Das Gesetz über »ausländische Agenten« und die NGOs
Die Verabschiedung und Umsetzung der Gesetzgebung über »ausländische Agenten«, die seit 2012 die nichtkommerziellen Organisationen (NKO – im Text weiter NGOs) in Russland erschüttert, wird meist als Reaktion des politischen Regimes auf die gesellschaftlichen Proteste und die Mobilisierung der Bürger nach den manipulierten Wahlen von 2011/12 erklärt. Diese Argumentation, die bis zu einer expliziten Furcht vor einer orangen oder andersfarbigen Revolution reicht, ist auch oft in Reden von Regimevertretern zu hören. Ein anderes Argument verweist auf die internationale Politik und erklärt diese Kampagne gegen eine ausländische Finanzierung für nichtkommerzielle Organisationen in Russland mit einem notwendigen Schutz der Souveränität und Unabhängigkeit des Landes gegenüber ausländischem Einfluss.
Dabei orientieren sich die NGOs in Russland weder an dem einen, noch an dem anderen Ziel. Sie bereiten nicht nur keinerlei Revolution vor, sie nehmen überhaupt nur selten an Protesten teil. Die Demonstrationen und Versammlungen 2011/2012 wurden von ihnen weder organisiert, noch haben sie sich daran beteiligt. So ist dieses Thema auf dem alljährlichen Forum »Soziales Petersburg«, auf dem sich im Dezember 2011 Vertreter Petersburger NGOs versammelten, bei den Diskussionen kein einziges Mal angesprochen worden. Selbstverständlich sind viele Mitglieder von NGOs als Einzelpersonen zu den Demonstrationen gegangen, doch das vor allem als Bürger und nicht als Vertreter ihrer Organisationen. Symbole und Flaggen von NGOs sind auf den Versammlungen nur selten zu entdecken gewesen, und auch dann wurden sie von einzelnen Bürgern, und nicht durch Organisationen getragen.
Ebenso werden nur selten NGOs gegründet, die zu außenpolitischen Fragen arbeiten. Die Rolle der NGOs in der internationalen Politik ist recht schwach; und das gilt umso mehr für NGOs aus Russland. Der Umstand, dass sie zur Durchführung von sozialen, Umwelt- und Menschenrechtsprojekten eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten, bedeutet keine Einschränkung der staatlichen Souveränität, wenn diese als »Eigenschaft des Staates« definiert wird, »auf dem eigenen Staatsgebiet und außerhalb von diesem, im internationalen Verkehr, selbständig und unabhängig von der Macht anderer Staaten seine Funktionen auszuüben« (Verfassungsrecht Russlands. Ein Lehrbuch für die Hochschule [russ.]; <http://www.biblio tekar.ru/konstitucionnoe-pravo-4/24.htm>). Die Fähigkeit der russischen Behörden und des Staates als Ganzes zur Erfüllung ihrer Funktionen wird durch die Tätigkeit einer NGO – auch wenn diese eine ausländische Finanzierung erhält – nicht eingeschränkt. Mehr noch: Beim Schutz der Rechte der Bürger des Landes tragen NGOs zu einer verbesserten Umsetzung staatlicher Politik im Rahmen der Verfassung der Russischen Föderation bei.
Unbeschadet der klaren Haltlosigkeit dieser Argumente ist nicht ausgeschlossen, dass diejenigen, die die derzeitige Politik gegenüber NGOs entworfen haben und sie umsetzen, an diese Argumente glauben; wie auch ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung daran glaubt und diese Politik unterstützt. Das Problem ist, dass diese Politik weniger als Antwort auf nicht existierende Bedrohungen schädlich ist, denn als Revision des früher bestehenden Beziehungsmodells zwischen Staat und NGOs, und sogar des Organisationsmodells der Sozialpolitik. Das gefährdet die Lebensfähigkeit der NGOs sowie die Grundlagen, die sie zur Erfüllung ihrer Funktionen in der Zivilgesellschaft und in der Sozialpolitik benötigen.
