Andere Realitäten

Von Jens Siegert (Moskau)

Langsam, immer noch erstaunlich langsam angesichts der wohl bevorstehenden Annexion der Krim durch Russland, ändert sich die Wahrnehmung im Westen, wie mit Russland und seinem Präsidenten Putin denn nun umzugehen sei. Ich meine damit nicht diejenigen, die es immer schon sicher wussten: die einen, dass der russische Präsident ein »lupenreiner Demokrat« sei, oder andere, dass er ein ewiger KGB-Agent sei, der sich aus dem »Reich des Bösen« herübergerettet hat. Wer in so holzschnittartigen Kategorien urteilt, hält Russland und seine Menschen für einen hoffnungslosen Fall, weder in der Lage zu demokratischer Entwicklung, noch in irgendeiner Weise verstehbar.

Ich meine diejenigen, die sich seit Jahren damit abmühen, die russische Politik zu verstehen, ihr die eine oder auch die andere Ratio zuzuordnen, Angebote zu machen, enttäuscht zu werden oder erfreut, kurz, all diejenigen, die Russland als ein Land wie jedes andere behandeln, das nur vielleicht ein wenig zu groß geraten ist und eine etwas zu bittere Vergangenheit hat.

Eine Aussage, von der niemand weiß, ob sie überhaupt so und von der Person, der sie zugeschrieben wird, gemacht wurde (sie wird uns durch die New York Times nur vom Hörensagen übermittelt), ist das vielleicht deutlichste Anzeichen für diese Wahrnehmungsverschiebung. Angela Merkel soll Anfang voriger Woche, kurz nach dem Krimeinmarsch, in einem Telefonat mit Barack Obama über Putin gesagt haben, sie sei nicht sicher ob er noch »in touch with reality« sei, er lebe womöglich »in another world«.

Allgemein wurde das schnell so interpretiert, dass Merkel Putin für nicht mehr ganz zurechnungsfähig halte. Doch das ist nur eine mögliche Sichtweise, die sich auf die Worte »reality« und »world« konzentriert. Damit wäre einfach nicht mehr verständlich, was Putin denkt und macht und warum er es denkt und macht. Man hätte es mit einem im Wortsinn »Verrückten« zu tun. Und das wäre sehr schwer.

Eine andere Sichtweise würde sich auf das »another« konzentrieren. Und dann versuchen, diese »andere« Welt oder Realität zu ergründen. Ansätze dafür gibt es auch in der öffentlichen Debatte. Julia Ioffe zum Beispiel, die hellsichtige Russland-Korrespondentin von The New Republic, gibt eine ganz einfache Antwort: Putin habe seine Truppen in die Ukraine einmarschieren lassen, weil er es kann.

Sie bezieht sich dabei wohl auch auf jene, die Putins Machtelite (und die meisten Menschen in Russland mit ihm) schlicht für Leute des 20. oder gar 19. Jahrhunderts halten. Sie, so geht das Argument, seien mit ihrem geopolitischen Gleichgewichtsdenken sowohl rechtlich als auch moralisch in einer Zeit stehen geblieben, in der Kriege in Europa noch für führbar gehalten wurden. Zu dieser Überlegung gibt es noch eine Kehrseite. Sie schilt Putin nicht für diese (angebliche) Rückständigkeit (oder Rückwärtsgewandtheit), sie bewundert ihn dafür (wenn auch mitunter nur heimlich). Denn Putin habe erkannt, dass der Westen (besonders natürlich Europa und insbesondere Deutschland) sich mit seinem Verlassen auf eine Verrechtlichung internationaler Beziehungen und seiner Vernachlässigung alles Militärischen in ein Wolkenkuckucksheim verrannt habe (hier klatschen alle Geopolitiker von Putin bis Kissinger).

All das stimmt: die Julia-Ioffe-Feststellung, die Rückwärtsgewandtheit, die Feststellung, dass Geographie immer noch, wenn auch angesichts der technischen Entwicklung ein wenig weniger als früher, eine wichtige Rolle spielt. Nur erklärt es auch zusammen genommen nicht oder zumindest mir nicht ausreichend, warum sich Putin offenbar zu dem riskanten Schritt entschlossen hat, die Krim zu annektieren (und nicht »nur« von der Ukraine abzuspalten und zu einem Protektorat á la Abchasien oder Südossetien zu machen), also die seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende und auf der Unverletzlichkeit der Grenzen aufgebaute internationale Sicherheitsordnung ins Wanken zu bringen.

Angenommen aber, Putin lebe tatsächlich in einer anderen Realität, die er mit den meisten Menschen in Russland teilt. Mit Realitäten ist es ja so ein Ding. Was für die einen real ist, mag für andere ein Hirngespinst sein. Wenn aber solch ein »Hirngespinst«, also eine aus westlicher, »aufgeklärter« Sicht erstaunlich nahe an Wahnvorstellungen herankommenden Welt-Vorstellung, nur von genügend Menschen genügend geglaubt wird, dann werden sie (oft erschreckend) real.

