Staatliche Geschichtsschreibung im Post-Imperium. Putins Einheitslehrbuch für den Geschichtsunterricht

Von Wolfram Scheliha (Leipzig)

Zusammenfassung
Mit Geschichte macht Wladimir Putin gern Politik. Als er im Februar 2013 forderte, dass die Vergangenheit Russlands an den Schulen künftig nur noch mit einem einheitlichen Lehrbuch unterrichtet werden solle, befürchteten viele, der frühere KGB-Offizier wolle so Stalin und die Sowjetunion rehabilitieren. Doch Putins Pläne gehen in eine andere Richtung. Das Ende Oktober 2013 veröffentlichte Lehrbuchkonzept überrascht durch eine stückweise Abkehr von der national-russischen Schulbuchgeschichtsschreibung. Doch der formulierte neue multinationale und multikulturelle Ansatz ist nur vordergründig modern. Denn das Lehrbuchkonzept entpuppt sich vor allem als eine Apologie der russländischen und sowjetischen Imperialpolitik.

Stalin als Lackmustest

Putins Ruf vom 19. Februar 2013 nach einem einheitlichen Schullehrbuch zur russländischen Geschichte wird von vielen als ein weiteres Indiz für die sich verfestigenden autoritären Herrschaftsstrukturen in Russland gesehen. Es gibt sogar eine vermeintlich passende historische Analogie: Stalins berühmt-berüchtigter »Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU(b)« – die Bibel des untergegangenen Sowjetimperiums. Putins Zielvorgaben ließen tatsächlich das Schlimmste befürchten: Es solle eine »kanonische Version« der Geschichte entstehen, die der »offiziellen Einschätzung« entspricht. Das Lehrbuch solle zum »Patriotismus« erziehen und der jungen Generation das »Gefühl des Stolzes auf das eigene Land, auf seine Rolle in der Weltgeschichte« nahebringen. Das Wissen um die militärischen Siege solle schließlich ein »positives Pathos« des historischen Bewusstseins begründen.

Der Umgang mit der sowjetischen Geschichte und mit der Reizfigur Stalin gilt deshalb als ein Lackmustest zur Beurteilung des gesamten Schulbuchs. Sollen die Schrecken des Stalinismus mit ihren Millionen von Opfern zugunsten einer Heldengeschichte von Rjurik bis Putin verharmlost werden? Entsprechende Befürchtungen waren durchaus begründet. Als 2007 erstmals die Frage eines einheitlichen Geschichtslehrbuches aufkam, erschien die von Alexander Fillipow herausgegebene Handreichung für Lehrer »Die Neueste Geschichte Russlands, 1945–2006«. Fillipow präsentierte darin Stalin als einen erfolgreichen Staatslenker, der in einer Reihe mit Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen steht: als einen Reformer, der zwar mit harter Hand regierte, dafür aber das Land einen deutlichen Schritt voranbrachte. Stalins Repressionen und den »Große Terror« rechtfertigte Filippow folgerichtig mit der Steigerung der Effektivität von Industrialisierung und Verwaltung. Dieses Bild vom »effektiven Manager« schien Stalin zu rehabilitieren. Führte Fillipows Lehrmaterial bereits zu einer breiten Kontroverse, kam es im Sommer 2010 nach der Neuauflage des Hochschullehrbuchs »Geschichte Russlands, 1917–2009« von Alexander Barsenkow und Aleksandr Wdowin zu einem handfesten Skandal. Die breite Empörung über das erstmals 2005 erschienene Buch stand offenkundig im Zusammenhang mit der Debatte um die 2009 von Präsident Dmitrij Medvedev eingesetzte (und im Februar 2012 wieder aufgelöste) Kommission zum Kampf gegen Geschichtsfälschungen.

