Eine vorgezogene Wahl
Die Bürgermeisterwahl in Moskau war in jeder Hinsicht überraschend.
Zum einen erfolgte sie vorzeitig, zwei Jahre früher als vorgesehen. Der 2010 eingesetzte (nicht gewählte) Sergej Sobjanin hatte nach Rücksprache mit dem Präsidenten entschieden, dass es vernünftig wäre, die Wahl im Sommer 2013 stattfinden zu lassen, da in dieser Zeit keine starke politische Aktivität zu erwarten war: Die Moskauer hatten Sobjanin noch nicht satt, die alten Parteien stellten keine große Gefahr da, und die neuen Parteien waren noch nicht stark genug. Die bekannt gewordene formelle Erlaubnis Putins zur Teilnahme Sobjanins an der Wahl erfolgte zwei Tage vor deren Ansetzung.
Zweitens konnte niemand erwarten, dass Alexej Nawalnyj, einer der Führer der »nichtsystemischen« Opposition, zu der Wahl zugelassen werden würde. In Russland gibt es den Begriff der »Systemopposition«, der die drei Parteien KPRF, LDPR und »Gerechtes Russland« beschreibt. Darüber hinaus waren Anfang 2012 – neben »Einiges Russland« – drei weitere Parteien registriert gewesen: »Jabloko«, »Patrioten Russlands« und »Rechte Sache«. Die Existenz von nur sieben Parteien erklärt sich aus den in den 2000er Jahren erfolgten gezielten Maßnahmen der Staatsmacht zur »Ordnung« des Parteiensystems, durch die sich die meisten Parteien wegen der höchst strengen Parteiengesetzgebung, die von den Parteien eine Mitgliederschaft von mindestens 50.000 verlangte, auflösen mussten. Dieses Parteiensystem repräsentiert nicht nur nicht das Spektrum politischer Interessen der Bevölkerung, sondern war auch für das Zentrum leicht zu lenken. Und obwohl Anfang 2012 die Mindestmitgliederzahl für Parteien auf ein Hundertstel verringert wurde und rund 60 neue Parteien entstanden, sind diese neuen Parteien noch schwach, und viele von ihnen nur polit-»technologische« Attrappen.
Das erklärt den Umstand, dass erneut (wie Ende der 1980er Jahre) informelle, nicht registrierte gesellschaftliche Bewegungen und einzelne Personen zur realen Opposition gegen die Staatsmacht wurden. Die Popularität dieser Personen ist in einem erheblichen Maße nicht durch die klassischen Medien, von denen ein großer Teil sich unter der Kontrolle des Staates befindet, sondern durch die sozialen Medien im Internet entstanden. Einer der bekannten Blogger, die das Regime scharf und überzeugend kritisieren, ist Alexej Nawalnyj. Er hat das herrschende Regime an einer empfindlichen Stelle getroffen – an dessen eigennützigen Interessen in der Wirtschaft. Das Regime ging daraufhin mit den gewohnten Methoden gegen ihn vor, mit massierter Kritik in den Medien und später auch mit Gerichtsverfahren. Dieses Vorgehen des Regimes hat Nawalnyj jedoch nur bekannter gemacht und sein Ansehen beim nichtkonformistischen Teil der Bevölkerung anwachsen lassen.
Die unerwartete Ansetzung der Bürgermeisterwahl in Moskau war für die politische Karriere Nawalnyjs ein Geschenk: Das Gerichtsverfahrens gab ihm die Gelegenheit, seine Bekanntheit auf die föderale Ebene auszudehnen. Er war zweifellos der einzige gefährliche Opponent, und einer, den die Staatsmacht anscheinend bei den Wahlen so nicht erwartet hatte.
