»Regen« und Zensurhagel 
Der unabhängige Fernsehsender »Doschd« (»Regen«) steht wegen einer Umfrage zur Leningrader Blockade vor dem Aus

Entwicklung des Konflikts über die Umfrage zur Leningrader Blockade

Der unabhängige russische Fernsehkanal »Doschd« (dt.: »Regen«) ist innerhalb von zwei Wochen von den meisten Kabelnetzwerken Russlands abgeschaltet worden. Der Kreml-kritische TV-Sender veranstaltete am 26. Januar 2014 eine Talk-Show anlässlich des 70. Jahrestages des Endes der Leningrader Blockade und sorgte mit der umstrittenen Frage auf seiner Internet-Seite, ob man nicht lieber die Stadt hätte aufgeben sollen, um Hunderttausende Leben zu retten, für Aufruhr. Schon zwölf Minuten nach der Veröffentlichung nahm der Chefredakteur der Internet-Seite die Umfrage aus dem Netz und entschuldigte sich für die unglückliche Formulierung.

Der Skandal entwickelte sich allerdings weiter. Den Angaben des Kanal-Besitzers zufolge wurde Wladimir Putin über den Vorfall informiert, als er an der Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer der Blockade in Sankt Petersburg teilnahm. An den folgenden Tagen stellten die größten Kabel-Unternehmen eines nach dem anderen die Einspeisung von »Doschd« ein. Seit zwei Wochen organisiert der kremlnahe Jugendverband »Molodaja Gwardija Jedinoj Rossii« (»Junge Garde des Einigen Russland«) Mahnwachen und Straßenaktionen mit der Forderung »Doschd« zu schließen. Der Hashtag »brauner Doschd« wurde durch Internet-Bots via Twitter rasch verbreitet. An einem Tag schlich sich ein als Rotarmist gekleidetes Mitglied der Jungen Garde heimlich ins Redaktionsgebäude und hisste auf dem Dach eine sowjetische Fahne. Laut Geschäftsführung wurde die politische Entscheidung zur Schließung des Kanals in der Präsidialadministration getroffen.

»Naschisten gegen Doschd«, aus dem Yopolis-Blog, 4. Februar 2014 <http://www.echo.msk.ru/blog/yopolisnews/1251920-echo/>

»Historisches Dokument aus dem Schulprogramm«

Die kremltreue Internet-Propagandistin Kristina Potuptschik hat den Skandal um die Frage zur Leningrader Blockade aufgegriffen und dem liberalen Fernsehsender »Doschd« Inkompetenz vorgeworfen. Die Bloggerin kritisiert »Doschd« nicht nur für unmoralisches Verhalten, sondern in erster Linie für mangelndes Fachwissen über die Kriegsgeschichte: »Denn Leningrad konnte man nicht ›übergeben‹. Niemand hätte die Übergabe angenommen. Die Deutschen wollten die Stadt komplett zerstören und alle Einwohner liquidieren. Über eine hypothetische Übergabe zu sprechen, die angeblich Tausende Menschenleben hätte retten können, ist nicht pöbelhaft oder sittenwidrig. Es zeigt schlicht absolute Inkompetenz hinsichtlich der Geschichte des eigenen Landes.«

»Fünfenschreiber« von Kristina Potuptschik, 28. Januar 2014 <http://krispotupchik.livejournal.com/563153.html>

Kinder und Krieg im schmutzigen politischen Werkzeugkasten

Die russische Öffentlichkeit ist zwar bezüglich der Formulierung der Frage zu diesem sensiblen Kapitel des Zweiten Weltkrieges gespalten, hält aber dennoch den massenhaften Boykott durch die Kabelnetzbetreiber und die Abschaltung des Fernsehsenders »Doschd« für einen unzulässigen Verstoß gegen das Recht freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit. Der Kommunalpolitiker Maxim Katz empört sich über die Tatsache, dass das Thema Krieg von der Regierung erneut für politische Zwecke instrumentalisiert wird: »Seit zwei Jahren beobachte ich kommunale und föderale Gauner und bin zur Auffassung gekommen: Wenn mal eine absolut schmutzige, stinkende, niederträchtige, irrwitzige Schweinerei aufkommt, die sie unternehmen wollen, dann greifen sie zu einem der zwei wichtigsten Trümpfe, nämlich dem Kinderschutz oder dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg. Der Hinweis auf eines dieser beiden Themen bedeutet fast immer, dass sich dahinter ein schmutziges Manöver verbirgt. [Das ist] Ein todsicheres politisches Instrument, das stets zur Hand ist.«

