden Fällen aber die Spielregeln beachten müssen. Eine solche Weltdeutung scheint für viele Russen zuzutreffen – besonders für die junge Generation in urbanen Regionen (S. die Meinungsumfrage: Rossijskoje kino i film »Notschnoj dosor«, FOM, 19. 08. 2004; http://bd.fom.ru/report/cat/cult/art_art/cinem/dd043311).

Auch das populäre Computerspiel S.T.A.L.K.E.R. (2007) erschafft eine postapokalyptische Welt. Die Spielmechanik geht davon aus, dass sich ein zweites, noch schlimmeres Nuklearunglück in Tschernobyl ereignet. Die Umwelt verwandelt sich in eine verseuchte Zone mit seltsamen Gegenständen und aggressiven Mutanten. Das Spiel verbindet offensichtlich zwei Quellen: Die realen Ereignisse in der Ukraine im April 1986 und Andrej Tarkowskijs berühmten Science Fiction-Film »Stalker« (1979), der seinerseits auf dem Roman »Picknick am Wegesrand« der Brüder Strugazkij basiert. S.T.A.L.K.E.R. ist ebenfalls ein Ego-Shooter. Der Protagonist, der zu Beginn des Spiels sein Gedächtnis verloren hat, muss sowohl die geheimnisvolle Zone als auch seine eigene Persönlichkeit erforschen. In der gefährlichen Umgebung verfügen nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände über ein eigenes Bewusstsein. Wie in »Metro 2033« ist der Held verletzlich und muss mit verschiedenen Herausforderungen kämpfen: Strahlung, Hunger, Blutverlust. Auch dieses Spiel verfügt über mehrere Szenarien für das Ende – aber nur eines davon ist ein Happy End. Der Protagonist muss alle seine Feinde töten. Nach dem Sieg muss er darüber hinaus auch alle Gegenstände zerstören, die das Bewusstsein der Zone in sich tragen. In diesem Fall verschwindet die Zone. Alle anderen Szenarien implizieren eine Selbstverstümmelung des Protagonisten. Er kann sich etwa das Verschwinden der Zone wünschen – was zu seiner eigenen Erblindung führt – oder er kann seine Unsterblichkeit wünschen – was ihn zu einer Metallstatue erstarren lässt. Diese Spielenden stehen für die beiden grundsätzlichen Modi des Verhältnisses von Individuum und Welt: Entweder wirkt der Protagonist auf die Realität ein und formt sie nach seinen Wünschen, oder er verändert sich selbst, um auf äußere Herausforderungen zu antworten. Die Pointe bei S.T.A.L.K.E.R. liegt freilich darin, dass letztlich unentscheidbar wird, welche der beiden Optionen zutrifft: Die Blindheit des Subjekts korreliert mit dem Verschwinden des Objekts.

Die postapokalyptische Befindlichkeit ist auch in den Fantasy-Bestsellermarkt eingedrungen. Der Großverlag EKSMO verfügt über eine Serie mit dem programmatischen Titel »Russische Apokalypse«. Die Buchumschläge dieser Serie folgen deutlich der Ästhetik von S.T.A.L.K.E.R., die Titel künden vom Weltuntergang: »Stadt des Todes« (Viktor Glumow, 2012), »Nahrung und Munition. Der Renegat« (Artjom Mitschurin), »Atomarer Herbst« (Wjatscheslaw Chwatow, 2012), »Russische Dämmerung« (Oleg Kulagin, 2011). Diese Serie wurde durch eine andere Serie vorbereitet, die einfach nur »Apokalypse« hieß. Hier erschienen Titel wie »Die Mitternachtswelt« (Aleksandr Jan, 2011) oder »Es gibt keine zweite Chance« (Suren Zormudjan, 2011). Die Handlung aller dieser Romane ist in einer verwüsteten Welt nach einem Atomkrieg angesiedelt. Der Held muss für sein eigenes Überleben kämpfen, oft wird er von manichäischen Kräften bedroht. Weder der Staat noch die Gesellschaft kann die Sicherheit des Menschen garantieren. In allen postapokalyptischen Erzählungen wird der Held verwundet und muss über seine eigenen schwindenden Kräfte wachen. Allerdings garantiert der Wille zum Töten und zum Überleben den Ort des Individuums in einer feindlichen Umgebung.

Soziales Misstrauen

Die Heimatlosigkeit des postapokalyptischen Helden entspricht der herrschenden Selbstwahrnehmung der russischen Gesellschaft. Ökonomische, politische und soziale Unsicherheit ist ein weit verbreitetes Phänomen in Russland. Der Soziologe Lew Gudkow hat »Angst« als eines der Konstitutiva der »negativen Identität« bestimmt, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Selbstbeschreibung des durchschnittlichen russischen Bürgers dominiert. »Angst« reduziert die Komplexität der zudringenden Welt. Das postsowjetische Individuum setzt »Angst« als zentrale Deutungskategorie bei seiner Weltwahrnehmung ein. Angst betrifft fast alle Lebensbereiche: Familie, Gesundheit, Politik, Ökonomie, Ökologie. Dieses Weltinterpretationsmodell schränkt den Handlungsspielraum, den sich das Individuum zugesteht, deutlich ein, weil die meisten relevanten Faktoren im alltäglichen Leben nicht kontrolliert werden können und deshalb »gefürchtet« werden müssen. Die russische Gesellschaft definiert sich deshalb als eine in-group, die von verschiedenen Bedrohungen umgeben ist. Die in-group verlässt sich dabei nicht auf einen gemeinsamen Kern positiver Werte, sondern konstituiert sich als eine Schicksalsgemeinschaft, die sich gegen alles Fremde und Feindliche verteidigen muss. Gudkow geht davon aus, dass die »negative Identität« der Russen sich durch »Othering«, also durch das Unterscheiden eines Wir- und Sie-Diskurses, bestätigt. Deshalb wird alles, was von außen kommt, als potentiell gefährlich betrachtet und muss abgewehrt werden (Gudkow, Lew: Negatiwnaja identitschnost. Statji 1997–2002, Moskau, 2004, S. 81 u. 272.).

