Der »Hygiene-Führer«
Wer, fragen sich Spötter in Moskau, wird nach dem erzwungenen Rücktritt des Gennadij Onischtschenko künftig die Außenpolitik gestalten? Russlands oberster Arzt und Verbraucherschützer, zuständig für das »sanitär-epidemologische Wohlergehen der Bevölkerung« und die Rechte der Verbraucher, musste am 23. Oktober sein Amt aufgeben. Seit März 2004 ist er mehr als nur ein ministerieller Seuchenverwalter an der Spitze von »Rospotrebnadsor« gewesen. Unter graugesichtigen Staatsfunktionären stach er durch Showtalent und die Gabe hervor, originelle bis abstruse Redewendungen zu prägen. Eine Lachnummer war Onischtschenko allerdings nicht: Die Tabakindustrie und Alkoholproduzenten erschauerten vor dem Kämpfer für die Volksgesundheit. Onischtschenko schwankte zwischen Idealismus, Selbstgerechtigkeit und einem Dogmatismus, der ihm unter russischen Journalisten den Spitznamen »Hygiene-Führer« einbrachte.
Als loyaler Helfer Wladimir Putins unterstützte Onischtschenko nicht nur im Inneren Russlands treu die Politik des Kremls, indem er im Sommer 2010 die Folgen der verheerenden Waldbrände kleinredete und im Winter 2012 »aus Gesundheitsgründen« von der Teilnahme an Demonstrationen der Opposition abriet. Er diente auch der russischen Außenpolitik. Die Liste seiner Importverbote für ausländische Waren seit 2006 liest sich wie ein Überblick über die außenpolitischen Verärgerungen der russischen Führung. Onischtschenko personifiziert die »Handelskriege« des erstarkten Russlands. Zwar gab es Handelsauseinandersetzungen schon früher, etwa im Jahr 2002, als Russland mit dem Verbot von Hühnerimporten aus den USA auf die geplante Erhöhung der amerikanischen Importzölle für Stahl reagierte. Aber sie waren vorwiegend ökonomisch begründet. Erst in der Amtszeit Onischtschenkos traten politische Motive in den Vordergrund.
Moldau, Georgien, Transnistrien und Belarus
Am 21. März 2006 verkündete Onischtschenko, dass georgische und moldauische Weine giftige Substanzen wie das Insektizid DDT enthielten. Vier Tage später besiegelte er ein totales Importverbot für Weine aus beiden Ländern – ein schwerer Schlag für deren Volkswirtschaften. Etwa 85 Prozent der moldauischen und 80 Prozent der georgischen Weinproduktion gingen damals nach Russland. Moldaus Budget beruhte zu 40 Prozent auf der Weinwirtschaft. .
Der politische Subtext war offensichtlich: Kurz vor dem Wein-Bann hatten sich die Beziehungen Russlands zu Georgien und Moldau erheblich verschlechtert. Georgiens Präsident Michail Saakaschwili erklärte die Nato-Mitgliedschaft seines Landes als Ziel, was Russland nicht dulden wollte. Auch Moldaus Präsident Wladimir Woronin sprach von einer Integration in die Europäische Union und die Nato. Russlands Gazprom forderte als Gegenmaßnahme eine radikale Preiserhöhung für Gas ein und hatte sogar kurzzeitig die Lieferungen nach Moldau gestoppt. Die russisch-moldauischen Beziehungen verschlechterten sich zudem im Streit über die abtrünnige moldauische Republik Transnistrien, die von Russland unterstützt wird. Die »orangene« Regierung in der Ukraine hatte am 3. März zur Freude Moldaus das Grenzregime zu Transnistrien verschärft, um vor allem den für Transnistrien einträglichen Schmuggel zu unterbinden. Russland entschloss sich zum Weinboykott. Seine Hygiene- und Lebensmittelbestimmungen wurden zum Instrument der Außenpolitik.
Der russisch-georgische Krieg im August 2008 brachte das bilaterale Verhältnis auf einen Tiefstand. Die diplomatischen Beziehungen wurden abgebrochen. Noch im August 2011 verkündete Onischtschenko misswillig, landwirtschaftliche Importe aus Georgien seien für Russland genauso interessant wie die aus Burkina Faso. Doch ein Jahr später änderte sich der Ton. Es zeichnete sich für die Parlamentswahl am 1. Oktober 2012 ein Wahlsieg des Oppositionsbündnisses »Georgischer Traum« von Bidsina Iwanischwili ab, der sich um einen Ausgleich mit Russland bemühen wollte. Mitte September verkündete Onischtschenko, dass der Kreml eine Wiederzulassung georgischer Weine erwäge. »Georgischer Traum« gewann die Mehrheit, und im Frühjahr 2013 endete nach gut sieben Jahren das Importverbot – aber nur auf Bewährung. Denn im Juli beschuldigte Onischtschenko die Vereinigten Staaten, in Georgien Biowaffen zu produzieren. Moskau könne, so Onischtschenko, als Reaktion auf diese Bedrohung gezwungen sein, die Einfuhr georgischen Weins zu beschränken.