Barsenkow und Wdowin versuchten ebenfalls, den Terror der 1930er-Jahre zu rechtfertigen und bedienten sich dabei auch offen antisemitischer Argumente, indem sie auf den hohen Anteil von Juden im Staatsapparat, bei der Polizei und der Presse hinwiesen. Diesen Zustand nannten sie »anormal«. Die Presseberichterstattung führte zu einem beachtlichen zivilgesellschaftlichen Protest. Ein Ausschuss der Gesellschaftskammer, die Putin 2005 eigentlich als ein Gremium zur Domestizierung der Zivilgesellschaft ins Leben gerufen hatte, forderte das Bildungsministerium zur Überprüfung der Angelegenheit auf. Die Moskauer Lomonosow-Universität, der Arbeitgeber von Barsenkow und Wdowin, nahm die Untersuchung in die Hand, stellte eine Reihe »quellenkundlicher, methodologischer, konzeptioneller, methodischer und ethischer« Unzulänglichkeiten fest und empfahl, das Buch nicht mehr zu verwenden.

Vor dem Hintergrund dieses erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Protests und nach mehreren kritischen Äußerungen Putins zu Stalin und zum Stalinismus war es eher unwahrscheinlich, dass Stalin mit dem Einheitslehrbuch nun doch wieder rehabilitiert würde. Tatsächlich reflektiert die am 30. Oktober 2013 veröffentlichte »Konzeption des neuen lehrmethodischen Komplexes zur vaterländischen Geschichte« deutlich eine Ambivalenz in Russland bei der Erinnerung an Stalin und seine Herrschaftszeit. Denn Stalin war eben nicht nur für den gewaltsamen Tod von Millionen von Menschen verantwortlich, sondern auch für den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland. Und dieser Sieg bildet das Herzstück der Erinnerungskultur in Russland. Eine Apologie Stalins und der sowjetischen Geschichte insgesamt ist jedoch mit dem neuen Schulbuchstandard nicht verbunden. Allerdings umfasst der vorliegende Text nur 80 Seiten, stellt aber mehr als tausend Jahre Geschichte dar. Verkürzungen und Vereinfachungen sind dabei nicht zu vermeiden. Manche Formulierungen gerade zum Zweiten Weltkrieg sind zweifellos streitbar. Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt bleibt unerwähnt, obwohl es in einem früheren Textentwurf noch enthalten war; der Kriegseintritt der Sowjetunion wird mit dem 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Überfalls datiert, als ob es den sowjetischen Einmarsch in Ostpolen im September 1939, die Besetzung der baltischen Republiken und den Winterkrieg gegen Finnland nicht gegeben hätte. Dafür nennt das Konzept aber ausdrücklich die »Tragödie von Katyn«. Noch in jüngster Zeit hat es offiziell geduldete Rechtfertigungs- und Leugnungsversuche der sowjetischen Verantwortung für dieses Massaker gegeben. In Bezug auf die innere Entwicklung kritisiert das Konzept die forcierte Industrialisierungspolitik Stalins, deren Preis sich als »überaus hoch« erwiesen habe; und es nennt die gewaltsame Kollektivierung eine »Tragödie für das Land«, da sie mit Hilfe »grausamer Repressionen« durchgeführt worden sei. Daneben beklagt es die ideologische Zensur, die Suche nach »Volksfeinden« und die Massenrepressionen der 1930er-Jahre.

Für Irritation sorgt die Charakterisierung der Breschnew-Ära als die »stabilste in der Geschichte unseres Landes im 20. Jahrhundert«, doch wird diese Feststellung durch den Verweis auf die Ende der 1970er-Jahre einsetzende wirtschaftliche und ideologische Krise modifiziert. Das systembedingte Fehlen an technischen Innovationen und der dadurch beförderte Rückstand im IT-Bereich gegenüber dem Westen werden ebenso erwähnt wie die Dissidentenbewegung, Alexander Solschenizyn und Andrej Sacharow. Auch wenn man letztlich die genauen Formulierungen in den späteren Schulbüchern abwarten muss, ist ein Bemühen um eine differenzierte Darstellung der sowjetischen Vergangenheit erkennbar.