Wir werden in diesem Beitrag aufzeigen, warum NGOs gebraucht werden, d. h. welche Funktionen NGOs in den Bereichen Zivilgesellschaft und Sozialpolitik ausüben, wie sich die Modelle dort derzeit in verschiedenen Ländern entwickeln. Auf dieser Grundlage können wir dann das Modell in Russland und dessen Entwicklung einordnen. Anschließend werden dann auch die Folgen angesprochen, die die Wende in der Politik gegenüber NGOs mit sich bringt – sowohl für die Zivilgesellschaft, als auch für die Sozialpolitik.
Wozu NGOs gebraucht werden: ihre Funktionen in der Zivilgesellschaft
Die Rolle der NGOs in der Zivilgesellschaft ist in der Politikwissenschaft eingehend beschrieben worden. Durch die Arbeit mit verschiedenen sozialen Gruppen können NGOs zwischen diesen und dem Staat eine Mittlerrolle übernehmen. Das ist ein zusätzlicher Mechanismus zur Vertretung partikularer Interessen vor dem Hintergrund der allgemeinen Vertretung der Gesamtinteressen über Wahlen. Darüber hinaus übernehmen sie eine Feed-Back-Funktion, indem sie dem Staat und der Gesellschaft Hinweise auf nicht gelöste oder nicht ausreichend gut gelöste Probleme geben.
Dieses Potential der NGOs ist auf die Vorstellung zurückzuführen, dass sie die Grundinstitutionen der Zivilgesellschaft darstellen, einer Gesellschaft, die dem Staat vorangeht und daher in der Lage ist, dessen Arbeit zu kontrollieren und zu korrigieren. Für die meisten Theorien zur Zivilgesellschaft ist die Rolle freier Zusammenschlüsse von Bürgern (die nicht immer, aber sehr oft in der Form von NGOs arbeiten) von prinzipieller Bedeutung. Sie vertreten die Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen und lösen gesellschaftliche Probleme. Darüber hinaus ist heute belegt, dass sie nicht nur die Demokratieentwicklung fördern, sondern auch gute Regierungsführung, vor allem durch den Aufbau von Vertrauen in den verschiedenen Communities.
Dieses Verständnis von NGOs drückt sich in der Praxis dadurch aus, dass NGOs sowohl aus eigener Initiative, als auch auf Einladung von Staatsorganen der verschiedensten Ebenen in unterschiedlicher Form an der Vorbereitung politischer Entscheidungen mitwirken und Einfluss auf diese ausüben. Somit nehmen sie auf natürliche Weise an öffentlicher Politik teil.
Die Art und Weise, in der die Gesetzgebung über »ausländische Agenten« in der Praxis rechtlich umgesetzt wird, bedeutet eine Revision dieser Vorstellung und eine »Entpolitisierung« der NGOs. Dieser Prozess ist auf die Definition von »politischer Tätigkeit« zurückzuführen, die erstmals juristisch in der Gesetzgebung Russlands eingeführt wurde. Hierunter wird die Beteiligung »an der Organisierung und Durchführung von politischen Aktionen« verstanden, »die die Entscheidungen staatlicher Organe oder die von diesen durchgeführte staatliche Politik beeinflussen sollen, oder an der Bildung der öffentlichen Meinung zu diesem Zwecke« Diese weitgefasste Definition wird durch Beschlüsse der Staatsanwaltschaft untermauert, die zu den Ergebnissen der Überprüfungen von NGOs eine Vielzahl von »Anweisungen« und »Verwarnungen« formuliert hat. In ihnen werden unter dem Begriff »politische Tätigkeit« über 50 Arten der Betätigung gefasst, die mit der öffentlichen Arbeit von NGOs und deren Vertretern zusammenhängen. So wurden beispielsweise folgende Aspekte zur politischen Tätigkeit gerechnet: »Durchführungen von Aktionen zum Schutz der Umwelt, Auftritte auf Konferenzen und Forderungen an Behördenvertreter« (Ökologische Baikalwelle, Irkutsk), »Förderung der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Russland und Festigung der demokratischen Prinzipien im Leben der russischen Gesellschaft« (Institut zur Entwicklung der Presse – Sibirien, Nowosibirsk), »Expertisen zur Gesetzgebung, Veröffentlichung eines Sammelbandes von Studien« (Zentrum für Sozialpolitik und Genderforschung, Saratow) etc.
