Im vorvorigen Frühjahr, dem Frühjahr der Proteste, wurde viel darüber gerätselt, ob der »Geist« nun aus der Flasche sei, und ob der Kreml ihn mit Tricks und Drohungen wieder dorthin zurück bekommen würde. Die Urteile heute fallen unterschiedlich aus. Für die einen hat Putin das Heft wieder fest in der Hand. Für die anderen ist die zwischenzeitliche Ruhe nur eine vor dem nächsten Sturm. Ich neige, schwerlich zu erraten, Letzterem zu. Die wichtigste Frage ist deshalb nicht, ob es demnächst wieder unruhig wird im Land, sondern wie und wo, wer die Träger möglicher Veränderungen sein werden und wie sie sich ihre zukünftige Welt vorstellen.
Doch bevor ich dazu komme, muss ich kurz noch einmal auf die Proteste vom Winter 2011/2012 eingehen. Diese Proteste haben Politik (zumindest in Teilen) wieder zu einer öffentlichen Angelegenheit in Russland gemacht. Proteste gab es zwar auch vorher schon gegen Wladimir Putins Kreml. Doch sie blieben alle begrenzt, angefangen von den Rentner-Protesten gegen die sogenannte Umwandlung von staatlichen Vergünstigungen in Geldzahlungen Anfang 2005, über die »31er«-Proteste gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit seit 2009 bis zu lokal und zeitweise aufflackernden Protesten im Fernen Osten, in Kaliningrad oder auch gegen »zu viele Fremde«. Sie hatten alle keine direkten Auswirkungen auf das politische System und seine Legitimierung(smechanismen). Der Winter 2011/2012 war anders. Er hat zu erheblichen Verschiebungen geführt, die an dieser Stelle ja auch immer wieder Thema sind.
Wenn allerdings ein Geist aus der Flasche ist, dann ist er für alle aus der Flasche. Ich muss zugeben, mich in diesem Blog, bis auf wenige Ausnahmen, mit dem Teil des Protestes gegen Putin beschäftigt zu haben, der meinem Herzen nahe steht: dem emanzipatorischen Protest einer beginnenden (groß-)städtischen, wohlgebildeten und ökonomisch einigermaßen versorgten Mittelschicht, die mehr demokratische Beteiligung, mehr Freiheit, eine (nach innen und außen) offenere Gesellschaft fordert. Der Protest hat aber noch eine andere, eine sozusagen dunkle Seite, die sich am sichtbarsten in immer wieder aufflammenden fremdenfeindlichen Protesten niederschlägt. Ihr Träger sind Menschen in eher prekären Lebenssituationen, wobei dieses Prekäre zwar vornehmlich sozialen Charakter hat, aber nicht unerheblich auch von Abstiegserfahrungen und Abstiegsängsten geprägt ist, von individuellen und auf Kleingruppen bezogenen Abstiegserfahrungen und –ängsten, aber auch von kollektiven, sich auf das große Land als Ganzes beziehenden.
Wo letztendlich der Funke überspringt, der Putins Haus in Flammen aufgehen lässt, kann gegenwärtig niemand sagen. Auch nicht, was an seiner Stelle gebaut werden wird. Und ob überhaupt so schnell etwas Neues, Festes entsteht.
Die politische Führung (also Putin) reagiert auf die inzwischen regional, sektoral und sozial stark ausdifferenzierte russische Gesellschaft weiter mit Experimenten. Die »gelenkte Demokratie« war so ein Experiment, das einige Zeit ganz gut lief. Sie baute auf einem »einigen Russland« auf, das möglichst alle Menschen im Land mit einbezog. Seit Putins Wiederkehr in den Kreml vor eineinhalb Jahren ist dagegen die Rede von einer »überwältigenden Mehrheit«, für die Putins Politik stehe, womit dann, logischerweise, eine Minderheit ausgeschlossen wird.
Wie für alle Politik, braucht ein populistischer Machthaber wie Putin aber eine soziale Basis, auf die er sich einigermaßen verlassen kann. Sie muss ihm also in wesentlichen Punkten zustimmen. Oder diese Zustimmung muss sich ohne unvertretbar großen Aufwand, z. B. mittels Propaganda, generieren und erhalten lassen. Und die Zustimmung muss natürlich auch durch materielle Beteiligung unterfüttert werden. Die zustimmende Mehrheit muss schlicht etwas »davon haben«.
