Russlands Chinapolitik: Interessen, Strategien, Perspektiven

Von Margarete Klein (Berlin)

Zusammenfassung
Die Beziehungen zu China gewinnen in der Prioritätenliste russischer Außenpolitik zunehmend an Bedeutung. Das spiegelte sich nicht zuletzt darin wider, dass Putins erste Auslandsreise seiner dritten Präsidentschaft ihn nach Peking führte. Seit 2010 ist China auch der wichtigste Außenhandelspartner Moskaus. Zugleich zeichnet sich das Verhältnis zum großen Nachbarn im Osten durch eine zunehmende Komplexität aus. So verändert sich die bilaterale Machtbalance, wobei dies je nach Politikfeld in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Umfang stattfindet. Hinzu kommt, dass die China-Politik des Kreml weiterhin von einer externen Größe beeinflusst wird – dem Zustand der russisch-amerikanischen Beziehungen. Aus dieser Gemengelage resultieren teils recht widersprüchliche Handlungsanreize, die die Formulierung einer kohärenten China-Strategie erschweren.

Partnerschaft mit China?

Der Ausbau der Beziehungen zu China – von der »konstruktiven Partnerschaft« (1994) über die »Partnerschaft der strategischen Koordination« (1996) bis hin zur »umfassenden, sich vertiefenden strategischen Partnerschaft der Koordination« (2010) – gilt als Erfolgsgeschichte der russischen Außenpolitik. Tatsächlich gelang es beiden Seiten seit Beginn der 1990er Jahre, traditionelle Konfliktpotentiale (etwa Grenzfragen) zu entschärfen, auf globaler und regionaler Ebene (z. B. im Rahmen der Shanghai Cooperation Organization (SCO) oder im UN-Sicherheitsrat) politisch zu kooperieren sowie den beiderseitigen Handel von 8 Mrd. US-Dollar im Jahr 2000 auf 87.5 Mrd. US-Dollar im Jahr 2012 zu verzehnfachen. Die Führung in Moskau wird daher nicht müde, das Verhältnis zu China als »historisch einmalig eng« oder gar als »neuen Typ an Beziehungen, frei von Vorurteilen und Stereotypen« zu würdigen.

In das offizielle Lob der Partnerschaft mit China mischen sich aber auch zunehmend skeptische Töne in der russischen Expertenlandschaft. Wenngleich recht zurückhaltend formuliert, zielt die Kritik darauf, dass Moskaus Chinapolitik zu stark auf die Erreichung kurzfristiger ökonomischer und geopolitischer Chancen fokussiert, dabei aber die vom Aufstieg Pekings ausgehenden langfristigen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gefahren zu wenig in den Blick nimmt. Ohne eine zukunftsorientierte, kohärente Strategie drohe Russland zu einem »Rohstoffanhängsel« bzw. »Juniorpartner« einer neuen Supermacht China abzusteigen. Welche Interessen prägen die russische Chinapolitik? Mit Hilfe welcher Instrumente und Ressourcen versucht Moskau diese umzusetzen, und wie erfolgreich ist es dabei?

Der globale Pfeiler: brüchiges Kernstück der »strategischen Partnerschaft«

Während bei der »Normalisierungspolitik« der ersten Hälfte der 1990er Jahre die Entspannung bilateraler Konfliktpotentiale im Zentrum stand, spielten bei der Aufwertung zur »strategischen Partnerschaft« 1996 geopolitische Motive eine entscheidende Rolle. Zunehmend frustriert über seinen eigenen Machtverlust und das vermeintliche Ausnutzen desselben durch den Westen, z. B. in Form der NATO-Osterweiterung, suchte Moskau nach einem Partner, um seine globalen Interessen wirksamer zu vertreten und seine internationale Machtposition wieder zu stärken. Peking erschien dabei als passender »Kräfteverstärker«; schließlich teilen beide Seiten die Kritik an der nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen, US-zentrierten Weltordnung. In der Folge etablierten Moskau und Peking ein enges Netz regulärer Diskussionsformate auf verschiedenen Ebenen mit dem 2005 gestarteten »strategischen Dialog« als Kernstück und koordinieren oftmals ihr Abstimmungsverhalten im UN-Sicherheitsrat, wie z. B. zum Kosovo, Syrien oder zum Iran.

