Internetnutzung in Russland
Die Maxime, dass alles, was man über Russland liest, wahr ist und gleichzeitig nicht stimmt, lässt sich auf Russlands Haltung zum Cyber-Raum ganz wie auf andere, traditionellere Bereiche anwenden. Widersprüche treten nicht nur zwischen ordnungspolitischen Vorstellungen zur Internetsicherheit und der tatsächlichen Praxis zutage, sondern auch zwischen den verschiedenen Ordnungspolitiken selbst.
Die in mancherorts bestehende Wahrnehmung von drakonischer Zensur und grober Regulierung muss im Kontext der relativen Liberalität des Internet gesehen werden, die auf andere Medien ausstrahlt. Andererseits muss die Wahrnehmung des Internet als gefährliches, die Russen aktivierendes Instrument berücksichtigen, dass viele Nutzer vor allem an sozialen und wirtschaftlichen Vorteilen des Internet interessiert sind.
Die Nutzung des Internet boomt weiter. Eine solide Mehrheit der Bürger Russlands sind jetzt Internetnutzer, und die Nutzung breitet sich schnell über den ursprünglichen Kern junger Städter hinweg auf andere demographische Gruppen aus. Die Nutzung der sozialen Medien ist – bei ihrer Relevanz für Fragen der russischen Staatssicherheit – intensiv: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2012 sind 82 % der Internetnutzer in den sozialen Medien aktiv, einer anderen Umfrage zu Folge ist unter den 18- bis 24-jährigen die Nutzung der sozialen Medien »beinahe universell«. Vielzitierte Zahlen von 2011 lassen Russland bei der für soziales Networking online verbrachten Zeit hinter Israel auf dem zweiten Platz rangieren.
Die frühere Wahrnehmung, dass Online-Medien weit weniger Bedeutung haben als Fernsehen und Presse ist nicht mehr zutreffend. Nach einer Zeit relativer Vernachlässigung haben führende Unternehmer (unter anderem solche mit engen Verbindungen zur derzeitigen Führung) in den letzten Jahren Kontrollpakete bei wichtigen russischen Internetressourcen erworben. Daneben haben Fernsehverantwortliche angedeutet, dass die jüngste erhöhte Flexibilität und die Bereitschaft, kontroverse Themen zu senden, einen Versuch darstellt, den Abwanderungstrend jüngerer Russen vom Fernsehen hin zum Internet zu bremsen.
Das Internet als Bedrohung
Wie in anderen Staaten auch nehmen die meisten Russen die Auswirkungen des Internet eher in wirtschaftlichen und sozialen Kategorien wahr, denn als Mittel zur politischen Aktivierung. Die intensive Aufmerksamkeit für die Rolle des Internet bei der Unterstützung der Proteste gegen die Wahlergebnisse von 2011/2012 verhüllte zwei wichtige Faktoren. Zum einen liegen in fast allen Fällen, bei denen das Internet zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung eingesetzt wird (selbst bei intensiv publiziertem Graswurzel-Engagement), die wichtigsten Vorteile eher in einer Verbesserung stark themengebundener und lokaler Situationen, als in irgendeiner Herausforderung an die Obrigkeit. Zweitens verleiht das Internet allen möglichen Richtungen eine Stimme, nicht nur den Aktivisten für liberale Demokratie. Trotzdem sind einige Teile der Regierung zuriefst besorgt. Neben den häufigen, sich alarmiert zeigenden Verlautbarungen, dass Materialien online platziert werden, die in jedem anderen Land illegal wären, gibt es eine Reihe von Kommentaren der Russischen Sicherheitsbehörden, in denen die sozialen Medien als eine Bedrohung für die ganze Gesellschaft betrachtet werden.
Die Sprache, mit der das Problem der sozialen Medien beschrieben wird, ist oft gefühlsgeladen. Laut Aussagen von Leonid Reschetnikow, dem Direktor des Russischen Instituts für Strategische Studien (RISI), und eines ehemaligen stellvertretenden Direktors des Auslandsgeheimdienstes SWR »findet [durch soziale Medien] eine bewusste und unbewusste Zerstörung aller traditionellen Lebensweisen statt.«
Wie es Generalmajor Alexej Moschkow vom Innenministerium Ende 2011 ausdrückte, »bringen soziale Netzwerke neben Vorteilen oft auch eine potentielle Gefahr für die Grundlagen der Gesellschaft mit sich«. Natürlich werden ausländische Kräfte am Werk gesehen, beispielsweise Anfang 2012 in einem Kommentar des Ersten stellvertretenden Direktors des FSB: »Von den westlichen Geheimdiensten werden neue Methoden eingesetzt, die fortgesetzte gesellschaftliche Spannungen erzeugen und aufrechterhalten sollen, und hinter denen ernstzunehmende Absichten stecken, die bis hin zum Regimewechsel reichen.«
Diese Alarmiertheit, die die Sicherheitsdienste äußern, ist keine neue Sorge, die erst mit dem Aufstieg der sozialen Medien Einzug gehalten hätte; sie ist seit den ersten Debatten zu dieser Frage Mitte der 1990er Jahre, als der FSB das gesamte Internet als Bedrohung für die Nationale Sicherheit Russlands betrachtete, ein beharrliches Narrativ gewesen. Seitdem ist es ein stetes Argument gewesen, dass eine russische Verbindung zum »weltweiten Informationsraum […] ohne eine umfassende Lösung der Probleme bei der Informationssicherheit unmöglich ist«.