So war es die dritte und wohl größte Überraschung für die Bürger des Landes, dass der Bürgermeisterkandidat Nawalnyj für die Wahlen registriert wurde. In Russland macht es ja die Gesetzgebung und die fehlende Gewaltenteilung faktisch möglich, jedem nicht genehmen Kandidaten die Registrierung zu verweigern. Bei der Bürgermeisterwahl in Moskau muss ein Kandidat die Unterstützerunterschriften von 110 Abgeordneten der kommunalen (Bezirks-)Parlamente einholen. Das entspricht sechs Prozent aller kommunalen Abgeordneten. Diese Vorschrift ist außer für Sobjanin und den KPRF-Kandidaten Iwan Melnikow für keinen der Kandidaten praktisch erfüllbar gewesen, da die 2012 gewählte kommunale Abgeordnetenschaft vor allem aus Personen besteht, die durch das Regime leicht zu lenken sind, ergänzt durch einige Vertreter der KPRF. Unter den kommunalen Abgeordneten sind zwar auch Unabhängige sowie Vertreter von »Gerechtes Russland«, LDPR und »Jabloko« zu finden; deren Anzahl ist jedoch nicht ausreichend, um die Nominierung eines entsprechenden Kandidaten zu gewährleisten. Völlig unerwartet erfolgte dann die Aufforderung der Administration an die kommunalen Abgeordneten (praktisch ein Befehl oder zumindest eine Genehmigung), ihre Unterschrift den Kandidaten Michail Degtjarjow (LDPR), Nikolaj Lewitschew (»Gerechtes Russland«), Sergej Mitrochin (»Jabloko«) und Alexej Nawalnyj (formal durch die liberale Partei »RPR-PARNAS« nominiert) zu geben.
Der Registrierungsprozess
Insgesamt hatten 41 Kandidaten eine Nominierungserklärung abgegeben. Neben den bereits genannten war Gleb Fetissow (von der Partei »Allianz der Grünen – Volkspartei«) der wichtigste der nominierten Kandidaten. Für ihn hatte es von der Administration keine Anweisung zur Unterstützung gegeben, und er konnte nur 65 Unterschriften kommunaler Abgeordneter sammeln. Die übrigen Kandidaten verzichteten entweder selbst auf eine Registrierung, oder sie wurden nicht registriert, weil sie nicht die erforderliche Unterschriftenzahl hatten vorlegen können (unter diesen übrigen hatte Swetlana Pe’unowa mit acht die meisten Unterschriften sammeln können).
Es ist bemerkenswert, dass der Kandidat Sobjanin nicht durch eine Partei nominiert wurde; er hatte sich eigenständig nominiert. Das ist auf die in Moskau verbreitete Tendenz zurückzuführen, sich von der nicht sonderlich populären Partei »Einiges Russland« abzugrenzen. Ebenso spielt der Versuch des Regimes eine Rolle, eine Neuausrichtung hin zu einer politischen Unterstützung in Form der Bewegung »Allrussische Volksfront« vorzunehmen. Außer den Unterschriften der kommunalen Abgeordneten hatte ein eigenständig nominierter Kandidat zusätzlich 73.021 Unterstützerunterschriften von Wählern einzuholen. Eine solche Unterschriftenzahl innerhalb eines Monats in der Ferienzeit zu sammeln, ist äußerst schwierig. Bei dieser Unterschriftensammlung sind aller Wahrscheinlichkeit nach administrative Ressourcen zum Einsatz gekommen.
Der Kandidat Melnikow hat die Unterschriften der Abgeordneten selbständig gesammelt, wobei 20 % der Unterschriften von Vertretern der Partei »Einiges Russland« kamen. Die übrigen vier registrierten Kandidaten haben zum Teil Unterschriften vorgelegt, die nach dem Aufruf der Administration über den Verband »Rat der kommunalen Gebietskörperschaften der Stadt Moskau« gegeben wurden. Unter anderem hat Nawalnyj 49 Unterschriften über diesen Verband bekommen. Er wurde am 17. Juli 2012 als Kandidat registriert.
Praktisch gleichzeitig mit der Registrierung Nawalnyjs wurde dieser erstinstanzlich zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Obwohl das Urteil noch nicht rechtskräftig war, wurde er im Gerichtssaal in Gewahrsam genommen (was Tradition ist, allerdings nicht aus Kraft des Gesetzes). In Moskau und anderen Städten kam es daraufhin zu spontanen Demonstrationen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft (die Staatsanwaltschaften sind in direkter Linie dem Präsidenten untergeordnet) wurde am nächsten Tag die Untersuchungshaft unter Auflagen ausgesetzt. Somit lässt sich getrost feststellen, dass die Administration ihren Kurs dahingehend änderte, Nawalnyj trotz der potentiellen Gefahren zu den Wahlen zuzulassen.
Eine mögliche Erklärung für diesen merkwürdigen Umstand ist die Absicht von Putins Team, »sich einmal Nawalnyjs Stärke (bei Wahlen) anzuschauen«, um dessen mögliche Teilnahme an weiteren Wahlen zu erwägen.
