Die Ergebnisse der Wahlen am 8. September 2013 in vielen Regionen Russlands zeigen, dass die Putin-Administration die Lage im Lande kontrolliert und in der Lage ist, dort, wo gewünscht, Mehrheiten zu erzeugen. In einigen Fällen aber hat die Administration der Opposition Spielräume gelassen. Sie hat erprobt, welche Folgen es hat, wenn man politischen Gegnern Freiräume gewährt. Die Siege von Regimegegnern in Jekaterinburg und Petrosawodsk und der Achtungserfolg von Alexej Nawalnyj in Moskau werden von der kritischen Öffentlichkeit gefeiert, sie waren aber nur möglich, weil das Regime dort den administrativen Druck gelockert hat. Ob diese Herangehensweise Schule macht und auch anderswo mehr Opposition möglich wird, oder ob die Administration den Druck auf die Opposition wieder erhöhen wird, das steht abzuwarten. Welchen Weg die Administration geht, hängt davon ab, wie sie die Ergebnisse dieser »Liberalisierung« politischer »Inseln« bewertet und welche Schlussfolgerungen sie daraus für die künftige Gestaltung der politischen Ordnung zieht.
Seit der Finanzkrise ist die politische Ordnung in eine Krise geraten. Zwischen 2000 und 2008 war die Akzeptanz des politischen Systems hoch. Die Kontrolle über das Fernsehen und das durch die hohen Energiepreise beförderte Wohlstandswachstum boten gute Voraussetzungen, um mit dem Präsidenten Putin eine Identifikationsfigur zu etablieren, die dem Herrschaftssystem Legitimation verlieh. Dieses Arrangement überstand auch die Nachfolgeregelung 2008, als Putin in der Präsidentenrolle durch Dmitrij Medwedew abgelöst wurde, aber als Ministerpräsident das Machtsystem absicherte.
Zwei Prozesse stellten die Stabilität dieses politischen Arrangements in Frage: die Finanzkrise 2008, die im Folgejahr in der Gesellschaft zu fühlbaren Wohlstandseinbrüchen führte, und der Vormarsch des Internet, das seit 2009/2010 das auf das Fernsehen gestützte Informationsmonopol der Administration untergrub. Die sinkende Akzeptanz des Regimes wurde im Laufe der Jahre 2010–2011 spürbar. Insbesondere »Einiges Russland«, die »Partei der Macht«, verlor an Ansehen. Die niedrigen Zustimmungswerte veranlassten die Administration vielerorts, die Ergebnisse der Duma-Wahlen im Dezember direkt zu fälschen. Dies löste in Moskau eine massive Reaktion aus – Zehntausende gingen auf die Straße. Die Massendemonstrationen und die sinkenden Zustimmungsraten irritierten das Regime. Zwar erreichte die Administration durch Organisation von Gegendemonstrationen und den Einsatz administrativer Ressourcen die Wahl Putins zum Präsidenten im ersten Wahlgang, dennoch war die russische Führung verunsichert. Das politische Arrangement der Jahre 2000–2008 funktionierte nicht mehr. Der anhaltende Rückgang der Zustimmungswerte in den Umfragen zeigte auch, dass die Akzeptanz des Regimes über die Identifikationsfigur Putin nicht langfristig zu sichern war.
Nach dem erneuten Amtsantritt Putins im Mai 2012 suchte die Administration die innere Stabilisierung auf zwei Wegen: einerseits gab der Präsident der Regierung per Dekret die Anweisung, die sozialen Sicherungssysteme zu verbessern und die Wirtschaftsleistung zu steigern, andererseits initiierte man Strafverfahren gegen führende Oppositionelle, übte Druck auf missliebige NGOs aus und schürte den Hass auf Migranten und sexuelle Minderheiten. Hand in Hand damit verstärkte die Administration aber auch die Kritik an Korruption in den Eliten und am unpatriotischen Verhalten von Beamten und Oligarchen, die ihr Kapital ins Ausland schaffen. Populistischer Losungen und die Propagierung von Feindbildern im Verbund mit sozialer Besserstellung sollte die Akzeptanz des Regimes verbessern.