Tatsächlich half die Zusammenarbeit mit Peking, den russischen Einflussverlust auf internationaler Ebene etwas abzufedern. Der globale Pfeiler der »strategischen Partnerschaft« ist jedoch weniger stabil als von beiden Seiten beschworen. Zwar teilen Moskau und Peking gewisse Vorstellungen für eine »neue und gerechte Weltordnung«. Dazu gehören das Prinzip der Multipolarität und eine traditionelle Definition internationaler Normen und Prinzipien, in der großer Wert auf die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten gelegt wird. Darüber hinaus sind die meisten gemeinsamen Interessen aber ex negativo definiert und erschöpfen sich in der Ablehnung des amerikanischen Führungsanspruchs. Eine geteilte Vision, wie die künftige Weltordnung aussehen und vor allem welchen Platz der jeweils andere darin einnehmen soll, fehlt bis heute. Während sich Russland als wieder aufstrebende Großmacht definiert, die auch langfristig auf Augenhöhe mit den USA und China agieren möchte, wird Moskau in Peking eher als »declining power« wahrgenommen, die (noch) über gewisse Attribute einer Großmacht verfügt. Wie fragil der ordnungspolitische Konsens ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass beide Seiten ihre Politik gegenüber den USA – dem zentralen externen Akteur und Objekt gemeinsamer Kritik – weitgehend ohne Berücksichtigung der Interessen des »strategischen Partners« festlegen. Letztlich ist Washington sowohl für Moskau als auch für Peking weiterhin der prioritäre Referenzpunkt ihrer Außenpolitik und der globale Pfeiler der »strategischen Partnerschaft« zwischen Russland und China bleibt in vielem noch eine Funktion der übergeordneten Beziehungen zu den USA. So findet eine Annäherung Moskaus an Peking vor allem dann statt, wenn die Beziehungen zu den USA belastet sind, wie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Zuge der NATO-Osterweiterung und des Kosovo-Krieges, 2004–2008 durch den Irakkrieg und die »farbigen Revolutionen« sowie seit 2011 nach dem erneuten Amtsantritt Putins.

Der globale Pfeiler der russisch-chinesischen Beziehungen ist nicht nur weniger stabil, als nach außen beschworen; auch macht sich hier die Kräfteverschiebung im russisch-chinesischen Verhältnis zunehmend bemerkbar – zu Ungunsten Moskaus. Zwar hat Moskau bei Fragen der internationalen Sicherheit bis heute oft die führende Rolle inne und kann in gewissem Maße die chinesische Haltung beeinflussen. Solange Peking es vermeidet, im UN-Sicherheitsrat allein ein Veto einzulegen, sieht es sich gezwungen, der russischen Haltung anzuschließen, wie beispielsweise bei der vierten Runde der UN-Sanktionen gegen den Iran (2010) oder der Abstimmung zur Flugverbotszone in Libyen (2011) geschehen. Außerhalb des Politikfelds »internationale Sicherheit« divergieren jedoch die Interessen beider Seiten deutlich. Auch verfügt China bei »soften« globalen Themen wie Wirtschafts- und Finanzpolitik über größere Machtressourcen als Russland. In der Folge ist Peking in den neuen global governance-Foren wie G20 und BRICS nicht nur aktiver und einflussreicher als Moskau, sondern weist der Kooperation mit diesem auch keine Priorität zu. Gelingt es beiden Seiten nicht, in diesem Bereich stärker zu kooperieren, wird der Anspruch auf eine »strategische« Qualität der russisch-chinesischen Beziehungen auf globaler Ebene Beziehungen kaum aufrecht zu erhalten sein.

Der regionale Pfeiler: zunehmende Konkurrenz in Zentralasien, mangelnde Kooperation im asiatisch-pazifischen Raum

Seit Anfang der 1990er Jahre arbeiten Moskau und Peking auch auf regionaler Ebene zusammen, in Asien. Dies betrifft in erster Linie die gemeinsame Nachbarschaft Zentralasien. Ging es zu Beginn der 1990er Jahre um Fragen der Grenzdemarkation und -demilitarisierung, rückte bald der Umgang mit neuen Sicherheitsrisiken ins Zentrum der bilateralen Agenda. Der Kampf gegen die »drei Übel« – Terrorismus, Extremismus und Separatismus – führte 1996 zur Gründung der »Shanghai Five« (Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan) und deren Überführung in die »Shanghai Cooperation Organisation« (einschließlich Usbeki­stan) 2001. Mit Hilfe dieses Gremiums gelang es Moskau und Peking nicht nur, Spillover-Effekte auf die eigenen Unruheprovinzen (Xinjiang, Nordkaukasus) einzudämmen, sondern auch die gegenseitige Konkurrenz in der gemeinsamen Nachbarschaft friedlich zu handhaben.