Der Weinimportstopp gegen Moldau wurde bereits im Oktober 2007 aufgehoben, nachdem es dem moldauischen Präsidenten Woronin gelungen war, das gestörte Verhältnis zu seinem Amtskollegen Putin zu verbessern. 2008 ging Woronin öffentlich auf Distanz zum Bündnis der westorientierten Ex-Sowjetrepubliken der GUAM-Organisation, der Moldau angehörte. Zum GUAM-Gipfeltreffen im georgischen Batumi im Juli reiste Woronin als freundschaftliche Geste gen Moskau gar nicht mehr an. Doch Importverbote blieben ständige Begleiter der Beziehungen Russlands zu Moldau. Im April 2010 erwog Onischtschenko öffentlich eine Überprüfung der »minderwertigen« Weine aus Moldau, nachdem der moldauische Präsident Mihai Ghimpu sich geweigert hatte, an der Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau teilzunehmen. Am 30. Juni kündigte Onischtschenko eine Verschärfung der Regeln für den Import moldauischen Weins an. Tage zuvor hatte Präsident Ghimpu Moskau verärgert, indem er den 28. Juni zum nationalen Trauertag über die sowjetische Annexion Moldaus 1940 erklärte und den Abzug der russischen Truppen aus Transnistrien forderte. Im Oktober 2011 kündigte Onischtschenko erneut ein Importverbot für Moldau an – diesmal allerdings hatte er Cognac aus Transnistrien im Visier. Dort bereitete sich der seit 20 Jahren herrschende Präsident Igor Smirnow auf eine weitere Amtszeit vor. Russland aber setzte auf einen jüngeren Kandidaten.
Im Jahr 2009 wurde Belarus von einem Importstopp Onischtschenkos getroffen: Nach dem 6. Juni verbot Rospotrebnadsor wegen unzureichender Dokumente die Einfuhr von mehr als 500 Milchprodukten aus dem Nachbarland. Am Tag zuvor hatte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenka verkündet, Russland habe Belarus für die Anerkennung der Souveränität der abtrünnigen georgischen Republiken Abchasien und Südossetien einen Kredit über 500 Millionen Dollar geboten. Kurz davor wiederum hatte Moskau einen Kredit verweigert. Knapp zwei Wochen später beendete Russland den Bann auf belarussische Milchprodukte. Im August 2013 drohte Onischtschenko ihn jedoch erneut an. Zuvor hatte Minsk im Konflikt um das Auseinanderbrechen der Firmenkooperation zwischen Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali den Firmenchef von Uralkali verhaftet.
»Lebensmittel-Patriotismus« und Außenpolitik
Nicht immer verbot Onischtschenko die Einfuhr ausländischer Waren primär aus außenpolitischen Gründen. Es ging auch um ökonomische Vorteile und Binnenwirtschaftspolitik: Vom 1. Januar 2010 an verbot Russland die Einfuhr US-amerikanischer Hühnchen. Experten vermuteten Protektionismus als Hauptmotiv. Die Unterstützung einheimischer Produzenten hat Onischtschenko, der »Lebensmittel-Patriotismus« pries und Burger und Sushi als unrussisch ablehnte, immer am Herzen gelegen. Schon im September 2009 hatte er Milchproduzenten in Russland gescholten, weil sie den Importstopp für belarussische Produkte nicht genutzt hätten, um ihren Marktanteil zu erhöhen. Noch im Januar 2010 gab Premierminister Putin das Ziel aus, im Jahr 2015 ohne Hühnerimporte auszukommen. Onischtschenkos Einfuhrstopp half bei der Umsetzung: Neun Monate später stellte Putin zufrieden fest, dass die Hühner-Importe aus den USA von 1,5 Millionen auf 300.000 Tonnen gefallen seien.
