Russischer Glamour: Die Ära Putin

Von Birgit Menzel (Germersheim)

Zusammenfassung
Der Artikel behandelt die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen der Glamour-Kultur im heutigen Russland. Stars, politische Führer und Journalisten bedienen sich glamouröser Strategien für ihr öffentlichkeitswirksames Auftreten, während die Kehrseite des Glamour-Kults, die massenhafte Anfälligkeit und Verführung junger Frauen zum Sexhandel, der Öffentlichkeit verborgen bleibt.

Glamour – ein neues Phänomen

Seit der Jahrtausendwende ist das postsowjetische Russland vom Glamour erobert worden. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurde das zu einem der wichtigsten Erkennungszeichen der Putin-Administration. Für einige russländische Kommentatoren ist Glamour ein Ersatz für die vielbeschworene nationale Idee, Soziologen sprechen eher von einer neuen Ideologie, mit der das Vakuum nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gefüllt wird, so wie das Fernsehen zum virtuellen Raum der nationalen Einheit geworden ist. Auch wenn die Glamourisierung ein Phänomen des globalisierten Kapitalismus ist, trägt sie doch in Russland spezifische Züge, die eng mit den historischen wie auch gegenwärtigen Bedingungen ihres Erscheinens zusammenhängen,

Dieser Artikel analysiert nach einigen allgemeinen Ausführungen drei Spezifika des Glamours in Russland: die Verbindung von russischem Nationalismus mit westlicher Konsumkultur, hier illustriert an der Ikonographie Putins; die Verbindung von sowjetischem mit postsowjetischem Starkult, am Beispiel Alla Pugatschowas, dem Superstar der russischen Estrada/Schlagerkultur, und die schillernd-ambivalente Gestalt des Glamour im Bereich weiblicher Journalisten in Russland, dies am Beispiel von Xenia Sobtschak. Abschließend wird auf die dunkle Seite des Glamour in einer Zeit der Krise verwiesen, vor allem einer Krise der hegemonialen Männlichkeit, die Verbindung von Verführung, Zynismus und Kriminalität im Geschäft des Menschenhandels (»human trafficking«).

Merkmale des russischen Glamour

Glamour ist auch in Russland zum kulturellen Äquivalent eines uneingeschränkten globalen Kapitalismus geworden. Er ist untrennbar verbunden mit den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Globalisierung, vor allem der Medien- und Kommunikationstechnologie, im Verlauf des letzten Jahrzehnts. Glamour stellt eine Mischung aus ostentativer Selbstdarstellung der neuen Elite und einem universellen Kult von Luxus und Mode als Verkörperung modernen, urbanen Lebensstils dar. Vermittelt und geschürt von den Massenmedien, aber auch getragen vom Massenbewusstsein, werden bestimmte Bilder eines exotischen und erotischen Lebensstils mit Vorstellungen von Grundwerten menschlichen Strebens – Jugend, Schönheit, Gesundheit, Liebe, Lebensfreude – vermischt und – mit den geschmacksintensivierenden Zutaten von Leidenschaft und Abenteuer gewürzt – zu Verheißungen von Freiheit und der Erfüllung aller Träume. Materialismus und äußere Erscheinung werden ebenso als Werte vermittelt wie Aggressivität, und dies bei beiden Geschlechtern. Die Inszenierung des Lebens als gefährliches Spiel wird als erfolgreiches Verhaltensmodell und als Lebenseinstellung präsentiert (verkörpert in der Generation »Hedgefunds« und im Genuss von Designer-Drogen); damit verbunden sind einfache Problemlösungen, die weder harte Arbeit noch die Übernahme von Verantwortung erfordern, sowie ein fast religiöser Glaube an Ausgleich und Erholung nach jeder Niederlage.

In Russland ist Glamour zu einem allgegenwärtigen Begriff geworden, der eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene ästhetischer wie sozialer und politischer Natur bezeichnet. Dem Oxford-Wörterbuch zufolge handelt es sich dabei um eine »attraktive und aufregende Eigenschaft, speziell mit sexueller Färbung«, und in einer zweiten älteren Bedeutung auch um »Verzauberung, Magie«. Neu aufgetaucht ist der Begriff in Russland (mit der aus dem Französischen übernommenen Betonung auf der zweiten Silbe) vor den Präsidentschaftswahlen 2008. Als 2007 mehr als 428 Artikel über Glamour in der überregionalen Presse und mehr als 1.000 Artikel im Internet erschienen, wurde es von Journalisten zum »Wort des Jahres« erklärt. Hochglanzmagazine, Fernsehserien, Modenschauen und Talkshows mit Stars, aber auch Bestsellerromane der Unterhaltungsliteratur wurden die einflussreichsten Orte der Kultivierung von Glamour als »dominantem ästhetischem Modus« (Olga Mesropowa, www.kinokultura.com/2008/20r-gloss-om.shtml).