Partielle »Entrussifizierung« des historischen Narrativs

Das grundlegend Neue an dem Konzept liegt deshalb nicht in der Darstellung der Sowjetzeit, sondern in dem formulierten Ansatz. Denn er bedeutet – zumindest auf dem Papier – einen Bruch mit der traditionellen russischen und sowjetischen Schulbuchgeschichtsschreibung. Er markiert den Beginn einer »Entrussifizierung« des historischen Narrativs. Das ausgegebene Ziel ist nun eine multinationale und multikulturelle Geschichte des Gesamtstaats. Folglich sollen nicht nur die ethnischen Russen und die Ostslawen, sondern auch andere in Russland lebende Nationalitäten Berücksichtigung finden. Dies ist eine Abkehr von dem im Zweiten Weltkrieg nach Stalins Vorgaben propagierten Konzept des Sowjetpatriotismus, das nach dem Untergang der Sowjetunion (nun bezogen auf die Russländische Föderation) weitgehend beibehalten wurde. In Wirklichkeit handelte es sich bei diesem Patriotismus aber um einen großrussischen Nationalismus, denn die stalinistische Propaganda schrieb der russischen Mehrheitsnation in der imperialen und kolonialen Tradition des Zarenreichs gegenüber den anderen Nationalitäten die führende Rolle zu. Den Tataren, beispielsweise, ließ Stalin sogar per ZK-Beschluss jegliche historische »Progressivität« absprechen.

Es war deshalb kein Zufall, dass Putin seinen Vorschlag für das Einheitsgeschichtsbuch auf einer Sitzung des »Rates für interethnische Beziehungen beim Präsidenten der Russländischen Föderation« verkündete. Die Schule, führte Putin damals aus, habe eine wichtige Rolle, um eine Kultur des Austausches zwischen Vertretern unterschiedlicher Nationalitäten herauszubilden und eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts zu verfestigen. Deshalb solle das Schulbuch im Rahmen einer geschlossenen Logik die russländische Geschichte lückenlos darstellen und zeigen, dass sich das Schicksal des Landes auf der Einheit verschiedener Völker, Traditionen und Kulturen gründet. Bestehende Widersprüche zwischen verschiedenen nationalen Narrativen sollen aufgelöst oder zumindest sichtbar gemacht werden. Ein Beispiel: Die Turko-Mongolen, die über die Rus im 13. Jahrhundert eine Tributherrschaft errichtet hatten, charakterisieren die traditionellen Schulbücher gewöhnlich als blutrünstige, wilde Barbaren und bezeichnen sie mit dem allerdings auch in den Quellen verwandten Begriff »Tataren«. Zudem werden diese für viele negative Entwicklungen verantwortlich gemacht, für die Abkoppelung Russlands vom übrigen Europa, für die notorische Rückständigkeit und sogar für den Mangel an demokratischer Kultur. Die Geschichtsbücher der Republik Tatarstan und anderer Turkvölker, die sich als Nachfahren jener mittelalterlichen Turko-Mongolen verstehen, sehen aber gerade in der Zeit der so genannten »Goldenen Horde« eine Hochphase ihrer eigenen, hochentwickelten »Zivilisation«, die einen durchaus positiven Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte Russlands gehabt habe. Mit der Aufhebung solcher Widersprüche möchte Putin einen »einheitlichen geisteswissenschaftlichen Raum unserer multinationalen Nation« schaffen, so dass in Wladiwostok im Geschichtsunterricht genau das gleiche gelehrt wird wie in Moskau, Murmansk oder Grosnyj.