Der Wahlkampf
Wenn die Administration bis dorthin noch versucht hatte, Nawalnyjs Kampagne mit behördlicher Gewalt zu behindern (Einziehung von Wahlwerbematerialien, Nichterteilung von Genehmigungen zur Anbringung von Werbeplakaten etc.), so ging man nach der Freilassung Nawalnyjs nur im Rahmen von Gegenagitation vor.
Darüber hinaus wurde beim Wahlkampf – im Vergleich zu vorherigen Wahlen – der Einsatz administrativer Ressourcen zurückgefahren, was die vierte Überraschung bei diesen Wahlen darstellt.
Von 1996 bis 2011 ist der Einsatz administrativer Ressourcen bei Wahlen in Moskau (und in Russland insgesamt) weit und intensiv verbreitet gewesen. Er bestand insbesondere in dem Einsatz der Polizei bei der Behinderung von Wahlkampfveranstaltungen und in massiver Wahlwerbung über die Medien (unter dem Anschein einer Berichterstattung über die Arbeit einer bestimmten Partei, eines bestimmten Kandidaten oder einer von diesem geleiteten Organisation). In Moskau ist in jenen Jahren das »Luschkowsche Medienimperium« geschaffen worden: städtische, Bezirks- und Stadtteilzeitungen mit einer Gesamtauflage von 7 Millionen – ein Exemplar für jeden Wähler –, die allesamt Propaganda über die Erfolge der Administration machten und kostenlos in den Briefkästen der Wähler landeten.
Bei den Bürgermeisterwahlen 2013 sind nach dem 18. Juli keine Zwischenfälle mit der Polizei zu beobachten gewesen: Nawalnyj wurde es gestattet, seinen intensiven Wahlkampf auf den Moskauer Straßen zu veranstalten. Was die »Berichterstattung« über die Tätigkeit des geschäftsführenden Bürgermeisters Sobjanin betrifft, so fand die zwar auf den Fernsehkanälen und den Seiten der städtischen Zeitungen statt, jedoch in erheblich geringerem Maße als früher.
Der Regierung ist es jedoch nicht gelungen, ganz auf den Einsatz administrativer Wahl-»Technologien« zu verzichten. Eine Methode war die Nutzung der staatlichen Wählerdatenbank bei der Versendung von Wahlwerbebriefen Sobjanins an alle Rentner und bei der Verteilung von Lebensmittelpäckchen an diese Rentner am Vortag des Urnengangs. Wie gewohnt wurden Mitarbeiter der Sozialdienste (die sich um einsame ältere Menschen und Invaliden kümmern) eingesetzt, um deren Klientel zur Wahl zu bewegen.
Der Wahlkampfstab von Nawalnyj, der von Leonid Wolkow geleitet wurde, einem recht bekannten Oppositionspolitiker aus Jekaterinburg, hat einen für Moskau beispiellosen Wahlkampf organisiert. Der baute auf ein Engagement von Freiwilligen, von denen es dann einige Tausend gab, und darauf, dass deren Motivation ideeller und nicht materieller Natur war. Zusätzlich wurde darauf gesetzt, Gelder für den Wahlkampffonds über das Internet einzuwerben. Etliche Tausend Spenden sind bei dem Fonds eingegangen. Die Wahlkampfmethoden waren ungewöhnlich kreativ. Wichtigstes Element der Kampagne waren persönliche Treffen Nawalnyjs mit den Wählern, von denen er insgesamt rund 90 veranstaltete. Sein Wahlkampf war ausgereift, im energischen Stil amerikanischer Filme über Wahlen.
Das Ungewöhnliche dieser Wahlkampfführung hat bei der Regierung und wohl auch bei einigen Bürgern Verwunderung und Verärgerung hervorgerufen. Die staatlichen Medien unternahmen zwei Mal den Versuch, Nawalnyj Gesetzesverstöße vorzuhalten. Einmal wegen seiner ungewöhnlichen Methoden bei der Einwerbung von Wahlkampfspenden, ein anderes Mal, als eine große Menge vorschriftswidriger Wahlkampfmaterialien entdeckt wurde, die von der Gruppe »Brüder Nawalnyj« angefertigt worden waren, angeblich ohne, dass Nawalnyj selbst davon wusste. Gleichwohl haben sich diese Anschuldigungen nicht weiterentwickelt.
Der Abstimmungsprozess
Die fünfte Überraschung bestand in dem Verhalten der Regierung in Bezug auf die Stimmabgabe und die Stimmenauszählung, die abschließende Phase der Wahlen.