Was seine soziale Funktion anbetrifft, verkörpert Glamour, verstanden als Konsumkult, in erster Linie Freiheit und ist ein ambivalentes Phänomen. Mit seiner enormen Popularität, besonders unter Frauen, erfüllt Glamour eine positive, sozialtherapeutische Funktion der individuellen Selbstveredelung, unterstützt einen zivilisierten Lebensstil und die befreiende Freude an der Sinnlichkeit, insbesondere in einer vertikal mobilen und weniger normativen Gesellschaft, als es einst die sowjetische war. Die Soziologin Wera Swerewa betont seine besondere Ambivalenz in Russland, wo er der Elite als einzigartig und exklusiv und gleichzeitig den Massen als erreichbar und zugänglich bis vulgär erscheint. Die symbolische Distanz zwischen der reichen Elite und den Massen ist in den vergangenen Jahrzehnten proportional zu dem Prozess einer sich vertiefenden sozialen Kluft zwischen Arm und Reich geschwunden, seit Luxusmarken und Accessoires, Kleidung und Parfüms in billigen chinesischen Imitaten für alle erschwinglich geworden sind.

Putin als glamouröser Held

Seit der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten hat sich das Image des politischen Führers in Russland radikal geändert. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wird seitdem das öffentliche Auftreten eines politischen Führers einem sorgfältigen Design unterworfen und mithilfe neuer Medien bis ins Detail von professionellen Managern choreographiert. Indem Putin die Rückkehr zur »Vertikale der Macht« mit der glamourösen Erscheinung eines männlichen Helden verbindet, ist er zu »Russlands ultimativem Star« geworden, und »Putin-glamour« zur Verkörperung des Neuen Russland. Die ikonographische Wiedergeburt sowohl des Russischen Reiches als auch der sowjetischen Vergangenheit sind mit der westlichen Konsumkultur verschmolzen. (Neue Forschungen haben den Einfluss russischer Emigranten auf die Entwicklung der Traumfabrik Hollywood herausgearbeitet. Zusammen mit einem Kult des Präsidenten als Inbegriff hegemonialer Männlichkeit, der die Bevölkerung zur Fangemeinde degradiert, ist dies zu einem der zentralen Merkmale von Putins unbezweifelbarer Popularität geworden (Er wird von 70–80 % der Bevölkerung unterstützt).

Entrückt wie jeder Star und Nationalheld, bleibt Putin enigmatisch und fern wie der Weiße Ritter der Nation. Seine Biographie gleicht, in neuem Design, der eines internationalen Spions. Sein öffentliches Image wird nach dem Bild von Schtirliz (Max Otto von Stierlitz), dem berühmten Spion aus der sowjetischen Kult-Fernsehserie der 1970er Jahre, modelliert, dessen Darsteller Wjatscheslaw Tichonow er posthum mit einem besonderen Orden des FSB auszeichnete. Gleichzeitig demonstriert er den Lebensstil eines James Bond. Sein »glamouröses Image unerschütterlicher Selbstkontrolle« erinnert an die Losung der Stalinschen 1930er Jahre: »Jeder Mensch kann ein Held werden.« Das treibt, neben den Medienritualen jährlicher Bürgerberatung, Blüten tatsächlicher Fan-Folklore hervor, mit tschastuschki-Gedichten, Teppichen aus Turkmenistan und Frauen, die im Angesicht Putins als idealem Ehemann in Ohnmacht fallen (Goscilo: Russia’s Ultimate Celebrity…, S. 21).