Nationale Spannungen und demographischer Wandel

Was als eine geschichtspolitische Zwangsmaßnahme aussieht, macht unter praktischen Gesichtspunkten durchaus Sinn. Denn Mobilität und Binnenmigration haben in Russland zuletzt deutlich zugenommen. Aus ähnlichen Gründen diskutiert man auch in Deutschland über eine Harmonisierung der Lehrpläne der sechszehn Bundesländer. Für die Abkehr vom rein national-russischen Narrativ zu einer in höherem Maße multinationalen Perspektive gibt es aber noch andere gewichtige Gründe. Auch Russland unterliegt einem tiefgreifenden demographischen Wandel. Während die Geburtenrate bei der ethnisch russischen Bevölkerung deutlich sinkt, steigt sie vor allem bei den überwiegend muslimischen Nationalitäten. Mittel- und langfristig nimmt deshalb der russische Bevölkerungsanteil prozentual ab und vor allem in den Schulen nimmt der Anteil nichtrussischer, muslimischer Schüler erheblich zu. Diese Entwicklung geht mit einem wachsenden nationalen Selbstbewusstsein der nichtrussischen Nationalitäten einher, das bis hin zu Unabhängigkeitsbestrebungen reicht. Diese Entwicklung drückt sich auch in der Schaffung eigener Nationalgeschichten aus, die sich bewusst von der imperialen russischen Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts absetzen. Eine solche Konfrontation der historischen Narrative verschärft indes die vorhandenen nationalen Spannungen in Russland weiter.

Entsprechende Konflikte sind auch auf die gestiegene Mobilität zurückzuführen. So leben lediglich 30 % der tatarischen Bevölkerung in der Republik Tatarstan. Die Tataren in den übrigen Landesteilen möchten aber auch nicht, dass ihre Kinder in der Schule lernen, sie seien Nachfahren primitiver Barbaren. Auf der anderen Seite verfestigen bei der ethnisch russischen Bevölkerung die in deren Nationalgeschichte tradierten Stereotypen die Vorbehalte gegenüber den Binnenmigranten. In Moskau vertreten laut einer Umfrage 62 % der Bevölkerung die Ansicht, die Vielzahl der Nationalitäten bringe dem Land mehr Schaden als Nutzen. 88 % der Moskauer sind sogar der Meinung, man müsse den Zuzug von Angehörigen einiger Nationalitäten begrenzen. Die jüngsten nationalistischen Demonstrationen in Moskau mit beachtlichem Zulauf und die gewalttätigen Auseinandersetzungen waren für Putin immerhin so beunruhigend, dass er sie in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung am 12. Dezember 2012 ausdrücklich verurteilte und zur Verteidigung des Friedens unter den unterschiedlichen Nationalitäten aufrief.

Post-imperiale Geschichtsschreibung mit Formelkompromissen

Wladimir Putin ist allerdings nicht über Nacht zu einem Multikulti-Anhänger geworden. Aber er möchte in eben dieses Geschichtsbuch als derjenige eingehen, der dem Land nach den »Wirren« der Jelzin-Ära die Stabilität zurückgegeben und dem Separatismus Einhalt geboten hat. Dazu ist aber ein gewisser Interessensausgleich zwischen den verschiedenen Nationalitäten in Russland unabdingbar. Der Ansatz, beim Geschichtsunterricht den rein russischen Erzählstrang zu verlassen und auch die anderen Nationalitäten zu berücksichtigen, ist jedoch nicht neu. Fachkreise diskutieren dies seit den 1990er-Jahren, und in Kooperation mit dem Europarat entstanden Vorschläge, die einige Lehrbücher bereits recht vielversprechend umsetzen. Doch es gibt auch Widerstände. Leonid Kazwa, Ko-Autor einer Schulbuchreihe, vertritt beispielsweise die Ansicht, die Geschichte der nichtrussischen Nationalitäten bräuchte nur dann behandelt zu werden, wenn es für das Studium der Geschichte der Russen notwendig sei.