Bei der Vorbereitung der Stimmabgabe wurden auf Initiative der Administration – und unerwartet für die Wahlkommissionen vor Ort – in den Wahllokalen Videokameras angebracht, auf denen man den Ablauf der Stimmabgabe und der Stimmenauszählung verfolgt werden konnte. Ebenfalls auf Initiative der Administration wurde ein Drittel der Wahllokale mit speziellen Geräten (russ. Abk.: »KOIB«; dt.: »Geräte zur Verarbeitung von Stimmzetteln«) zur schnelleren Auszählung der Stimmen ausgestattet. Solche Geräte verringern die Wahrscheinlichkeit von Fälschungen.
Die lokalen Administrationen – die Präfekturen und Ortsämter in der Stadt Moskau – übernahmen eine für sie ungewohnte Rolle: Sie führten Schulungen für die Wahlkommissionen durch, die unter anderem die traditionswidrige Anweisung enthielten, sich streng an Recht und Gesetz zu halten und Wahlbeobachter nicht aus den Wahllokalen zu verweisen. Durch die Administration wurde verkündet, dass als Qualitätskriterium für die Arbeit der Wahlkommissionen nun eine möglichst geringe Zahl von Beschwerden über Unregelmäßigkeiten gelten werde (und nicht das Ergebnis für den Amtsinhaber oder die Wahlbeteiligung).
All diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass sich die Zahl der Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe und der Stimmenauszählung beträchtlich verringert haben und keine direkten Fälschungen festgestellt wurden.
Die Wahlergebnisse in Moskau weichen dieses Mal erheblich von den Prognosen der wichtigsten Meinungsforschungsinstitute (WZIOM, Lewada-Zentrum und FOM) ab, die Sobjanin über 60 % und Nawalnyj rund 20 % vorausgesagt hatten. Nach offiziellen Angaben sieht das Wahlergebnis wie folgt aus: 32,2% Wahlbeteiligung, davon 4,5% zu Hause, zum Ergebnis sehe die folgende Grafik.
Hierbei ist der Umstand bemerkenswert, dass der »nichtsystemische« und parteilose Politiker Nawalnyj um vierzig Prozent mehr Stimmen erhalten hat als alle Vertreter der Systemparteien zusammen. Das bestätigt offensichtlich die These von der Künstlichkeit des Parteiensystems in Russland, eines Parteiensystems, das wohl eher zur Vortäuschung von Wahlen geschaffen wurde.
Kritik
Ungeachtet der positiven Veränderungen, die es im Vergleich zu vorherigen Wahlen in Moskau gegeben hat, haben auch die jetzigen Wahlen für Kritik von Seiten der Anhänger Nawalnyjs sowie von Vertretern der KPRF gesorgt. Die Vertreter der KPRF haben der Administration vorgeworfen, dass der Zeitpunkt der Wahlansetzung sowie der bevorzugte Medienzugang für einen der Kandidaten insgesamt für eine ungleiche Situation der Kandidaten gesorgt haben.
Die Beschwerden der Anhänger Nawalnyjs erscheinen da begründeter. Die Wahl gilt als gültig und entschieden, wenn ein Kandidat mehr als die Hälfte der Stimmen errungen hat. Das Ergebnis für Sobjanin ist von dieser Marke lediglich 1,4 Prozentpunkte entfernt. Gleichzeitig ist der Anteil der »zu Hause« (mit mobilen Wahlurnen) abgegebenen Stimmen hoch, was zum Teil mit Hilfe administrativer Ressourcen bewerkstelligt wurde. Da man »zu Hause« überwiegend den Kandidaten der Administration wählt (was durch Wahlbeobachtung und Wahlstatistik bestätigt wird), könnte gerade dieser »administrative Nachschlag« der Stimmabgabe »zu Hause« dafür gesorgt haben, dass Sobjanin die 50%-Marke überwunden hat. Dieses Hauptargument wird von weiteren Beschwerden Nawalnyjs untermauert, von Klagen über einen bevorzugten Medienzugang (für Sobjanin), über Wählerbestechung und Verfahrensverstöße in den Wahllokalen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bürgermeisterwahlen 2013 in Moskau außergewöhnlich waren, die Folge wenn nicht einer veränderten Politik der Regierung, so zumindest einer versuchten Prüfung, wie die Reaktionen auf Wahlen mit realem Wettbewerb ausfallen – an Wahlen dieser Art hatte sich die Gesellschaft in Russland während der kurzen Post-Perestroika-Phase von 1989–1996 nicht ausreichend zu gewöhnen vermocht.
Übersetzung: Hartmut Schröder