Die Einschätzung, dass die politischen Veränderungen in Nordafrika während des arabischen Frühlings das Ergebnis eines Informationskrieges und einer Cyber-Verschwörung des Westen waren, die nun gegen Russland gerichtet werden, nährten zusätzlich den Verdacht eines konzertierten ausländischen Vorgehens während der Proteste gegen die Wahlen. Und es wurde dann mit einer Analyse der Rolle sozialer Medien beim Bürgerkrieg in Libyen begründet. Diese hatte ergeben, dass soziale Medien nicht nur für Spionage, Umsturzversuche und Umgehung von Kommunikationsbeschränkungen eingesetzt werden könnten, wie es die Geheimdienste in Russland annahmen, sondern auch für andere Instrumente zum Regimewechsel, bis hin zur Bereitstellung von Zielinformationen für Luftangriffe. Eine Einschätzung der russischen Sorgen über einen »Missbrauch« sozialer Medien muss den Kontext dieser Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung berücksichtigen.
Antworten der Sicherheitsbehörden
Die wichtigsten Tendenzen, die in der russischen Netzpolitik auf nationaler wie internationaler Ebene erkennbar sind, sind mit Versuchen zur Eindämmung dieser empfundenen Bedrohung verbunden.
Im Lande selbst hat eine Anzahl weitgehend kurzlebiger Initiativen wie der »Ring patriotischer Ressourcen« und die »Schule der Blogger und Patrioten« jüngst den Weg zu zielgerichteten Investitionen bereitet, mit denen soziale Medien und sowohl automatisierte wie auch menschliche Beeinflussung von Inhalten analysiert werden sollen. Darüber hinaus planen einige staatsnahe Medien eine erhebliche Expansion ins Online-Geschäft, wobei sie mit beeindruckenden Gehaltsangeboten journalistische Talente von bestehenden Anbietern abzuwerben versuchen. Der Erwerb von Schlüsselanteilen bei großen Websites durch die oben erwähnten kremlfreundlichen Unternehmen gibt der Regierung potentiell Einflussmöglichkeiten über deren Inhalt an die Hand.
Es gibt eine Reihe von Gesetzen, die die Nutzung des Internet regulieren. Sowohl das Gesetz zum Schutz von geistigem Eigentum im Internet von 2013, als auch die »Schwarze Liste« von 2012, durch die ein »Allgemeines Register« von Websites geschaffen wurde, die wegen vermeintlicher Gefährdung von Minderjährigen gesperrt sind, wurden von Aktivisten und ausländischen Medien als staatliche Versuche dargestellt, eine Internetzensur nach wirtschaftlichen und moralischen Gesichtspunkten einzuführen, auch eine (potentielle) Zensur von Anbietern sozialer Meiden. Die Furcht vor weitreichenden Befugnissen zur Entfernung anstößiger Inhalte aus dem Internet sind zwar nicht Fehl am Platze, erfolgten aber vielleicht zum falschen Zeitpunkt: Diese Möglichkeiten hatten der russischen Regierung bereits auf einer Anzahl rechtlicher und regulativer Wege zur Verfügung gestanden. Gemäß dem Föderalen Gesetz über die Polizei von 2011 können Internetdienstleister dazu angewiesen werden, eine Internetressource wegen des Verdachts abzuschalten, dass »Bedingungen geschaffen werden, die das Begehen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit begünstigen«, und zwar ohne, dass die Polizei dazu einen Gerichtsbeschluss einholen muss. Laut den russischen Vorschriften für Domänennamen »kann die registrierende Stelle die Zuweisung eines Domänennamens auf der Grundlage eines schriftlichen Beschlusses [eines hohen Sicherheitsbeamten] beenden«, ohne, dass eine juristische Aufsicht erforderlich wäre.