Gemeinsam mit Boris Dubin und Natalja Sorkaja hat Lew Gudkow in einer weiteren Publikation darauf hingewiesen, dass die aktuelle russische Gesellschaft das Leben in erster Linie als Überleben wahrnimmt und deshalb angesichts gesellschaftlicher Veränderungen nur passiv oder reaktiv handeln kann. Postapokalyptische Narrative in Literatur, Film und Computerspielen nützen diese Ängste aus und füllen die Leere mit düsteren Visionen aus, die ein Tremendum fascinosum darstellen: Emotionales Engagement kann sich nicht nur von Lust, sondern auch von Horror herleiten.

Angst entspringt nicht zuletzt einem allgemeinen Gefühl der Hilflosigkeit, das in Russland angesichts fehlender politischer und sozialer Partizipationsmöglichkeiten weit verbreitet ist. In einer Umfrage aus dem Jahr 2007 antworteten 72 % der Befragten, dass sie keine Möglichkeit hätten, staatliche Entscheidungen zu beeinflussen; 80 % der Befragten waren überzeugt, dass sie von der Gestaltung der politischen oder ökonomischen Situation in Russland ausgeschlossen seien (Gudkow, Dubin, Sorkaja: Postsowetskij…., S. 31).

Überhaupt ist das soziale Kapital in Russland sehr gering. Nur 26 % glaubten in einer Umfrage aus dem Jahr 2006, dass man anderen Bürger vertrauen könne. Umgekehrt glaubten 70 %, dass (zufälliger) Kontakt mit Menschen auf der Straße gefährlich sei (Gudkow, Dubin, Sorkaja: Postsowetskij…., S. 72).

Die Kategorie der Zukunft ist in Russland geschrumpft auf eine sehr kurze Periode nach der Gegen­wart. In einer Umfrage aus dem Jahr 2007 sagten 48 % der Befragten, sie könnten sich ihre Lebensumstände für die nächsten zwei Jahre vorstellen, nicht länger. Zeit wird nicht mehr als kontinuierliche Entwicklung wahrgenommen, sondern als eine Abfolge traumatischer Ereignisse, die bereits geschehen sind oder bald geschehen werden. Aus dieser Sicht mag die offizielle Sowjetkultur zwar brutal und verlogen gewesen sein, sie hatte aber einen Vorteil: Sie versprach eine lichte Zukunft. Auf dem 22. Parteikongress der KPdSU kündigte Nikita Chruschtschow 1961 die kommunistische Gesellschaft für 1980 an. Dieser Optimismus ist verloren gegangen, und zwar definitiv. Die Zeit hat ihren eigenen Deutungsvektor umgedreht: Die russische Gegenwart wird nicht mehr als Vorstadium der großartigen Zukunft interpretiert, sondern als Produkt der desaströsen Vergangenheit. Das meistverbreitete Attribut der Zeit ist heute das Beiwort »post« – die Postapokalypse ist bereits da, die künstlerische Einbildungskraft muss nur noch neue Metaphern für dieses dominante Modell gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung finden.6

Schlussfolgerungen

Die verschiedenen Manifestationen der russischen Popkultur haben deutliche Implikationen für Russlands Demokratisierungspotenzial. Wenn Angst und Post­apokalpyse die dominanten Wahrnehmungskategorien für die Zukunft darstellen, bleibt der Aktionsradius für politische Partizipation eng. In den USA konnte Barack Obama die Präsidentschaftswahlen mit dem Slogan »change« für sich entscheiden. Eine solche Losung würde in Russland nur auf Ablehnung stoßen – »change« würde sofort als bedrohliche Verschlechterung aufgefasst.

Putins Popularität bei der russischen Bevölkerung hat deutlich abgenommen nach den Präsidentschaftswahlen von 2012. Allerdings denken immer noch 65 % der Befragten, dass die positiven Aspekte von Putins Amtszeit für Russland überwiegen.7 Vor dem Hintergrund der manichäischen Weltinterpretation in Werken der russischen Popkultur kann Putin als jener Held erscheinen, der bedrohliche fremde Einflüsse abwehrt und die russische in-group zusammenhält. Dabei spielt auch sein Aussehen eine wichtige Rolle: Putins ernstes Gesicht und seine gestählte Brust gehören mittlerweile zu den symbolischen Staatsinsignien Russlands.8 Biotechnische Unterhaltsarbeiten am präsidialen Körper wie Face-Lifting oder Rückenbehandlungen werden deshalb wie Staatsgeheimnisse behandelt.

Die russische Popkultur befördert mithin in ihren intermedialen Spielarten eine Weltdeutung, die auf Angst basiert, politische Passivität erzeugt und alle Hoffnung auf einen starken Führer setzt.

Lesetipps / Bibliographie

  • Jenkins, Henry: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York, 2008.
  • Juul, Jesper: A Clash between Game and Narrative. A thesis on computer games and interactive fiction, Copenhagen, 2001; http://www.jesperjuul.net/thesis/

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