Woraus besteht also »Putins Realität«? Putin ist es erneut (wie vor ihm schon vielen anderen russischen Herrschern) gelungen, den tiefen Alltagsgraben zwischen den Menschen und dem Staat in Russland ideologisch zu überbrücken. Dabei hat er sich einer Reihe von Vorstellungen bedient, die weit in die russische Geschichte zurück reichen. Da ist zum einen die Vorstellung einer großen Mehrheit, wohl zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung, von Russland als einer bewaffneten Großmacht. Die Bewaffnung ist wichtig, denn die Welt ist gefährlich. Hinzu kommt eine hypertrophierte Überzeugung, dass fast alles, was auf der Welt passiert, etwas mit Russland zu tun habe und im Zweifel bewusst gegen das Land gerichtet sei.

Zu dieser Vorstellung einer bewaffneten Großmacht gehört auch die fast mythische Überhöhung der Armee, die heldenhaft ist und edel, deren Soldaten als mit einer vormodern anmutenden Ehrhaftigkeit ausgestattet vorgestellt werden. Die moralische Rechtfertigung einer solchen Sicht liegt immer noch im heldenhaften Freiheitskampf der Roten Armee gegen die nationalsozialistische Aggression. Daraus wird dann in Russland zweierlei abgeleitet. Zum einen eine eigene »antifaschistische« Mission. Zum anderen die Gewissheit, selbst nicht den menschenverachtenden Schimären rechtsnationalistischer Ideologien erliegen zu können. »Faschisten« sind also immer die anderen, diesmal die Ukrainer.

In der Vorstellung einer Mehrheit der Menschen in Russland steht das Staatsoberhaupt außerhalb der Gesellschaft und über dem Gesetz. Es hat alle Macht (alles Recht) und muss sich deshalb nicht verantworten Es muss sich mit niemandem beraten und darf, ja soll alleine entscheiden. Dieser Vorstellung der (Über-)Macht des Staates stellen diese Menschen ihre eigene Jämmerlichkeit (russisch: nitschtoschestwo) entgegen, die vor dem Weltenschicksal nur durch die Größe des Landes aufgehoben wird. Das enthebt dann die Menschen der Notwendigkeit, sich (auch moralisch) entscheiden zu müssen (da von ihnen ohnehin nichts abhängt). Und damit sind sie auch nicht verantwortlich. Die Lebenserfahrung der Menschen in Russland rät ohnehin dazu, große Widersprüche lieber nicht aufzulösen, sondern mit ihnen zu leben (weil sich oft nur so überleben ließ). Man passt sich halt an.

Dank dieser Lebenserfahrungen, deren Projektion nach außen und dank eines seit Jahren donnernden Propagandagetöses, das Russland als eine von Feinden umzingelte Festung des Guten und Wahren in einer grundbösen Welt darstellt, ist es möglich geworden, dass heute die meisten Menschen in Russland so ziemlich genau vom Gegenteil dessen überzeugt sind, was ich für real halte: Ich denke, dass es in der Ukraine einen Aufstand gegen eine korrupte und inkompetente Regierung gegeben hat. In Russland herrscht die Meinung vor, es habe einen vom Westen gesteuerten, »faschistischen« Staatsstreich gegeben. Ich glaube, dass ethnische Russen in der Ukraine nicht um Leib und Leben fürchten müssen, nur weil sie ethnische Russen sind. Eine Mehrheit in Russland ist von dieser Gefahr überzeugt. Ich glaube, dass es sich bei den Ereignissen in der Ukraine um vorrangig innerukrainische Auseinandersetzungen handelt, zwar mit äußeren Akteuren, deren Entwicklung aber vor allem in der Ukraine und von Ukrainern vorangetrieben wird. Viele Russen negieren diesen inneren Zusammenhang und machen »äußere Kräfte« verantwortlich. Ich bin davon überzeugt, dass es so etwas wie Demokratie gibt. Für eine Mehrheit in Russland ist Demokratie nur eine besonders abgefeimte Variante der Herrschaftsausübung und eine Waffe des Westens zur Unterdrückung fremder Völker, zuvörderst Russlands. Kurz: Ich glaube an den Eigensinn von Menschen und Gemeinschaften. In Russland können sich viele diesen Eigensinn nur als anarchischen Ausbruch vorstellen.

Das ist die Realität, in der Putin nicht nur lebt, sondern die er (mit) erzeugt hat (und wenn nicht erzeugt, dann doch sehr aktiv zur dominierenden gemacht). Wahrscheinlich glaubt er sie (zumindest teilweise) selbst. In dieser Realität kann durchaus richtig sein (im ethischen wie im realpolitischen Sinn), was er macht, wenn er an der Macht bleiben will. Es ist vor allem aber eine zutiefst zynische Realität, zynisch nicht nur in Bezug auf (Macht-)Politik im Inneren und nach außen, sondern zynisch der Möglichkeit von ethisch und moralisch begründetem Handeln (in der Politik, also in der realen Welt) gegenüber.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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