In aller entwickelten Welt spielen Mittelschichten diese die politische Herrschaft stabilisierende Rolle. Nun ist es mit einer Mittelschicht, die ihrer Zahl und Bedeutung nach das Land stabilisieren könnte, in Russland bisher nicht weit her. Alexander Ausan, Dekan des Wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs der Moskauer Staatsuniversität, der sich mit diesem Thema gründlich beschäftigt hat, klagt seit langem, dass die Zahl derjenigen Menschen, die in Russland zur Mittelschicht gerechnet werden können »seit dem Beginn der 21. Jahrhunderts bei etwa 20 Prozent liegt« und sich kaum verändert. Außerdem sei die (ökonomisch definierte) Mittelschicht in Russland in viele unterschiedliche soziale Segmente zersplittert.
Genau hier will ich mit ein paar Überlegungen über den eigentlich banalen Unterschied zwischen Moskau (sowie, mit wenigen Einschränkungen, St. Petersburg und einigen anderen Millionenstädten) und dem, grob gesagt, »Rest des Landes« ansetzen (in diesem »Rest« leben bei einer solchen Aufteilung mehr Menschen als in den Teilen, die man »Metropolregionen« nennen könnte). Dieser Unterschied drückt sich auch in soziokulturellen Merkmalen jener Bewohner aus, die durch ihre Lebenssituation (vor allem eine eigene Wohnung) und ihr Einkommen (deutlich mehr als das gegenwärtige Durchschnittseinkommen von knapp 1.000 Euro pro Monat) einer Mittelschicht zugerechnet werden könnten.
In Moskau, St. Petersburg und einer Reihe anderer Millionenstädte gehören dazu oft Menschen mit einer höheren Bildung (in Moskau hat mehr als die Hälfte der erwachsenen Einwohner einen Hochschulabschluss), ihr Lebensstil hat sich in den vergangenen 10 bis 15 Jahren dem der Einwohner anderer europäischer Großstädte angeglichen. Sie sind relativ mobil, neigen meist eher liberalen Ansichten zu, arbeiten oft in staatsfernen Branchen und halten sich auch sonst vom Staat fern, soweit es eben geht.
Im »Rest des Landes« sind diese Menschen weit seltener zu finden. Ich will versuchen, in einigen Absätzen ein kleines Portrait zu zeichnen. Dieses Portrait beruht in erster Linie auf meinen Beobachtungen, Lektüre und Gesprächen, die ich nicht empirisch belegen kann. Mir sind auch noch keine umfassenden Untersuchungen bekannt, die die hier getroffene Aufteilung unternehmen. Alles, was ich nun schreibe, darf also mit allem Recht zumindest vorerst als Hypothese, ja als bloße Behauptung aufgefasst werden.
Zu einem großen Teil besteht die »provinzielle« Mittelklasse aus relativ jungen Menschen (die Verdiener sind meist Männer mit dazu gehörigen Familien). Sie sind oft gerade dabei, auf der regionalen Karriereleiter aufzusteigen, also meist eher jung. Sie sind Kleinunternehmer, Manager in mittleren oder größeren Unternehmen, vor allem aber Beamte aller Couleur: Polizei, Staatsanwaltschaft, Regional- und Stadtverwaltungen, Untergliederungen föderaler Behörden.
Soziokulturell leben die meisten Vertreter dieser Schicht weiter ein sehr sowjetisches Leben, mit einigen ins Auge fallenden Änderungen. Eine der wichtigsten ist das Kreuz an einer Kette um den Hals. Damit drücken sie nicht etwa eine besondere Religiosität aus, sondern eher, dass sie sich als ethnische Russen verstehen. Es ersetzt jedwede sowjetische Symbolik und bedeutet Zugehörigkeit. Schon in recht jungen Jahren neigt die provinzielle Mittelschicht (bevorzugt ihr männlicher Teil) zur Dickleibigkeit. Sie symbolisiert den erreichten Erfolg, die Solidität von jemandem, der etwas zu sagen hat. Schlankheit ist eher verdächtig. Schlank sind Profis (wie Sportler oder Angehörige von Spezialeinheiten der Sicherheitsorgane) oder Schwule.
Wenn man sie fragte, würden sich fast alle dieser Menschen wohl als »Patrioten« bezeichnen. Dabei neigen sie in politischen Fragen zu harten, oft gewaltsamen Lösungen. Die Probleme zum Beispiel im Nordkaukasus werden nicht als Folge einer vor allem auf Armee, Polizei und Geheimdienste setzenden Politik verstanden, sondern umgekehrt als Zeichen aufgefasst, dass der russische Zentralstaat »den Kaukasiern« (das ist jetzt die freundlichste Bezeichnung, die weniger freundlichen lasse ich lieber weg) gegenüber zu weich ist. Ein alltäglicher Rassismus, eine alltägliche Ausländerfeindlichkeit sind weit verbreitet, gehören fast zum guten Ton.