Beispiele für die geschickt choreographierte Verknüpfung mit der imperialen Vergangenheit sind etwa die luxuriöse Renovierung des Konstantinpalasts einzig zum Zweck von Putins persönlicher Repräsentation, die Nachbildung der Schapka Monomacha, der legendären Krone der Romanov-Dynastie, die ihm 60 Goldschmiede aus dem Ural als Geschenk zum 50. Geburtstag anfertigten, und auch sein Auftritt im Mai 2011 auf einem Wohltätigkeitsball in St. Petersburg, wo er in Anwesenheit mehrerer Hollywoodstars Fats Dominos Lied »Blueberry Hill« auf Englisch zum Besten gab, vom Publikum enthusiastisch gefeiert und der Auftritt später auf YouTube zur Massenrezeption freigegeben wurde.

Transzendenz, als ein weiteres Attribut von Glamour und Celebrity-Kult, das durch quasi-religiöse »Erlösungs-Narrative« vermittelt wird, seien diese nun christlicher oder leninistischer Färbung, zeigt sich etwa in touristischen Führungen entlang der Wege und Stationen von Putins Reisen durch sein Land, auch wenn diese mitunter ironischen Ausdruck finden. Putins öffentliches Image ist ein Produkt der »comics-cum-Hollywood-action-film-image pop culture und neue (Polit-)Technologie« (Goscilo: Russia’s Ultimate Celebrity…, S. 8, 21 u. 27); in ihm verbindet sich die männliche Energie eines entscheidungsstarken, wirkungsmächtigen Führers à la Macciavellis Prinz mit dem Hollywoodstar Arnold Schwarzenegger. Dies wurde nicht nur durch die weltweit verbreiteten Fotos seiner entblößten Brust beim Jagen, Schießen und Fischen vermittelt, sondern auch am Ende der Filmclip-Parodie »A Wowa rulit« (dt. in etwa: »Und Wladi ist am Drücker …«) auf YouTube (inzwischen aus dem Netz geblockt), als er seine Feinde, ganz wie Schwarzeneggers »Terminator«, mit einem Maschinengewehr vom Motorrad aus tötet und am Ende ankündigt »I’ll be back.«

Alla Pugatschowa: Ein russischer, sowjetischer und postsowjetischer Star

Obgleich sie in westlichen Ländern außerhalb von Emigrantenkreisen kaum bekannt ist, gehört Alla Pugatschowa sowohl in Bezug auf die Dauer ihrer Karriere als auch auf die quantitative Dimension ihres Erfolgs zu den weltweit führenden Superstars. Seit nahezu vier Jahrzehnten ist die »Göttin des russischen Pop, Moskaus Tina Turner mit einem Schuss Edith Piaf«, »deren Lieder der Sehnsucht von Millionen eine Stimme gegeben haben« (Smale, Alison: A Superstar Evokes a Superpower, in: New York Times, 28.02.2000), »Russlands berühmteste Frau«, eine der höchstbezahlten Stars, mit größtem Ansehen in den Medien und ununterbrochener Publikumsliebling. Ihre Popularität wurde weder durch den Zusammenbruch des Kommunismus und die Auflösung der Sowjetunion noch durch die chaotischen 1990er Jahre und die neue Glamour-Ära der Putin-Administration erschüttert. Mit 20 Mio. verkauften Alben wurde sie elf Mal zur jahresbesten Sängerin gewählt und 2007 vom Magazin Forbes auf den dritten Rang von Russlands 50 größten lebenden Stars gesetzt.

Wie ist dieser langandauernde Ruhm zu erklären, besonders wenn man bedenkt, dass Pugatschowa mit ihrer korpulenten Figur und oft geradezu bizarr geschmacklosen exzentrischen äußeren Erscheinung kaum irgendeinem westlichen Bild eines Superstars entspricht? Wie Olga Partan beobachtet, steht Alla Pugatschowa in den postsowjetischen Jahrzehnten, einer Zeit schwindender Professionalität in der Unterhaltungsbranche, bei zunehmender Dominanz von »popsa« oder »fast-track«-Musik in der Unterhaltungsindustrie (abschätzig »raskrutka« genannt), für eine musikalische Show von unverändert hohem professionellen Niveau, die in der Sowjetzeit Estrada genannt wurde. Zu deren typischen Zügen gehören der Einsatz einer starken, gut ausgebildeten Stimme und ein emotionaler, direkter Kontakt zum Publikum (Nach David Marshall waren diese Eigenschaften Hauptbedingungen für eine musikalische Karriere im frühen 20. Jahrhundert. Siehe Marshall, David: Celebrity and Power. Fame in Contemporary Culture, Minneapolis, London: University of Minnesota Press, 1997, S. 155.).