Ungeachtet aller Vorwürfe, dass das Allgemeine Register dazu eingesetzt werde, regierungskritische Ansichten zu zensieren oder zu unterdrücken, erfolgt die lauteste Kritik durch jene, die betonen, dass das ein stumpfes Instrument sei, dessen mangelhafte Umsetzung ernstliche unbeabsichtigte Konsequenzen hat, etwa die Sperrung von Youtube, weil eine Videoanleitung für ein Zombie-Make-Up als Werbung zur Selbstverstümmelung interpretiert wurde. In einem anderen Fall ist die Suchmaschine Yandex am 30. April 2013 für nahezu 30 Minuten nicht aufrufbar gewesen, weil sie aus Versehen in das Register aufgenommen worden war.
Diese Kritik ist oft an das Ministerium für Massenkommunikation und das Fernmeldewesen gerichtet, da es letztendlich die Aufsicht über das Register hat. Die Reaktionen des Ministeriums, längst nicht in der harten Linie, die von Russlandkritikern oft angenommen wird, bestanden darin, die Internetindustrie zu einer Selbstregulierung aufzurufen, wozu das Allgemeine Register eines der Instrumente sei. Darüber hinaus sollte nicht dem Ministerium die Verantwortung angelastet werden, da es lediglich ein Föderales Gesetz und nicht etwa eigene Vorschriften umsetze.
Dieses Abwälzen von Verantwortung ist bezeichnend für eine Spaltung nicht nur unter den verschiedenen Behörden der Regierung und der Sicherheitsstrukturen, sondern sogar innerhalb einzelner Ministerien. Beamte aus verschiedenen Behörden und Gremien, etwa aus dem Außenministerium, dem Innenministerium, dem Kommunikationsministerium, dem FSB, dem Sicherheitsrat und der Präsidialadministration (wobei die beiden letzten sich durch ihre akademischen Ableger, das Institut für Fragen der Internetsicherheit bzw. das Institut für strategische Studien, zu Wort melden) geben sich diametral widersprechende politische Statements zur Rolle des Internet ab, insbesondere zu den Grenzen der Meinungsfreiheit dort. Aus diesem und anderen Gründen warten Unternehmen in Russland gespannt auf die angekündigte Strategie zur Internetsicherheit, von der man sich erhofft, dass sie zumindest einige der umstrittensten Fragen klärt.
Die Strategie wird, und das ist ungewöhnlich und vielleicht einmalig bei Strategiepapieren in Russland, von etwas ausgearbeitet, das einer echten Gruppe mit vielen unterschiedlichen Stakeholdern zumindest nahekommt. Den Vorsitz hat ein Mitglied des Föderationsrates, zu der Gruppe gehören auch Vertreter der Industrie.
Auf internationaler Ebene, wirbt Russland weiterhin für seine Sicht eines globalen Abkommens über Grundsätze der Informationssicherheit.
Diese langwährende Kampagne erlebte Ende 2011 eine plötzliche Intensivierung der Anstrengungen, wobei sowohl ein Konventionsentwurf zur internationalen Informationssicherheit, als auch (gemeinsam mit China) ein Internationaler Verhaltenskodex zur Informationssicherheit bei den Vereinten Nationen eingebracht wurden.
Die in diesen Dokumenten enthaltenen Bestimmungen werfen zwei Fragen auf. Zum einen sind sie in einigen Schlüsselbereichen wie der Frage des »nationalen Informationsraums« (auch als Netzsouveränität bezeichnet), bei staatlichem Internetmanagement und -verwaltung sowie bei den Bedrohungen durch feindliche Inhalte und Codes nicht mit den westlichen Prinzipien kongruent. Andererseits reiben sie sich auch mit der täglichen Arbeit russischer kommerzieller Internetdienstleister und der für Domänennamen zuständigen Behörden, die tagtäglich daran arbeiten, einen freien und ungehinderten Informationsfluss über nationale Grenzen hinweg zu gewährleisten; aus dem einfachen Grund, dass das Internet im realen Leben heute so funktioniert – anders, als einige Teile der russischen Sicherheitseliten es funktionieren lassen wollen. Dennoch muss das Ausmaß, in dem die russischen Initiativen international auf Unterstützung trifft, ernst genommen werden, nicht nur die der ähnlich gesinnten Nachbarn Russlands in der OVKS und der SOZ, sondern auch die einer Reihe andere Staaten, die normalerweise nicht als große Internet-Akteure gelten, aber russische und chinesische Befürchtungen vor dem Destabilisierungspotential des Internet teilen.