Wladimir Putin ist in diesen Kreisen weiterhin nicht nur eine politische, sondern auch eine moralische Führungsfigur. Das bezieht sich durchaus auch auf sein Image als »echter Kerl«, als »harter Hund«. Vielen ist er (siehe oben) sogar eher zu weich als zu hart. Viele fühlen sich Putin auch deshalb nah, weil er im, mit und durch den Staat aus einfachen Verhältnissen aufgestiegen ist. Das entspricht ihrer eigenen Lebenserfahrung. Dmitrij Medwedjew hat hier nie nennenswerte Anerkennung erringen können und keine Hoffnungen genährt, eher das Gegenteil. Sollte Putin dereinst gehen, dürften sich die meisten der hier beschriebenen Menschen einen ihm sehr ähnlichen Nachfolger wünschen (und keinesfalls eine Nachfolgerin).
Putins Feinde sind auch die Feinde dieser Mittelschicht. Hier gibt es einen (kleinen) Widerspruch. Der Vorstellungshorizont dieser Menschen ist im umfassenden Sinn dieses Wortes »provinziell«. Sie sind gleichzeitig Lokalpatrioten und gegenüber allem, was aus Moskau kommt mehr als skeptisch eingestellt. Moskau wird als hochnäsig empfunden, als Zentrale, die sich auf Kosten des (schwer arbeitenden) Landes ein bequemes, ja luxuriöses Leben macht (was ökonomisch und vom hochzentralisierten Steuersystem aus gesehen nicht ganz falsch ist). Dazu sind aus ihrer Sicht in Moskau, trotz Putin, immer noch die Oligarchen und vor allem die »Liberalen« an der Macht. Warum sich Putin ihrer nicht endgültig entledigt, bleibt für viele ein Rätsel oder ein Grund für Verschwörungstheorien, bei denen dann auch Putin nicht gut wegkommt.
Dabei hält sich, bei aller Ablehnung »des Westens« und seines »verderbten« oder »ausschweifenden« Lebensstils (der für diese Leute in der oft verschwörerisch angenommenen Machtübernahme von geheimen Schwulenseilschaften gipfelt, wie sie Putin auch in seiner Rede beim Waldaj-Klub jüngst angedeutet hat), der Antiamerikanismus in Grenzen. Mit den USA braucht man eher eine Art Kalten Frieden als einen neuen Kalten Krieg. Die Einschätzung der außenpolitischen Kraft (oder eher: Schwäche) Russlands ist meist durchaus realistisch. Außerdem ist die Furcht und Ablehnung von China immer noch größer. EU-Europa wird nicht wirklich ernst genommen, außer vielleicht in seinen Fähigkeiten zur Produktion von langlebigen Konsumgütern (deutsche Autos nehmen hier eine Sonderstellung ein) und technischen Standards. EU-Europa ist für die provinzielle Mittelschicht auch kein Urlaubsziel (im Gegensatz zur Metropolen-Mittelschicht). Diese Menschen fliegen eher »all-inclusive« nach Ägypten ans Rote Meer oder an die türkische Mittelmeerküste.
Liberale politische Ansichten haben es in dieser Umgebung schwer. Grob kann man zwei Gruppen unterscheiden. Die Älteren neigen eher einer Art vermenschlichtem Stalinismus zu, mit einem starken, »wenn es sein muss«, harten, aber im Großen und Ganzen gütigen Führer. Bei den Jüngeren sind die politischen Vorlieben deutlich nationalistischer gefärbt. Hier gibt es zwar auch einen Führer-Kult, aber mit starkem ethnisch-russischen Einschlag.
Wie oben schon geschrieben, ist die (ökonomisch definierte) Mittelschicht in Russland mit rund 20 Prozent der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Industrieländern klein (hier ist wahrscheinlich ein Vergleich mit China, Indien oder Brasilien angebrachter). Entsprechend gering ist (bisher zumindest) die elektorale Bedeutung dieser Gruppe. Im Gegensatz zur (groß-)städtischen Mittelschicht sitzt die hier (zugegebenermaßen sehr vereinfacht) umrissene Gruppe oft schon in mehr oder weniger wichtigen Machtpositionen, hat also, regional und kommunal, durchaus direkten Einfluss. Und sie bildet ein deutliches ideologisches Gegengewicht zu den öffentlich viel sichtbareren Protestierenden in Moskau und anderen Millionenstädten. Für den Kreml ist das wohl eher beruhigend.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.