Pugatschowa lehnte die »Rückkehr zum Rock« in den 1980er Jahren ab und präsentierte sich weiter als Sängerin für die breite Masse, die ihrem Publikum, gestützt auf die kulturelle Tradition, immer treu blieb. Für ihre Texte griff sie sowohl auf klassische Dichtung, etwa auf Shakespeare, aber auch auf russische Lyriker wie Zwetajewa, Mandelstam und Pasternak zurück, die in der Stalinzeit verboten und verfolgt waren. In ihren Liedern vermischte sie immer Elemente der Hoch- und der Massenkultur. Und wie in der sowjetischen Vergangenheit, wo direkt auf der Bühne weniger Zensurdruck herrschte, rebellierte die Diva auch in der postsowjetischen Zeit gegen Konventionen. Besonders gegen die weiblichen Geschlechterrollen, die von der Gesellschaft zugewiesen werden, aber auch gegen die Normen von Sprache und Stil, indem sie etwa vulgären Slang und Obszönitäten neben klassischen literarischen Texten und Romanzen verwendet.

In den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist ihr exzentrisches Leben auf und hinter der Bühne in den Medien mit zentraler Aufmerksamkeit verfolgt worden. Sie allein konnte es sich erlauben, gegen die Regeln der orthodoxen Kirche zu verstoßen, offen verehrt sogar von Priestern der Kirche: im Juni 2005 erschien sie als Patin der Tochter ihres jungen Günstlings zur Taufzeremonie in der Kirche, die Auflage eines pietätvollen Äußeren missachtend, in ihrer üblichen schrillen Kleidung mit schreiendem Make-up, begleitet von Filmcrew und Medienhype, und von den Geistlichen wohlwollend empfangen.

In Pugatschowas öffentlicher Erscheinung, bei der sie großzügig alle Einzelheiten ihres Privatlebens ausbreitet, zeigt sich das, was Stephen Gundle die oxymoronischen Merkmale des Glamour genannt hat: »eine lotterhafte Eleganz (in ihrem Fall eine Inkongruenz, die allerdings von ihrer selbstironischen Parodie auf ihre körperlichen Unzulänglichkeiten und die performative Rolle der Narrenkönigin ausgeglichen wird), Exklusivität zum Anfassen und ein demokratischer Gestus des Elitären.« Sex-Appeal, die aristokratische Eleganz der Elite und exzessive Vulgarität verbinden die Verwirklichung romantischer Träume mit der Prostitution der Konkubinen. Die erfolgreichsten Stars und Berühmtheiten kommen oft aus den unteren sozialen Schichten. »Die glamourösesten Persönlichkeiten der vergangenen zweihundert Jahre waren keine Erben aus dem Kreis der reichen oder legitimen Angehörigen der Macht. Sie waren Außenseiter, Emporkömmlinge, soziale Aufsteiger, Parvenus.«

Es gibt jedoch noch einen anderen Schlüssel zum Verständnis von Pugatschowas scheinbar unsinkbarem Stern, die Tatsache nämlich, dass sie die sowjetische Vergangenheit mit der postsowjetischen Gegenwart verbindet und zugleich beide als Gegensätze einander gegenüberstellt: Sie lebt ihr Leben demonstrativ auf der Bühne und im Privatleben als Geliebte, Mutter und Großmutter zugleich. Damit macht sie für russische Frauen, insbesondere Frauen älterer Jahrgänge, ein durchaus befreiendes Rollenangebot. Immer wieder hat sie Affären mit erheblich jüngeren Männern, und ihren 50. Geburtstag feierte sie 1999 in einer Fernsehparty zusammen mit vier Ex-Ehemännern auf der Bühne. Viel bedeutsamer ist allerdings, dass Pugatschowa durch die konstante Bühnenpräsenz mit ihrer Tochter Kristina Orbakaite, selbst ein großer Star mit eigenem Profil, und jüngst sogar mit ihrem Enkelsohn, öffentlich die Familie als höchsten Wert menschlicher Bindung demonstriert. Dabei wird diese familiäre Bindung allerdings als primär weibliche demonstriert, in der die männlichen Partner häufig wechseln, d. h. entbehrlich erscheinen, und weibliche Angehörige die volle Kontrolle über ihr unabhängiges persönliches wie auch professionelles Leben innehaben.