Für Moskau stellt die gemeinsame Abwehr grenzüberschreitender Sicherheitsrisiken in Zentralasien einen Gewinn aus der »strategischen Partnerschaft« mit Peking dar. Allerdings dürfte es in Zukunft schwieriger werden, mit der gegenseitigen Rivalität in der Region umzugehen. Schließlich ändert sich auch dort das Kräfteverhältnis zu Ungunsten Moskaus, während gleichzeitig die Beharrungskraft der traditionellen Rollenkonzeption – Großmacht mit eigener Einflusszone im postsowjetischen Raum – stark ausgeprägt ist. Dies dürfte das Konfliktpotential in den russisch-chinesischen Beziehungen mittel- bis langfristig ansteigen lassen. Beispielsweise hat sich seit Beginn der 1990er Jahre die wirtschaftliche Ausrichtung der zentralasiatischen Staaten massiv verändert: Mittlerweile ist China dort in allen Ländern – mit Ausnahme Usbekistans – der wichtigere Handelspartner. Dass Russland seine diversen Integrationsprojekte im postsowjetischen Raum (Zollunion, Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, Eurasische Union und Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit) mit neuer Verve vorantreibt, dürfte daher nicht nur mit Blick auf Konkurrenz aus dem Westen, sondern auch auf die aus China motiviert sein.

Außerhalb Zentralasiens ist die Kooperation Moskaus mit Peking schwach ausgeprägt. Dies verwundert auf den ersten Blick; schließlich strebt Russland seit einigen Jahren eine stärkere Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum an. Hintergrund ist der (geo)politische und ökonomische Machtzuwachs, den Asien im letzten Jahrzehnt erlebte. Moskaus Führung ist davon überzeugt, dass Russland nur dann seinen globalen Großmachtanspruch aufrechterhalten kann, wenn es sich in dieser neuen »Schlüsselregion des 21. Jahrhunderts« erfolgreich als Regionalmacht etabliert. Die Erwartung, dass die »strategische Partnerschaft« mit China als »Kräfteverstärker« bzw. »Türöffner« für die russischen Asienambitionen genutzt werden kann, erfüllte sich aber nicht. Zwar demonstrieren Moskau und Peking auch in Bezug auf Asien Zusammenarbeit, wenn sie wie 2010 gemeinsame Ideen zur regionalen Sicherheitsordnung vorstellen oder sich in ihren territorialen Schlüsselinteressen – dem russischen Anspruch auf die südlichen Kurilen und dem chinesischen Anspruch auf Tibet und Taiwan – gegenseitige Unterstützung versichern. Darüber hinaus zeigt China aber kaum Interesse, Moskaus Streben nach einer stärkeren und eigenständigeren Rolle im asiatisch-pazifischen Raum zu fördern. Schließlich könnte dies langfristig den eigenen Führungsanspruch in der Region gefährden. Von »strategischer Kooperation« in Bezug auf Asien kann daher im russisch-chinesischen Verhältnis keine Rede sein.

Vor diesem Hintergrund bestehen Russlands Handlungsoptionen darin, entweder als Chinas Juniorpartner eine leicht ausgeweitete, aber dennoch stets beschränkte Rolle in Asien zu spielen oder aber seine Asienpolitik vom bisherigen Sino-Zentrismus zu lösen und stärker zu diversifizieren. Tatsächlich baute Moskau in den letzten Jahren sowohl seine bilateralen Beziehungen zu anderen asiatischen Ländern als auch sein Engagement in den multilateralen Foren der Region aus. So wurde Russland beispielsweise 2003 Teil der 6-Parteien-Gespräche zum nordkoreanischen Nuklearprogramm, hielt 2005 das erste Gipfeltreffen mit der ASEAN ab, trat 2011 dem Ostasiengipfel bei und hatte 2012 den APEC-Vorsitz inne. Im bilateralen Bereich baute Moskau seine politischen Beziehungen sowohl mit Süd-, als auch mit Nordkorea aus und erhob seine 2001 geschaffene »strategische Partnerschaft« mit Vietnam 2012 zu einer »umfassenden strategischen Partnerschaft«. Zwar ist der Kreml vorsichtig, Chinas Interessen nicht offen herauszufordern; in den letzten beiden Jahren lässt sich aber doch eine selbstbewusstere Politik Russlands in der Region beobachten. So hilft Moskau durch Waffenverkäufe bei der Modernisierung der vietnamesischen Marine, die damit ihre Verteidigungsfähigkeiten gegenüber Peking ausbauen kann. Auch ist Gasprom an der Erschließung vietnamesischer offshore-Energiequellen beteiligt, die sich unweit der zwischen Peking und Hanoi umstrittenen Gewässer im südchinesischen Meer befinden. Dies führte im September 2012 zu ungewohnt offener Kritik des chinesischen Außenministeriums. Auch weigerte sich Moskau, während des chinesisch-japanischen Konflikts um die Senkaku-/Diaoyu-Inseln im Herbst 2012 offen die Position Pekings zu unterstützen, sondern forderte, dass beide Seiten diesen Konflikt im Dialog lösen sollten.