Das Problem liegt jedoch nicht in dieser Interpretation. Es besteht vielmehr darin, dass die neue Gesetzgebung bei einer ausländischen Finanzierung von irgendeinem Umfang zu Gunsten irgendeines Projektes die GESAMTE öffentliche Tätigkeit der NGO und ihrer Vertreter als im Interesse »ausländischer Staaten« stehend annimmt. In dieser Situation argumentieren NGOs im Falle einer ausländischen Finanzierung – um nicht als »ausländische Agenten« eingestuft zu werden – nun öffentlich und vor Gericht, dass sie keine »politische Tätigkeit« betrieben. Das würde ihnen die seit 2001 in der Gesetzgebung Russlands bestehende juristische Unterscheidung »politischen Parteien« erlauben, der zufolge diese auf die Teilnahme an Wahlen ausgerichtet sind, und von der Kategorie nichtpolitischer gesellschaftlicher Organisationen abzugrenzen sind. Dadurch hat sich in der Praxis und im Bewusstsein vieler NGOs ein solches, »enges« Verständnis von »Politik« niedergeschlagen, von Politik, an der sie sich nicht beteiligen.
»Politische Tätigkeit« wird aber nun weiter gefasst, und die NGOs sind genötigt, ihre Beteiligung an ihr abzustreiten. Die »Beeinflussung der staatlichen Politik« ist nun aber gerade jene Funktion, die eine NGO in der Zivilgesellschaft erfüllen soll. Eine Leugnung führt zu einer diskursiven und praktischen Abwertung dieser Funktion der NGOs, ja zu einem Verzicht darauf. Es bedeutet praktisch, dass die Vertretung der Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen und die Gewährleistung eines Feed-Back nicht mehr als unabdingbare und naturgemäße Funktion von NGOs angesehen werden, die zweifellos ein Teil von »politischer Tätigkeit« ist. Diese Leugnung und Abwertung von NGOs ist höchst gefährlich, da sie zu einer Verengung des öffentlichen Raumes führt und das Recht auf eine Beteiligung dort nur Parteien und Politikern während der Wahlen zugebilligt wird, es also zu einer »Entpolitisierung« des öffentlichen Raumes kommt. Bislang geschieht das nur auf der diskursiven Ebene. Falls jedoch die Verfolgung der NGOs wegen ihrer politischen Tätigkeit fortgeführt wird, könnte es Realität werden.
Wozu NGOs gebraucht werden: ihre Funktionen in der Sozialpolitik
Die zweite wichtige Funktion der NGOs ist ihre Beteiligung bei der Ausarbeitung und auch bei der Umsetzung der Sozialpolitik. Der Sozialstaatstheorie zufolge sind nicht nur staatliche Organe Produzenten des Gemeinwohls (darunter sozialer Dienstleistungen), sondern auch der Markt, die Familie, Zusammenschlüsse von Bürgern, also NGOs. Dabei wird die Rolle der NGOs in letzter Zeit immer deutlicher spürbar: Durch die Entwicklung der Dienstleistungswirtschaft und eine Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme hat das Know-How und die Zahlenstärke des NGO-Sektors in den meisten Ländern Westeuropas beträchtlich zugenommen, wenn auch unterschiedlich stark.
Heute werden drei Grundmodelle des Sozialstaates unterschieden, die über die Aufgaben und Beziehungen definiert werden, die im Bereich der Sozialpolitik zwischen Staat, Markt und gesellschaftlichen Institutionen (vor allem Familie und NGOs) bestehen: ein liberales, sozialdemokratisches und ein konservatives. Um zu verstehen, wie sich die veränderte Lage der NGOs in Russland auf das Sozialsystem des Landes auswirkt, müssen die NGOs genauer betrachtet und das russische Modell sowie seine gegenwärtige Transformation beschrieben werden.
Für das liberale Modell (in den angelsächsischen Ländern) ist eine minimale Gewährung sozialer Garantien durch den Staat kennzeichnend, sowie die erhebliche Rolle von Investitionen der Bürger in diesen Bereich (obligatorische Krankenversicherung in den USA, Entwicklung der Wohlfahrtsinstrumente in Großbritannien). Bei diesem Modell ist die Rolle der NGOs groß: Sie sind die wichtigsten Anbieter sozialer Leistungen, suchen nach Finanzierungsmöglichkeiten und mobilisieren gesellschaftliche Ressourcen zur Lösung sozialer Probleme. Mit steuerlichen, gesetzlichen und ideologischen Instrumenten schafft der Staat günstige Entwicklungsbedingungen für NGOs, private Stiftungen und die Einbeziehung der Bürger und ihrer Ressourcen in die Arbeit der NGOs.