Die Genderkonstruktion bestätigt, was Vera Dunham als das »strong-woman motif« in der russischen Kultur bezeichnet hat. Allerdings steht dieses Verhalten zugleich in eklatantem Widerspruch zur traditionellen Frauenrolle in Russland, wo Mütter wie auch Großmütter, d. h. alte Frauen, immer als Verkörperung der weiblichen Nation, verbunden mit der Erde (Russland als »feuchte Mutter-Erde«) mythisiert und ausschließlich in einer post- oder asexuellen Weiblichkeit imaginiert wurden und zulässig erschienen. Eine Babuschka mit Sex-Appeal ist ein Oxymoron, und Promiskuität ist in Russland bis heute ein ausschließlich männliches Privileg.

Pugatschowas öffentliche Performance, in der über drei Generationen hinweg matriarchale Autonomie demonstriert wird und die auch Lieder über Kinder mit einschließt (in den 1980er Jahren über Kinder, in den 2000er Jahren über Enkel), ist in einer westlichen Karriere dieser Art kaum vorstellbar. Sie widerspricht also russischen wie westlichen Geschlechterrollenangeboten für Stars in der Unterhaltungsbranche. Olga Partan zufolge verkörpert Alla Pugatschowa eine »spezifisch russische Variante der feministischen Position eines Superstars.« (Partan: Feminism à la Russe?…, S. 174).

Glamouröse Amazonen in den russischen Medien

Brian NcNair hat die wichtigsten Kennzeichen des russländischen Journalismus der 1990er Jahre als »Macht, Profit, Korruption und Lügen« beschrieben. Im neuen Jahrtausend haben Frauen eine dominante Rolle in den russländischen Medien übernommen, sowohl in den auflagenstarken Printmedien als auch im Fernsehen.

»Vom professionellen Profil her wird der Journalismus jünger und attraktiver für Frauen« schreibt Svetlana Pasti in einer Studie über die neue Generation russländischer Journalisten. Die Anzahl von Frauen, wie auch deren Professionalisierungsgrad, hat im vergangenen Jahrzehnt, erheblich zugenommen, wenn auch weit mehr im Bereich des Sensations- als im investigativen Journalismus. Wie kann man dieses Phänomen erklären, besonders in Anbetracht der Resowjetisierung der Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft, die Frauen aus dem Berufsleben vertreibt oder zumindest in Bereiche mit niedrigerem Einkommen oder Ansehen abdrängt? Und wie verhält sich das zu der patriotischen Wende hin zu einer Macho-Gesellschaft?

Ich werde mich auf einen Aspekt konzentrieren, auf weibliche Journalistinnen unterschiedlicher ideologischer Richtungen, für die eine glamouröse äußere Erscheinung nicht unvereinbar mit einem qualitativen Journalismus ist. Tina(tin) Kandelaki (geb. 1975), Julia Pankratowa (geb. 1977), Tatjana Wedenejeva (geb.1953), Olga Bakuschinskaja (geb. 1965), Olga Romanowa (geb. 1966), Larissa Werbizkaja (geb. 1959) und Jekaterina Andrejewa (geb. 1961) vertreten solch einen neuen Typ russländischen Journalismus’, der mit liberalen Einstellungen nicht notwendigerweise unvereinbar ist (Der Statistik zufolge waren im Jahr 2011 folgende Journalistinnen am populärsten in Russland: Irina Petrowskaja, Tatjana Lysowa, Olga Romanowa, Maria Sittel, Jelena Deneshkina, Larissa Kaftan, Julia Aljochina, Tatjana Wedenejewa, Jekaterina Andrejewa, die Pressesprecherin des Präsidenten Natalja Timakowa, Maria Schukschina, Larissa Gusejewa, Julia Kowaltschuk und Swetlana Sorokina.). Sogar Opposition zum Putin-Regime gab es in jüngster Zeit, durch Xenia Sobtschaks (geb. 1981) Wende nach den Dumawahlen vom Dezember 2011. Als Tochter des früheren St. Petersburger Bürgermeisters Anatolij Sobtschak, ehemalige Schülerin des berühmten Kirow-Balletts und Absolventin der angesehenen Moskauer Diplomatenschule MGIMO begann Sobtschak als Journalistin in dem Bereich, den Swerewa »radikalen Mainstream-Glamour« nennt (Swerewa: Glamur…, S. 132), als Talkshowmasterin von trivialen Serien wie »Blondine in Schokolade« und in der Reality-Show »Dom-2«, einer Adaption der westlichen Big-Brother-Serien. Als Glamourgirl zugleich reich, hübsch und intelligent, provozierte sie mit Vorliebe Skandale, indem sie z. B. ihr Publikum mit Tabubrüchen konfrontierte, durch sexbeladene Sprache und Themen und durch exzessiven Konsum (so gab es in Moskau eine Ausstellung mit 450 Paar Schuhen von ihr). Als im Mai 2006 ein Mitglied der Nationalen Gesundheitskommission sie öffentlich kritisierte und bezichtigte, in der Bevölkerung »ein ungesundes Interesse an Sex« zu schüren, beantwortete sie diese Kritik mit der Gründung einer Jugendorganisation »Alle sind frei«, insbesondere für Kinder der Elite. »Für mich ist der Kapitalismus das beste Mittel zur Empfängnisverhütung. Wenn Du ein normales Leben mit einem Beruf, Ausbildung und Möglichkeiten leben kannst, warum solltest du es dann mit Windeln, Borschtsch und anderen Vergnügungen verschwenden?« (nach Goscilo, Strukov: Celebrity and Glamour…, S. 10). Aber wie auch Pugatschowa propagiert Sobtschak zugleich die Familie als höchsten Wert der russischen Gesellschaft, setzt sich immer wieder für die Wiedereinführung der früheren Rituale der sowjetischen Eheschließung und für Hochzeitsbräuche ein und stärkt damit nachdrücklich den patriarchalischen Gesellschaftstyp. Zusammen mit Olga Robski, selbst Autorin mehrerer Bestsellerromane, verfasste sie das Buch »Wie angle ich einen Millionär?«, eine ironische Empfehlung, per Heirat die soziale Leiter hinaufzuklettern, durch den Einsatz weiblicher Eigenschaften als Tauschware für Geld.