Auch wenn Moskaus Asienpolitik in den letzten Jahren eine stärkere Eigenständigkeit gegenüber China demonstrierte, hängt der Erfolg der Diversifizierungsstrategie letztlich davon ab, ob es Russland gelingt, seine Beziehungen zu den beiden anderen mächtigen politischen Akteuren der Region auszubauen – zu Japan und vor allem zu den USA. Die Aussichten hierfür erscheinen gemischt. Zwar zeigt Putin in seiner dritten Amtszeit ein verstärktes Interesse an einem verbesserten Verhältnis zu Tokio. Dieses trifft angesichts der chinesisch-japanischen Streitigkeiten dort auch auf Gegenliebe. So einigten sich Putin und Premierminister Abe im April 2013 auf neue Gespräche zur Beendigung des Kurilen-Streits. Eine derartige positive Dynamik fehlt jedoch im russisch-amerikanischen Verhältnis. Angesichts der momentan angespannten Atmosphäre ist nicht davon auszugehen, dass Washington Russlands Streben nach einer größeren Rolle im asiatisch-pazifischen Raum unterstützt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die USA ihre bisherige Politik fortsetzen – und diese besteht darin, Russland als Akteur in Asien weitgehend zu ignorieren.

Der militärische Pfeiler: Kooperation trotz wachsender Sorgen

Zu den Errungenschaften der »strategischen Partnerschaft« gehören Vertrauensbildung und Kooperation im militärischen Bereich. So einigten sich die einstigen Gegner in den 1990er Jahren auf konkrete Maßnahmen zur Demilitarisierung der Grenzregion und verzichteten darauf, Nuklearwaffen gegeneinander auszurichten oder als erste anzuwenden. Seit 1997 findet ein regulärer Dialog zwischen den Generalstäben beider Seiten statt, und seit 2005 führen beide Seiten im bilateralen oder multilateralen Rahmen der SCO gemeinsame Militärübungen durch. Unmittelbare Bedrohungsperzeptionen, die das Verhältnis zwischen Moskau und Peking zwischen den 1960er und 1980er Jahren belastet hatten, konnten dadurch erfolgreich abgebaut werden.

Dennoch wird die militärische Entwicklung Chinas in Moskau durchaus mit Sorge betrachtet. Zwar wird diese mit Rücksicht auf die politischen Beziehungen zu Peking nur selten offen formuliert; auch verfügt Moskau mit seinem überlegenen nuklearstrategischen Potential weiterhin über die Fähigkeit zur atomaren Abschreckung. Im konventionellen Bereich jedoch ändert sich das Kräfteverhältnis langsam. Während Peking seit zwei Jahrzehnten seine Streitkräfte modernisiert, leiden Russlands Streitkräfte bis heute unter den Folgen verschleppter Reformen. Auch bei den finanziellen Möglichkeiten divergieren beide Seiten zunehmend. Bereits heute übersteigt das chinesische Verteidigungsbudget mit 102 Mrd. US-Dollar (2012) deutlich das russische von 59.9 Mrd. US-Dollar.

Sorgen ergeben sich aber nicht nur wegen der gewachsenen militärischen Fähigkeiten der Volksbefreiungsarmee, sondern auch wegen der langfristigen Intentionen Chinas. Zwar ist Moskaus Führung bewusst, dass der militärische Aufwuchs Pekings nicht primär oder unmittelbar gegen Russland gerichtet ist; ein derart gestärktes China könnte in Zukunft jedoch bei Konflikten mit Russland versucht sein, fordernder aufzutreten, z. B. bei Fragen des Zugangs zu Energieressourcen in der Arktis, Zentralasien oder dem russischen Fernen Osten und Ostsibirien. Chinesische Militärmanöver nahe der russischen Grenze (2006, 2009) verstärkten diese Gefahrenperzeption.