Ein Beispiel: VK
Die Grenzen zwischen gut gemeinter Regulierung und offizieller Einmischung zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit sind manchmal unscharf. Bezeichnend ist der Fall von VK (ehemals »W Kontakte«), das bei den russischen sozialen Medien eine führende Position einnimmt, und dessen Geschäftsführer für seinen Widerstand gegen den Druck der Sicherheitsdienste bekannt ist. Die täglichen Besucherzahlen von VK liegen im gleichen Bereich, wie die Zuschauerzahlen des staatlichen Ersten Fernsehkanals.
Nach der Schließung von russischen File-Sharing-Websites als Reaktion auf Initiativen zum Schutz geistigen Eigentums war VK als wichtigster Ort zum Austausch schwarz kopierter Musik und Filme betrachtet worden. Nachdem im Juli 2013 das Gesetz gegen Internetpiraterie unterzeichnet wurde, startete VK eine forsche Löschkampagne, durch die seine Attraktivität als Forum zur freien Weitergabe urheberrechtlich geschützten Materials für viele Nutzer beendet wurde.
Da das neue Gesetz die Websitebesitzer für Urheberrechtsverletzungen verantwortlich hält, kann diese Maßnahme als direkte Antwort des Unternehmens zur Reduzierung der Haftbarkeit verstanden werden. Die Schnelligkeit und Gründlichkeit der Reaktion wurde auch als Reaktion auf den zunehmenden Druck auf Unternehmensgründer Pawel Durow interpretiert. Zu diesem Druck gehörte nicht nur ein Wechsel von Anteilseignern in seinem Unternehmen, sondern auch Ereignisse, die vordergründig nichts damit zu tun hatten, etwa die Stürmung der Geschäftsräume von VK durch die Polizei im April 2013, nachdem Durow beschuldigt worden war, einen Polizeioffizier mit einem Auto verletzt zu haben, das ihm angeblich nicht gehörte. Wie in früheren Zeiten bei den traditionellen Medien, könnte eine direkte Zensur des Internet überflüssig werden, wenn die Behörden über andere Möglichkeiten verfügen, um die Folgsamkeit zu erhöhen.
Schlussfolgerungen
Die während der Verfassung dieses Beitrags erfolgte Ankündigung, dass russische Sicherheitsstrukturen Schreibmaschinen kauften, um sich vor elektronischen Eingriffen zu schützen, ist im Grunde nichts Neues. Trotz des Aufsehens in den Medien, wo die Ankündigung mit den Enthüllungen über die Fähigkeiten und den Aktionsradius von NSA und GCHQ in Verbindung gebracht wurde, spiegelt sie in Wirklichkeit eine hartnäckige und seit langem bestehende zugespitzte Wahrnehmung der Risiken wieder, die sich durch Online-Aktivitäten und die Tatsache ergeben, dass das Internet sowohl verwundbar macht, als auch Möglichkeiten schafft. Gleichwohl herrscht Verwirrung über die Vorstellungen zur Internetsicherheit innerhalb der Russischen Führung, zum Teil durch die Sicherheitsdienste, die in einer neuen Wirklichkeit alte Ansätze zur Informationssicherheit verfolgen. Die Dissonanz zwischen diesem Sicherheitsansatz und dem der Industrie und der gewöhnlichen Internetnutzer, die eine gänzlich andere Wahrnehmung des Internetraumes haben, findet in der unterschiedlichen Sprache seinen Ausdruck, mit der das Problem beschrieben wird.
Deutlich wird das durch eine fortgesetzte Konfrontation zwischen den alten Konzepten von »Informationssicherheit«, der die Sicherheitsdienste und Teile des Außenministeriums anhängen, sowie von »Netzsicherheit«, einem Begriff, der von Industrie, Nutzern und unter anderem Außenminister Lawrow verwendet wird. Darüber hinaus spiegelt sie sich deutlich in der Unfähigkeit des Russischen wieder, einige libertäre ausländische Begriffe auszudrücken, was zu uneleganten Lehnübersetzungen und barbarischen Direktentlehnungen wie »multistejkcholderism« [etwa: »Multistakeholderismus«] führt.
Gleichzeitig ist die Art, in der die Online-Meinungsfreiheit in Russland kontrolliert wird, subtiler und nuancierter als eine Zensur mit harter Hand, wie sie im Ausland oft beschrieben wird. Und es wäre verfehlt zu behaupten, dass es das alleinige Ziel der jüngsten juristischen Initiativen sei, abweichende Meinungen zu unterdrücken. Bislang sind die meisten Internetnutzer in Bezug auf eine Einmischung in ihre Online-Aktivität unbesorgt.
Übersetzung: Hartmut Schröder