Seit der offiziell angefochtenen Dumawahl im Dezember 2011, die zu öffentlichen Protesten gegen Putins autoritäres Regime führte, hat Sobtschak ihre politischen Anschauungen geändert, und nach der Wiederwahl von Putin zum Präsidenten im März 2012 wechselte sie offen zur Opposition über (Siehe die Episode mit Sobtschak in dem Dokumentarfilm-Online-Projekt »Srok« von Alexander Rastorgujew und Pawel Kostomarow von April bis Dezember 2012. Diese Information verdanke ich Eva Binder.). Während des Prozesses gegen die Musikgruppe Pussy Riots moderierte sie sehr geschickt eine kontroverse Diskussion in der Fernsehtalkshow »Gosdep«, in der sie Vertreter der orthodoxen Kirche, Experten für alternative Wirtschaftskonzepte, Untergrundkünstler und militante Nationalisten – zumindest für einige Zeit – an einem Tisch zusammenbrachte. In der gegenwärtigen Situation zunehmender politischer Repression und Intoleranz fährt Sobtschak fort, die Autoritäten in den Medien offen zu kritisieren und zu provozieren, insbesondere im staatlich kontrollierten Fernsehen (»Gosdep«, 19.3.2012; http://www.you tube.com/watch?v=QFhPV_FiDRk).