Neben »engagement«-Mechanismen wie Vertrauensbildung und militärische Kooperation setzt Moskau daher auch auf Maßnahmen militärischer Rückversicherung für den Fall, dass sich das Verhältnis eines Tages verschlechtert. Dazu gehört die Modernisierung des nuklearstrategischen Potentials, der Ausbau der strategischen Frühwarn- und Abwehrsysteme im Militärbezirk Ost oder verstärkte Übungsaktivitäten. So diente das Manöver »Wostok 2010« in weiten Teilen dazu, Chinas Führung die Erfolge der 2008 gestarteten Reform der russischen Streitkräfte zu demonstrieren. Zu den Rückversicherungsmaßnahmen gehört auch, dass Russland seine Waffenverkäufe an China qualitativen Beschränkungen unterwirft. Zwar stammen ca. 90 % der zwischen 1992 und 2010 an China gelieferten Waffen aus russischer Produktion. Im Vergleich zum Export nach Indien, gegenüber dem Russland keine Bedrohungsperzeptionen hegt, lieferte Moskau nach China jedoch nie die modernsten Systeme. Die Frage der Rüstungskooperation illustriert noch einmal deutlich eine zentrale Ambivalenz der russischen Chinapolitik – die zwischen ökonomischen Interessen und sicherheitspolitischen Bedenken.

Der wirtschaftliche Pfeiler: China ist nur bedingt eine Chance

Erscheint China aus sicherheitspolitischer Perspektive als potentielle Gefahr, wird es aus dem ökonomischen Blickwinkel im russischen Diskurs als große Chance betrachtet. So formulierte Putin das Ziel, den »chinesischen Wind in unsere Segel zu nehmen«. Tatsächlich konnte der bilaterale Handel in den vergangenen Jahren beeindruckende Wachstumsraten verbuchen. So stieg das Handelsvolumen bis 2012 auf 87,5 Mrd. US-Dollar und konnte allein zwischen 2010 und 2011 eine Steigerungsrate von über 40 % verbuchen. Beide Seiten streben an, den Handel bis 2015 auf 100 Mrd. US-Dollar und bis 2020 auf 200 Mrd. US-Dollar auszuweiten.

Um das Potential der Wirtschaftskooperation einzuschätzen, reicht der Blick allein auf das Handelsvolumen jedoch nicht aus. Auch die Bedeutung des jeweils Anderen für den gesamten Außenhandel und die Handelsstruktur müssen beleuchtet werden. Dabei fallen deutliche Asymmetrien auf – zu Ungunsten der Russländischen Föderation. Während China mit einem Anteil von 10 % am Außenhandel der wichtigste Wirtschaftspartner Russlands ist, stellt Moskau für Peking mit einem Anteil von lediglich 2 % einen eher unbedeutenden Handelspartner dar. Nur im Energiebereich nimmt Moskau eine wichtige Position für seinen Nachbarn im Osten ein. Dies spiegelt sich aber auch in einer asymmetrischen Handelsstruktur wider. Während der Anteil an Fertigprodukten im russischen Export deutlich gesunken ist, nahm die Bedeutung von Rohstoffen massiv zu. Demgegenüber stieg der Anteil chinesischer Fertigprodukte beim russischen Import. Will Russland nicht zu einem bloßen »Rohstofflager« Chinas werden, muss es vor allem seine Wirtschaft und Infrastruktur im Fernen Osten und Sibirien modernisieren und seine Wettbewerbsfähigkeit jenseits der Nischenprodukte der Rüstungsindustrie und Energiewirtschaft ausbauen.

Fazit

Der Umgang mit dem aufstrebenden Nachbarn im Osten stellt eine zentrale Herausforderung der russischen Außenpolitik dar. Die Veränderungen im bilateralen Kräfteverhältnis, die Dmitri Trenin einst als »politisches Erdbeben« bezeichnete, erfordern vielfältige Anpassungsleistungen, nicht zuletzt beim eigenen außenpolitischen Rollenverständnis. Erschwert wird die Suche nach einer kohärenten Strategie durch die Gleichzeitigkeit, aber auch unterschiedliche Geschwindigkeit der Veränderungsprozesse in den einzelnen Politikfeldern sowie dadurch, dass eine Abstimmung der russischen Chinapolitik mit seiner Westpolitik bislang fehlt.

Lesetipps / Bibliographie

  • Trenin, Dmitri: True partners? How China and Russia see each other, London 2012.
  • Moshes, Arkady, Matti Nojonen (Hg.): Russia-China relations: Current state, alternative futures, and implications for the West (= FIIA Report Nr. 30, 2011), Helsinki, 12.09.2011.
  • Jakobson, Linda, Paul Holtom, Dean Knox, Jingchao Peng: China’s Energy and Security Relations with Russia. Hopes, Frustrations and Uncertainities (=SIPRI Policy Paper Nr. 29, 2011), Stockholm 2011.

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