»Über Doschd« von Max Katz, 31. Januar 2014 <http://maxkatz.livejournal.com/225874.html>

Schneesturm um den Sender »Regen«

Die Ereignisse um den Fernsehsender Doschd (»Regen«) zeigen die Heuchelei russischer Politik. Auf der einen Seite drohe dem Fernsehkanal nach einer ungeschickt gestellten Frage die Auflösung. Auf der anderen blieben andere, weitaus anrüchigere Äußerungen loyaler Journalisten ohne Beachtung. Irina Prochorowa, Kulturhistorikerin und Schwester des Milliardärs und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Michail Prochorow, verweist auf das Ambivalente der Staatsideologen: »Nazistische Einlassungen von Uljana Skojbeda und Wladimir Schirinowski sowie Goebbels-Zitate in der Nachrichtensendung ›Westi‹ verletzen die patriotischen Gefühle der ›Anwälte moralischer Reinheit‹ in keiner Weise. Worum geht es also? Darum, dass ›Doschd‹ den Stempel ›oppositionell‹ und ›liberal‹ trägt, was in letzter Zeit nahezu zum Synonym von ›unzuverlässig‹ geworden ist? Oder soll diese Attacke etwa den Anfang des Wahlkampfes für die Moskauer Stadt-Duma verkünden? Oder sind sich die Träger totalitärer Weltanschauung, die in die Machtstrukturen eingedrungen sind, nicht im Klaren, welche Werte sie predigen?«

»Schneesturm um den Sender ›Regen‹« von Irina Prochorowa, 30. Januar 2014 <https://www.facebook.com/irina.prokhorova.96/posts/10200436978247581>

Zum Schutz der Geschichtsmatrix: Das Anti-Nazi-Gesetz (Jarowaja-Gesetz)

Genauso wie die Gefühle der Gläubigen steht die unantastbare Geschichtsmatrix unter dem Schutz des Regimes. Der Vorfall mit der Umfrage zur Leningrader Blockade bei dem Fernsehsender »Doschd« hat neue Debatten über das sogenannte »Jarowaja-Gesetz« ausgelöst aus. Die Gesetzesinitiative wurde nach der Duma-Abgeordneten von der Regierungspartei »Einiges Russland« Irina Jarowaja benannt, die bereits seit Sommer 2013 für ein Verbot der Rehabilitierung der Nazi-Ideologie plädierte. Der Gesetzentwurf stellt allerdings neben der »Leugnung von durch den Internationalen Militärgerichtshof in einem Urteil festgestellten Fakten oder die Gutheißung von in einem solchen Urteil festgestellten Verbrechen« auch »die Verbreitung von wissentlich falschen Angaben über die Tätigkeit der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges« unter Strafe. Der Publizist Leonid Storch stellt in seinem umfassenden Beitrag sarkastisch die Mechanismen des russischen politischen Establishments zum Schutz der (offiziellen) Geschichtsmatrix vor »Revisionisten« dar. Storch betont: »Nicht zufällig wurde die Lobby-Arbeit zum ›Jarowaja-Gesetz‹ als Reaktion auf die unverschämte antisowjetische Aktion von »Doschd« unverzüglich wiederbelebt. In der angebotenen zynischen Frage gab es weder ›Leugnung von Tatsachen, die von Tribunalen festgestellt wurden‹, noch ›Billigung der Verbrechen‹ noch ›Verbreitung falscher Angaben über die Tätigkeit der UdSSR‹. Allerdings wurde, wie bereits erwähnt, der viel böswilligere Versuch unternommen, Menschen zum Nachdenken und zur Äußerung der eigenen Gedanken zu bringen. Um den Staat vor solchen Versuchen zu schützen, wurde eben dieses weise ›Jarowaja-Gesetz‹ vorgelegt.«

»Matrix der vaterländischen Geschichte in Gefahr« von Leonid Storch, 2. Februar 2014 <http://www.echo.msk.ru/blog/kritikator/1250446-echo/>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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