Demgegenüber plädiert das neue Schulbuchkonzept für einen »Dialog der Kulturen in einem einzigen historischen Raum«. Dies solle den Schülern das »Gefühl der Zugehörigkeit zu einem sehr reichen, gemeinsamen kulturellen und historischen Raum« vermitteln. Die Erziehungsziele sind laut Konzept Patriotismus, Bürgersinn und Toleranz sowie das erwähnte »positive Pathos«. Weiter heißt es: »Tragödien darf man nicht verschweigen, doch ist es notwendig zu unterstreichen, dass das russische Volk und andere Völker unseres Landes die Kräfte gefunden haben, gemeinsam die ihnen zuteil gewordenen schweren Erfahrungen zu überwinden.« Bei der Vermittlung von Russlands Multinationalität und Multikonfessionalität sei »zu betonen, dass der Anschluss an Russland und die Zugehörigkeit zum russländischen Staat eine positive Bedeutung für die Völker unseres Landes hatten: Sicherheit vor äußeren Feinden, Beendigung innerer Wirren und Fehden, wirtschaftliche Entwicklung, Verbreitung von Aufklärung, Bildung, Gesundheitsfürsorge usw.«

Solche Sätze entsprechen allerdings weniger dem modernen Ansatz eines interkulturellen Dialogs, sondern dem kolonialzeitlichen Bild einer russischen Zivilisierungsmission gegenüber den vermeintlich unzivilisierten Völkern des »Ostens«. Zugleich vermittelt diese Herangehensweise einen Geschichtsdeterminismus, als ob es keine andere Entwicklungsmöglichkeit als die Entstehung des russländischen Vielvölkerstaats gegeben hätte. Doch Putin und die von ihm beauftragte Arbeitsgruppe haben nicht nur die Gebiete und Völker, die heute zur Russländischen Föderation gehören, im Blick, sondern auch die ehemaligen Sowjetrepubliken. Denn für Putin bedeutet der Zerfall der Sowjetunion »die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts«. Mit der Gründung der »Eurasischen Union«, die er zum wichtigsten außenpolitischen Projekt seiner dritten Amtszeit ausgerufen hat, versucht er diese Entwicklung durch eine neue, post-imperiale Form der politischen und wirtschaftlichen Integration jedenfalls ein Stück weit zu korrigieren. Das Einheitsgeschichtsbuch dient deshalb auch dazu, entsprechende geschichtspolitische Signale in diese Richtung zu senden, um den angesprochenen Staaten eine Wiederannäherung an Russland zu erleichtern. Folglich kam bereits im Dezember 2013 aus Moskau der Vorschlag, auf der Grundlage des entwickelten Konzepts ein Einheitslehrbuch für die noch gar nicht existente »Eurasische Union« zu erarbeiten.

Aber auch auf die Ukraine gehen die Autoren geschichtspolitisch einen Schritt zu. Alexander Tschubarjan, Akademiehistoriker und trotz seiner 82 Jahre die geschichtspolitische Allzweckwaffe des Kremls, meldete am 16. Januar 2014 dem Präsidenten, man habe bei der Frage des Ursprungs des »altrussischen« Staats einen Kompromiss gefunden. Für ukrainische Nationalhistoriker gehört die so genannte Kiewer Rus – als Begriff eine Erfindung der Historiographie des 19. Jahrhunderts – exklusiv zur ukrainischen Geschichte, denn ihrer Meinung nach sind die großrussische Nation und das spätere Moskauer Reich völlig unabhängig davon entstanden. Russische Historiker postulieren dagegen einen gemeinsamen »altrussischen Ethnos«. Vor allem hieraus leiten die Machthaber in Russland bis heute ihre Großer-Bruder-Attitüde gegenüber der Ukraine ab. Das Lehrbuchkonzept folgt zwar weitgehend dem traditionellen russischen Narrativ, vermeidet aber die in der Ukraine anstößigen Begriffe. Diese finden sich stattdessen auf der Liste »Schwierige Fragen der Geschichte Russlands« wieder, die bislang zwanzig Punkte umfasst, aber nicht als abgeschlossen gilt. Das Verfahren der Identifizierung und der gesonderten Erörterung »schwieriger Fragen« war in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der polnisch-russischen Kommission für schwierige Fragen erfolgreich praktiziert worden, um geschichtspolitische Minen zu entschärfen.