Das konservative neokorporatistische Modell (Kontinentaleuropa) sieht eine Aufteilung der Zuständigkeiten vor – zwischen dem Staat, der die Sozialprogramme und Projekte finanziert, und dem Non-Profit-Sektor, der sie umsetzt. Hier ist die Rolle der NGOs ebenfalls groß, doch besteht das Besondere darin, dass sie hauptsächlich mit Hilfe staatlicher Finanzierung und Förderung existieren. Schlüsselelement dieses Modells sind die starken Strukturen der Selbstverwaltung bei den NGOs, die sie davor bewahren, gegenüber dem Staat in eine Abhängigkeitssituation zu geraten, selbst wenn ein beträchtlicher Anteil staatlicher Finanzierung besteht.
Beim sozialdemokratischen Modell (skandinavische Länder) finanziert der Staat nicht nur die Sozialprogramme, sondern setzt sie auch um, wobei einem nicht besonders großen Non-Profit-Sektor die Rolle des »Feed-Back-Providers« zukommt. Das bedeutet, dass die Funktionen der NGOs vor allem darin bestehen, die Interessen der verschiedenen Gruppen der Zivilgesellschaft zu vertreten, während die Sozialpolitik hauptsächlich durch den Staat mit Hilfe staatlicher und kommunaler Einrichtungen umgesetzt wird.
Die in den sozialistischen Ländern betriebene staatliche Sozialpolitik wird bisweilen als Sondermodell bezeichnet: Sie wird von staatlichen Einrichtungen umgesetzt, wobei NGOs nur eine schaustellerische Rolle innehatten, mit Ausnahme einiger Mittler zwischen Staat und besonderen sozialen Gruppen.
NGOs können somit unterschiedliche Rollen in der Sozialpolitik ausfüllen; von besonderer Bedeutung sind sie jedoch für die Sozialpolitik in kapitalistischen Staaten. Daher haben diese Modelle wegen der in den vergangenen zwei Jahrzehnten erfolgten allgemeinen globalen Liberalisierung der Wirtschaft allesamt die neoliberale Tendenzen zu spüren bekommen. Unter anderem macht sich das in einer Kürzung der staatlichen Sozialausgaben bemerkbar, sowie in einem Ausbau von Umsetzungsmechanismen für Sozialprogramme, die auf NGOs und den Markt setzen. Diese Prozesse lösen empfindliche Reaktionen aus, beispielsweise in Deutschland, wo die Bevölkerung und die NGOs nicht sonderlich zu einer Kürzung der staatlichen Ausgaben und zu eigenem Engagement bei der Suche nach Ressourcen bereit scheinen.
Russland ist in dieser Transformationswelle keine Ausnahme. Auch hier waren viele Sozialreformen des letzten Jahrzehnts auf ein liberalisiertes Modell seiner Sozialpolitik ausgerichtet.
Umbau des Sozialstaatsmodells in Russland
Die russischen Reformen Anfang der 2000er Jahre hatten – wie auch die Verwaltungsreform, die Umwandlung der Vergünstigungen in Geldleistungen, die Reformen des Rentensystems und im Haushaltsbereich – das Ziel, die ordnungspolitischen Grundsätze der Sozialpolitik zu revidieren und eine Neuverteilung der Aufgaben zwischen Staat, Markt und Gesellschaft vorzunehmen. Einerseits waren diese Reformen auf eine veränderte Rolle des Staates ausgerichtet, weg von der Position eines Monopolisten bei der Bereitstellung sozialer Leistungen hin zu der eines Moderators der Mechanismen von Markt und Gesellschaft. Andererseits sollten sie eine stärkere Rolle der Bürger als Käufer von Dienstleistungen mit sich bringen, wie auch zu einem Ausbau ihrer sozialen Aufgaben mittels Freiwilligen- und karitativer Arbeit in NGOs führen.