Die dunkle Seite des Glamour

Die Glamourisierung Russlands in der Politik, in den Medien und der Gesellschaft als eines der Symbole des globalisierten Kapitalismus hat eine dunkle Seite, so wie auch die organisierte Kriminalität die andere Seite der globalisierten Wirtschaft darstellt. Ein Schlüssel zur Glamourisierung ist »die Sprache der Verführung, da bürgerliche Moral sich immer nach der Beziehung zur Sexualität richtete, und kommerzielle Unternehmen ihre Wirkung immer schon durch Anspielungen auf Sexualität und Exzess erzielten (neben Selbstinszenierung, Magie und Religion)« (Gundle: Glamour…, S. 9). Die globale Wirtschaft hat in der postkommunistischen Welt eine eigene Strategie der Ausbeutung geschaffen. Die hohen Raten der Arbeitslosigkeit betreffen vor allem Frauen und Kinder, und seit dem Jahr 2000 ist der Menschenhandel eine der Hauptquellen des weltweit organisierten Verbrechens geworden, dessen Ausmaß inzwischen den Waffen- wie auch den Drogenhandel übertrifft. Frauen, zusammen mit Kindern, aus Mittel- und Osteuropa, sind am meisten Opfer dieses extrem brutalen organisierten Verbrechens geworden.16 Sie werden aus verschiedensten Gründen und zu verschiedensten Zwecken verschleppt. Sexuelle Ausbeutung zu kommerziellen Zwecken gehört mit zu den wichtigsten Zielen. Russland ist eines der bedeutendsten Quellenländer des Menschenhandels in mehr als 50 Nationen geworden. Die Verheißungen sozialer Mobilität haben eine Vielzahl junger Mädchen und Frauen in den Ländern des ehemaligen sowjetischen Blocks dazu verführt, den Versprechungen von Erfolg durch Sexbusiness (russ.: »sexbiznes«) zu glauben. Oftmals kommen sie aus Provinzstädten und entlegenen Dörfern, in denen es keinerlei Perspektive auf ein Leben ohne Armut gibt. Sie lassen sich, manipuliert durch die Medien und eigene Illusionen, auf den Menschenhandel ein und sind dann mit den katastrophalen Folgen konfrontiert, verkauft und verschleppt zu werden und schließlich, zu Hunderttausenden auf die ganze Welt verstreut, in einem unentrinnbaren Kreislauf lebenslanger Sexsklaverei zu enden.

Schlussfolgerungen

Es bleibt eine ungelöste Kontroverse, ob es sich bei Glamour um eine angeborene Qualität bestimmter Menschen handelt, die Aura und Talent erfordert, oder ob es eine Eigenschaft ist, die antrainiert werden kann und somit durch Geld oder Training für jeden erreichbar ist. Seit Wladimir Putin mit seiner scharfen patriotischen Wende und einer zentralisierten, insbesondere über das Fernsehen betriebenen Medienpolitik wieder ein autoritäres Regime etabliert hat, ist Glamour zu einem der wichtigsten Bestandteile des neuen Selbstbildes von Russland geworden, in dem sich die »beiden Hauptpraktiken der postsowjetischen Ära ausdrücken: Nostalgie und Konsum.«17 Politische Führer, Popstars und Journalisten beider Geschlechter bedienen sich des Glamours für verschiedene, mitunter einander widersprechende Ziele, als Waffe, Schutz und Verführung, und mit Folgen, die von einer sozialtherapeutischen Wirkung bis hin zu Manipulation und organisiertem Verbrechen reichen. In seiner Intensität, in den Mischungen und widersprüchlichen Erscheinungsformen präsentiert sich der Glamour in Russland in der Tat mit einer eigenständigen Physiognomie.

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Analyse

Nikita Michalkow als politischer Mentor Russlands

Von Ulrich Schmid
Der russische Filmregisseur Nikita Michalkow hat kürzlich ein Manifest des »aufgeklärten Konservativismus« vorgelegt, das eine autoritäre politische Zukunftsvision entwirft. Politische Stabilität und Wirtschaftswachstum, garantiert durch eine starke Führungspersönlichkeit, stehen im Zentrum seines Entwurfs. Der Text überrascht allerdings nicht, er stellt die Summe von Michalkows nationalkonservativen, religiös verklärten Ansichten dar. Sowohl in seinen Filmen als auch in seinen politischen Äußerungen hat er sich als geistiger Führer der Nation stilisiert. Michalkows Auffassung der idealen Staatsordnung mit ihrer starken Verankerung in der kulturell und religiös geprägten Russianness liegt den Vorstellungen von Wladimir Putin nicht fern – und das macht ihre politische Bedeutung aus. (…)
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Analyse

Postapokalypse, Intermedialität und soziales Misstrauen in der russischen Popkultur

Von Ulrich Schmid
Popkultur dient nicht einfach nur der Unterhaltung. Popkultur kodiert Werthaltungen, Wahrnehmungsmuster und Wissensordnungen, die für ein breites Publikum wirkmächtig werden. Oft verdrängen Produkte aus der Popkultur sogar etablierte Wissensbestände, die in Schulen unterrichtet werden. Deshalb prägt die zunehmend intermedial auftretende Popkultur auch nachhaltig ideologische Strömungen in der Öffentlichkeit. In Russland präsentieren Bestseller, Kinofilme und Computerspiele sehr spezifische Narrative über gesellschaftliche und politische Systeme, die bei Einschätzungen über das russische Demokratisierungspotenzial berücksichtigt werden müssen. (…)
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