Ähnliche Formelkompromisse finden sich auch zu anderen kritischen Punkten. Auf Drängen der Historiker aus Tatarstan entfällt künftig der Begriff »Tatarenjoch« und wird durch »System der Abhängigkeit der russischen Länder von den Khanen der Goldenen Horde (sog. ›Joch der Goldenen Horde‹)« ersetzt. Dies vermeidet zwar eine Stigmatisierung der heutigen Tataren, in der Substanz ändert sich das traditionelle Narrativ, soweit es sich aus dem Konzept herauslesen lässt, aber nur marginal.

Patchwork-Historiographie anstelle einer integrierten Geschichte

Dass letztlich nicht mehr bei dem Schulbuchkonzept herausgekommen ist, liegt an der Vorgehensweise des Arbeitsgruppe. Die Federführung bei der Ausarbeitung des ersten Konzeptentwurfs lag in der Hand des Instituts für russländische Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Moskau, ohne Beteiligung nichtrussischer Historiker. Folglich entspricht der Text weitgehend dem traditionellen national-russischen Narrativ und berücksichtigt kaum andere Völkerschaften. Dieser Entwurfstext wurde am 1. Juli auf mehreren Internetseiten veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Putin wünscht ein transparentes Verfahren und möchte die Bevölkerung einbeziehen. Denn das Einheitslehrbuch soll, wie es Sergej Naryschkin, Duma-Präsident und Vorsitzender der Arbeitsgruppe, formulierte, einen »Gesellschaftsvertrag über die Wahrnehmung der Vergangenheit« darstellen. Parallel machte sich die Arbeitsgruppe, die aus den zuständigen Fachministern, Vertretern des Kremls, Lehrern und Historikern besteht, an die Überarbeitung des Entwurfs. Es ist vor allem auf die drei nichtrussischen Historiker Chirsi Amirchanow aus Dagestan sowie Ramil Chajrutdinow und Rafael Chakimow aus Tatarstan zurückzuführen, dass das schließlich beschlossene Lehrbuchkonzept die Geschichte der nichtrussischen Nationalitäten stärker berücksichtigt.

Legt man beide Texte nebeneinander, lässt sich die Vorgehensweise der Arbeitsgruppe leicht nachvollziehen: Um das traditionelle Narrativ herum wurden die Hinweise zu den anderen Nationalitäten einfach nur eingefügt. Dies unterbricht und erweitert den bisherigen Erzählstrang, verändert ihn aber nicht grundsätzlich. Das Ergebnis ist eine Patchwork-Geschichte, die nicht frei von inneren Widersprüchen ist. Denn bei der Darstellung der außenpolitischen Entwicklungen behält das Konzept die national-russische Perspektive bei. Die Herrschaft der »Goldenen Horde« und den zum Teil freiwilligen Übertritt einiger Fürstentümer der Rus unter polnische und litauische Oberhoheit im Mittelalter bringt das Konzept auf den Nenner »Ausländerherrschaft«, Polen und Litauen werden sogar explizit und eindeutig negativ konnotiert als »andersethnische Staatsgebilde« charakterisiert. Die während der »Zeit der Wirren« Anfang des 17. Jahrhunderts im Raum stehende Zarenwahl des polnischen Königs oder seines Sohnes betrachtet das Konzept als einen drohenden »Verlust der nationalen Unabhängigkeit«, obwohl den Polen die Krone von Teilen der russischen Elite, darunter auch vom Vater des späteren ersten Romanow-Zaren, angetragen wurde. Die russische Expansion nach Westen und Osten wertet das Konzept dagegen durchweg positiv: Die Eroberung der tatarischen Khanate von Kasan und Astrachan in der Mitte des 16. Jahrhunderts? »Ein bedeutender Erfolg.« Die Einverleibung des Baltikums unter Peter dem Großen? Sie diente der Verbesserung der Grenzsicherheit (desselben Arguments bediente sich auch Stalin bei seiner Annexion der baltischen Republiken). Die russische Beteiligung an den Teilungen Polens? Das war die Erfüllung von Russlands historischer Mission des Sammelns des ganzen Erbes der Kiewer Rus. Dass in jedem dieser Fälle andere Nationen ihre Unabhängigkeit verloren, bleibt völlig unberücksichtigt.