Doch das Wirtschaftswachstum war in der ersten Hälfte des Jahres 2013 so gering, dass die Finanzierung höherer Sozialleistungen nicht als realistische Option erschien. Zugleich hatte die Führung – und die mit ihr verbundene Partei »Einiges Russland« – nach wie vor mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen: die Vorstellung von »Einiges Russland« als der »Partei der Gauner und Diebe« wurde von gut und gern 30–40 % der Bevölkerung vertreten. Auch die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew waren weiterhin im Sinkflug.
Darauf entschied man sich, wie es scheint, einen anderen Ansatz zu versuchen. Die Kampagne gegen kritische Opposition wurde im Sommer 2013 für beendet erklärt, der Präsident kündigte im Gespräch mit drei hochrangigen Vertretern der Menschenrechtsbewegung eine großzügige Finanzierung für Nichtregierungsorganisationen an. Alexej Nawalnyj, Blogger und Oppositionsaktivist, wurde zwar in einem Verfahren wegen Amtsmissbrauch und Unterschlagung zwar zu fünf Jahren Haft verurteilt, dann aber auf Intervention der Staatsanwaltschaft (!) bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens auf freien Fuß gesetzt, damit er als Kandidat an den Moskauer Bürgermeisterwahlen teilnehmen konnte. Bürgermeister Sergej Sobjanin sorgte dafür, dass Abgeordnete von »Einiges Russland« Nawalnyj seine Zulassung zur Wahl zu unterstützen. Der Abstimmungsvorgang am 8. September war dann wenigstens in drei Städten – Moskau, Jekaterinburg und Petrosawodsk – so frei, dass oppositionelle Kandidaten die Wahl gewannen oder im Fall Moskau ein Drittel der Wählerstimmen erringen konnten.
Gewiss waren dies Ausnahmen – in der Mehrzahl der Kommunen und Regionen hatten oppositionelle Kräfte keine Chance –, doch stellten sich viele Beobachter die Frage, was die Administration mit dieser punktuellen Liberalisierung bezweckt haben mochte. Im Falle Moskaus ist dies erklärbar: Amtsinhaber Sobjanin war sich seines Wahlsiegs so sicher, dass er einen echten Gegenkandidaten wünschte, um seiner Wahl größere Legitimität zu verleihen. Dabei war der Ansehensgewinn Nawalnyjs wohl nicht vorhergesehen worden. In Jekaterinburg und Petrosawodsk hat »Einiges Russland« aber tatsächlich an Macht eingebüßt – und dies war sicher nicht im Sinne der örtlichen Eliten.
Es scheint fast so, als hätten die Administration (oder Teile von ihr) ein Experiment gewagt: Indem man Wahlen mit echter Konkurrenz zuließ und in Einzelfällen Siege der Gegenkandidaten ertrug, wollte man die Legitimität des Systems stärken und die eigene politische Glaubwürdigkeit erhöhen. Ein Mehr an demokratischen Verfahren würde danach die eigene Herrschaft stärken. Gewiss beinhaltet das auch die Gefahr, dass man der Opposition eine Plattform gibt, doch wird das durch den Zugewinn an öffentlicher Legitimität mehr als wett gemacht – so die Kalkulation.
Es wird im Laufe der nächsten Wochen klar werden, ob diese Rechnung aufgeht – und ob die Experimentatoren sich im eigenen Apparat durchsetzen können. Nach wie vor droht Nawalnyj eine fünfjährige Haftstrafe. Gegen Rojsman, den oppositionellen Bürgermeister in Jekaterinburg, hat die Staatsanwaltschaft bereits Verfahren wegen Freiheitsberaubung angekündigt. Wenn man in der Administration zu dem Schluss kommt, dass die Zulassung von Opposition sich nicht lohnt, dann ist die kurze Liberalisierungsphase vorbei. sollten die Umfragewerte Putins wieder steigen, das Regime an Akzeptanz gewinnen, dann ist damit zu rechnen, dass die politischen Spielräume wieder erweitert werden – solang die politische Ordnung nicht in Frage gestellt wird.