Im Rahmen dieser Reformen ist in Bezug auf NGOs in den letzten Jahren eine Reihe von Gesetzen über NGOs im Sozialbereich verabschiedet worden, die eine besondere Förderung durch den Staat erhalten. Diese Entwicklung erfolgte parallel zu den Reformen im Haushaltsbereich (die eine Umformatierung ehemaliger staatlicher Einrichtung in nichtkommerzielle Organisationen (NKO/NGOs) und eine Verringerung der staatlichen Finanzierung bei jenen Leistungen ermöglichen, die nicht zur Grundversorgung gehören). Die Rechnung besteht hier darin, einen Teil der der sozialen Verpflichtungen nicht nur dem Markt zu übertragen, sondern auch den NGOs. So sind Anfang 2012 in St. Petersburg im Rahmen der Reformen 31 staatliche Einrichtungen umgewandelt worden. Gleichzeitig sind Ausschreibungen für NGOs aus dem Sozialbereich vorangetrieben worden. Staatliche Aufträge an Kleinunternehmen und NGOs nehmen zu (15 % der staatlichen Aufträge). Auch sind geringe steuerliche Vergünstigungen für karitative Arbeit eingeführt worden.
Durch die Umsetzung der Gesetzgebung zu NGOs, die im Sozialbereich arbeiten, und durch die Reformen im Haushaltsbereich versucht die Regierung, das aus sowjetischer Zeit geerbte System einer rundum staatlichen Sozialversorgung zu verändern. Indem ein Teil der Pflichten den Bürgern aufgebürdet wird (Förderung der Wohltätigkeit, individuelle Sozialversicherung, Wohnungseigentümergemeinschaften etc.), die Monopolrolle des Staates bei der Sozialversorgung verringert wird, und NGOs mit einbezogen werden, bieten die Behörden nicht mehr nur Leistungen, sondern moderieren die Politik. Sie regulieren den Markt der sozialen Dienstleistungen, führen Ausschreibungen zur Umsetzung sozialer Projekte durch usw. Somit wird das staatliche Sozialstaatsmodell in ein liberales transformiert.
Die neue Gesetzgebung über NGOs als »ausländische Agenten« wird allerdings in einer gänzlich anderen Logik umgesetzt, wodurch sich auch die Ausrichtung der Transformation hin zu einem liberalen Modell ändert. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Überprüfungen und dann Gerichtsverfahren gegen eine Reihe von NGOs in den Augen von Gesellschaft, Unternehmen und Behörden zu einem ernstlichen Ansehensverlust für den gesamten Sektor geführt haben – und somit zu einer Schwächung der organisatorischen und finanziellen Stabilität von NGOs. Viele der erfahrensten und professionellsten NGOs werden genötigt sein, ihre Organisation zu schließen, oder sie haben bereits ihre Arbeit eingestellt oder eingeschränkt. Dadurch verringern die Aufsichts- und Sicherheitsbehörden die Entwicklungsmöglichkeiten jener, die das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung bereits als »Assistenten« des Staates bei der Umsetzung von Sozialprogrammen ausgemacht hatte.
Das bedeutet, dass die vorherige »Gesellschaftsvertrag« zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Russland in Bezug auf das sozialpolitische Modell revidiert wird. Auch wenn die Konturen eines neuen Vertrages noch nicht sonderlich klar sind, lässt sich eine Entwicklung in dieser Richtung ausmachen.
Die Wendung erfolgt wohl eher in Richtung eines konservativen Modells, der staatlichen Variante des Korporatismus. Parallel zur Politik einer Unterdrückung von NGOs mit ausländischer Finanzierung und kritischer Haltung zum derzeitigen Regime wird die staatliche Förderung von NGOs im sozialen Bereich ausgebaut. Die Finanzierung von Präsidenten-Grants, von föderalen und regionalen Programmen sowie der Aufbau von eigenen staatsnahen analogen Menschenrechts-, Umwelt-, Jugend- und anderen NGOs wird verstärkt, ebenso die Unterstützung für Organisationen, die traditionellen Werten anhängen. Gesondert zu erwähnen ist das Projekt einer Stärkung der »Volksfront«, in der Bürger mit Initiative zusammengeschlossen sind, und die vom Präsidenten unterstützt wird. Die Förderung von NGOs, die ihre Loyalität zum Regime bewiesen haben, erfolgt nicht nur über die Zuteilung von Finanzmitteln, sondern auch über eine ideologische, administrative und politische Unterstützung durch staatliche Stellen, Hinzu kommt eine informelle Förderung von Unternehmen, die die Arbeit solcher NGOs unterstützen.