Bei dem Konzept handelt es sich daher nicht um eine moderne integrierte Geschichtsschreibung mit einem multiperspektivischen Ansatz. Vielmehr ist es der Versuch, die russische Imperialgeschichte zu rechtfertigen und auf diese Weise den heutigen russländischen Vielvölkerstaat zu legitimieren. Die post-imperiale Attitude, die hinter diesem Konzept steht, offenbarte sich bei Putins wohl ungeplantem verbalem Ausbruch während seines Treffens mit der Arbeitsgruppe am 16. Januar 2014. Es sei, als ob jemand einem ins Gesicht spucken würde, erregte sich der Präsident, wenn einige Schulbücher die Expansion des sowjetischen Machtbereichs nach Osteuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs kritisch darstellen. Was wäre, fragte er, die Folge gewesen, wenn der »Faschismus« den Krieg gewonnen hätte? Doch Putins Argumentation verkennt, dass es gar nicht um diese Alternative geht. Denn nach dem Sieg hätte Stalin fraglos die Möglichkeit gehabt, den Nationen Ostmittel- und Südosteuropas ihr Recht auf Selbstbestimmung zu gewähren und sie nicht gewaltsam dem Sowjetimperium einzuverleiben. Die Ambivalenz bei der Betrachtung der Stalinzeit, die sich zunehmend in Russland durchsetzt und die einerseits aus dem berechtigten Stolz über den errungenen Sieg im Zweiten Weltkrieg, andererseits aber auch aus der Erinnerung an die stalinistischen Repressionen und an den Gulag besteht, umfasst bislang nicht die ebenfalls kritisch zu beurteilende sowjetische Imperialpolitik. Auch die Imperialpolitik des Zarenreichs wird nicht in Frage gestellt. Denn das ist ganz offensichtlich geschichtspolitisch unerwünscht.

Insgesamt hinterlässt daher das Konzept des einheitlichen Lehrbuchs für den Geschichtsunterricht einen zwiespältigen Eindruck. Die anfängliche Befürchtung, dass mit dem Schulbuch eine Rehabilitierung Stalins und des sowjetischen Systems verbunden sein würde, bestätigt sich nicht. Der formulierte Ansatz, eine multinationale, multikulturelle und multikonfessionelle Perspektive einzunehmen, gibt sich zwar modern und deutet einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der russischen Schulbuchgeschichtsschreibung an, doch zeigen sich bei der Umsetzung gerade in dieser Hinsicht deutliche Defizite. Das traditionelle national-russische Narrativ wird lediglich um einige Aspekte erweitert, bleibt aber bis auf Kompromisse und Modifizierungen bei einigen Formulierungen weitgehend unangetastet. Das Resultat ist ein post-imperiales Geschichtsbild, das dadurch vielmehr recht anschaulich auf geschichtspolitische Ebene die Ambitionen des russischen Präsidenten reflektiert.

Lesetipps / Bibliographie

  • Meeting with Designers of a New Concept for a School Textbook on Russian History. January 16, 2014, 15:45. The Kremlin, Moscow. <http://eng.kremlin.ru/news/6536>
  • Kaplan, Vera: History Teaching in Post-Soviet Russia. Coping with Antithetical Traditions, in: Ben Eklof, Larry E. Holmes and Vera Kaplan (Hg.): Educational Reform in Post-Soviet Russia. Legacy and Prospects, London 2005, S. 247–271.
  • Shnirelman, Victor: Stigmatized by History or by Historians? The Peoples of Russia in School History Textbooks, in: History and Memory, 21.2009, H. 2, S. 110–149.
  • Zvereva, Galina: Die Konstruktion einer Staatsnation. Geschichtslehrbücher für das neue Russland, in: Lars Karl, Igor J. Polianski (Hg.): Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland (= Formen der Erinnerung; 40), Göttingen 2009, S. 87–118.

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