Die meisten der spektakulären Entscheidungen Onischtschenkos aber reagierten augenscheinlich auf außenpolitische Konflikte: Der EU-Russland-Gipfel im Juni 2011 ging als »Gurken-Gipfel« in die Geschichte ein. Russland hatte zuvor die Einfuhr von Gemüse aus der Europäischen Union wegen einer möglichen Verseuchung mit E. coli-Bakterien verboten. Obwohl Russlands Befürchtungen vor verseuchten Einfuhren verständlich war, spiegelte die drastische Maßnahme doch das schwierige Verhältnis der Partner wider: Die russische Regierung war verärgert über die Ignoranz, auf die Präsident Medwedews Initiative für eine europäische Sicherheitsarchitektur in Europa gestoßen war. Zudem hakten die Verhandlungen über ein vereinfachtes Visumsregime. Eine Resolution des Europaparlaments, die einen russischen Truppenabzug aus Abchasien und die Genehmigung von gay parades einforderte, spitzte den Konflikt noch zu.
Im November 2011 schlug Onischtschenko vor, alle tadschikischen Gastarbeiter wegen der möglichen Verbreitung von Krankheiten aus Russland zu verbannen. Zuvor hatte ein Gericht in Tadschikistan einen russischen Piloten wegen angeblichen Schmuggels und illegalen Grenzübertritts zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Pilot kam bald darauf frei. Anfang Januar 2013 belegte Onischtschenko US-Fleischimporte mit einem Bann. Die antiamerikanische Stimmung in Russland hatte damals einen Höhepunkt erreicht, nachdem Präsident Barack Obama im Dezember 2012 die Magnizkij-Liste mit einem Einreiseverbot für gut ein Dutzend russische Staatsbürger, die Menschenrechte verletzt haben sollen, unterschrieben hatte. Russland reagierte mit einem Gesetz, das US-Bürgern die Adoption russischer Kinder verbot, und mit diesem Importstopp.
Über mehr als ein Jahr lang warf zudem der Vilnius-Gipfel am 28./29. November seine Schatten voraus. In der litauischen Hauptstadt sollen mehrere frühere Sowjetrepubliken, darunter die Ukraine und Moldau, ein Assoziierungsabkommen mit der EU abschließen. Im September verbot Onischtschenko erneut die Einfuhr moldauischer Alkoholika. Anfang 2012 hatte er schon die Käseprodukte dreier ukrainischer Produzenten ausgesperrt. Ukrainische Politiker erkannten darin den Versuch, die Ukraine in Russlands Zollunion mit Belarus und Kasachstan zu treiben. Im Juli dieses Jahres verbot Onischtschenko Konfekt des ukrainischen Unternehmens »Roschen«, zuerst wegen »Gesundheitsgefährdung«, dann wegen einer angeblich unzureichenden Auflistung aller Bestandteile auf der Packung. Sogar Gipfelgastgeber Litauen, das dem EU-Rat vorsitzt, wurde mit einem Importstopp für Milchprodukte bedacht. Litauen hatte schon vor einem Jahr den Unwillen Moskaus mit der Entscheidung hervorgerufen, ein Gerichtsverfahren gegen Gazprom wegen überhöhter Gaspreise anzustrengen. Wegen Russlands Importverbot will die litauische Regierung die Welthandelsorganisation WTO anrufen.
Onischtschenkos Ablösung
Die Handelsverbote, die Onischtschenko anstrengte, wirkten zumeist wie spontane Maßnahmen, die keiner Strategie folgten und ohne eine Analyse ihrer Folgen getroffen wurden. Oft waren sie unklug und kontraproduktiv, da sie in den betroffenen Ländern eine Trotzreaktion auslösten. Doch das muss nicht der Grund für das abrupte Ende der Dienstzeit Onischtschenkos gewesen sein. Wie meist bei Moskaus Personalrochaden gibt es offiziell nur formelhafte Erklärungen. Manche Kommentatoren halten einen Konflikt hinter den Kulissen zwischen den konkurrierenden Aufsichtsbehörden Rospotrebnadsor und Rosselchosnadsor, das für die Veterinär- und Pflanzenkontrolle zuständig ist, für eine Erklärung. Andere spekulieren über ein gestörtes Verhältnis Onischtschenkos zum Regierungschef Medwedew. Onischtschenko habe nur auf Putin gehört und mit seinen Handelsattacken gegen andere Länder Medwedew aufgebracht.
Manche Moskauer Analytiker setzen nun auf Onischtschenkos Nachfolgerin, seine frühere Stellvertreterin Anna Popowa. Doch die Hoffnung auf ein Ende der Vermischung von Sanitär- und Außenpolitik und eine Handelspolitik, die besser auf die Anforderungen einer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO angepasst ist, könnte trügerisch sein. Anfang Oktober, auf dem Höhepunkt der diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen den Niederlanden und Russland, profilierte sich bereits Onischtschenkos Konkurrenzbehörde Rosselchosnadsor ganz in seinem Geiste: Sie erwog plötzlich das Verbot holländischer Tulpen – wegen ihrer »unbefriedigenden Qualität«.