Die gleichzeitige Schwächung oder gar Vernichtung kritisch eingestellter, erfahrener NGOs und die Förderung loyaler und vom Staat abhängiger NGOs könnte dazu führen, dass ein keineswegs liberales, sondern eher korporatistisches Modell entsteht. Da eine eigene und starke Selbstverwaltungsstruktur der NGOs fehlt und in der nächsten Zeit auch wohl kaum schnell entstehen dürfte, wird das russische Modell sich nicht dem europäischen Neokorporatismus annähern, sondern eher dem eines staatlichen Korporatismus. Das sieht eine starke Rolle des Staates vor, der jene förderungswürdigen NGOs festlegt, die dann an der Umsetzung der Sozialpolitik teilnehmen und über ein Monopol bei der Vertretung sozialer Interessen verfügen; dafür werden sie vom Staat unterstützt und ihre Tätigkeit eingehend kontrolliert. Organisationen, die diese »Spielregeln« nicht akzeptieren, bleiben bei der Umsetzung der Sozialpolitik außen vor. Ein solches sozialpolitisches Modell ist vor allem für autoritäre Regime typisch, da es auf eine einheitliche Pyramide von NGOs angelegt ist, die unter der Kontrolle des Staates steht und die kein System alternativer Strukturen vorsieht.
Für einen ernsthaften Aufbau eines staatlich-korporatistischen Modells der Sozialpolitik sind allerdings erhebliche organisatorische und verwaltungstechnische Anstrengungen nötig, zu denen die derzeitige Zentralregierung wohl kaum bereit sein wird. Darüber hinaus bestehen innerhalb der Regierung unterschiedliche Ansichten, welches Modell von einer moderne russische Gesellschaft benötigt wird. Die weltweit zu beobachtenden neoliberalen Tendenzen dürften zusätzlich die Möglichkeiten für den Aufbau eines umfassenden und effizienten korporatistischen Modells einschränken. Die Ausrichtung auf staatlichen Korporatismus bremst jedenfalls die Bewegung hin einem liberalen Modell. Bei einer Kürzung der Ausgaben für den sozialen Bereich werden im einen wie im anderen Falle die sozialen Probleme weniger wirksam gelöst werden können.
Fassen wir die Ergebnisse unserer Beobachtungen zusammen, muss erneut betont werden, dass bei der Verabschiedung und Umsetzung der Gesetzgebung über »ausländische Agenten« zwei Logiken kollidierten. Die Erfüllung der natürlichen Funktionen von NGOs bei der Vertretung der Interessen der Zivilgesellschaft sowie in der Sozialpolitik, die von einem Teil des Staatsapparates insgesamt unterstützt und als notwendig erachtet wurde, hat durch das Vorgehen des Parlaments und anschließend der Aufsichts- und Sicherheitsbehörden Schaden genommen. Deren Logik von Kontrolle und Verbot behindert nicht nur die NGOs selbst und deren Mitarbeiter. Wenn wir an die Rolle von NGOs in der Gesellschaft erinnern, wird deutlich, dass dieser Schlag den gesamten öffentlichen Bereich getroffen hat, der nun ausschließlich professionellen Politikern überlassen wird. Getroffen wird auch die Sozialpolitik, die sich durch den Ausschluss von Alternativen weniger frei und effizient gestaltet.
Eine Kritik von verschiedener Seite an dieser Politik sowie eine Erörterung der Varianten, in denen sie zu ändern wäre, sollten die hier beschriebenen negativen Folgen zu einem gewissen Teil mildern. Falls es tatsächlich dazu kommen sollte, wäre das ein Beleg, dass die NGOs in einem sehr viel höheren Grade in der Gesellschaft Russlands verwurzelt sind und ihre natürliche Funktion dort ausüben, als die Autoren der Gesetzgebung über »ausländische Agenten« dachten. Das würde bedeuten, dass die Frage der Rolle der NGOs noch offen ist.
Übersetzung: Hartmut Schröder