Die Relevanz der Diskrepanz
Die regionalen BIP- und Einkommensdaten Russlands verdeutlichen das Ausmaß der Einkommensdisparitäten zwischen den 85 Föderationssubjekten Russlands (einschließlich der international nicht anerkannten Eingliederung der Republik Krim sowie der Stadt föderaler Bedeutung Sewastopol). Sie bestätigen die Konzentration des Wohlstandes in sehr wenigen Regionen. Gleichwohl lassen die Zahlen auch eine eher vorsichtige Interpretation zu, nämlich einen (langfristigen) Trend zu einer gewissen Annäherung bei den Lebensstandards in den Regionen Russlands (also der Niveaus von BIP pro Kopf oder Einkommen). Andere Studien hingegen, etwa der OECD oder auch einiger russischer Wissenschaftler, sehen aus längerfristiger Perspektive eher keine fassbare bzw. empirisch belegbare signifikante Angleichung der regionalen BIP- und Einkommensniveaus in Russland, ja teils sogar einen Trend zu steigender Divergenz.
Die Reduzierung der regionalen Einkommensdivergenzen ist sowohl von akademischer als auch von praktischer Relevanz. Bis zur globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 konnte Russland ein sehr hohes durchschnittliches jährliches BIP-Wachstum (ca. 4–6 Prozent) verzeichnen. Das durchschnittliche Einkommensniveau, gemessen als BIP-pro-Kopf für das Gesamtland, ist erheblich gestiegen und hat damit kritische Entwicklungsschwellen überschritten. Einige ökonomische Theorien (etwa die These von Simon Smith Kuznets) würden ab einem bestimmten Entwicklungsniveau erwarten lassen, dass sich auch die sehr ungleichen (regionalen) Einkommen angleichen, bzw. dass sich die erheblichen Einkommensdisparitäten verringern. Dieser Erwartung liegt die Annahme zugrunde, dass sich idealtypischerweise in einem Entwicklungs- bzw. Industrialisierungsprozess mit der Zeit die (regionalen) Einkommensunterschiede in einem Land zunächst verstärken um dann wieder abzunehmen. Traditionelle Konvergenztheorien legen ebenfalls nahe, dass im Falle einer gewissen makroökonomischen Stabilisierung (die in Russland in den letzten Jahren zu beobachten war) gerade deutlich ärmeren Regionen schneller wachsen sollten als reichere Regionen.
Die Diskrepanz der regionalen Lebensstandards in einem stark zentralisierten Flächenstaat wie Russland ist auch eine bedeutsame politische und wirtschaftliche Frage. Für Wirtschaftstreibende in Russland ist ein Verständnis der erheblichen regionalen Einkommensdiskrepanzen und ihrer Implikationen und Trends von beträchtlicher Relevanz, da unterschiedliche Marktsegmente differenzierter regionaler Markstrategien bedürfen. Ein im sehr wohlhabenden Moskau oder Sankt Petersburg funktionierendes Geschäftsmodell ist nicht unbedingt im Rest des Landes replizierbar. Wirtschaftsakteure, deren Ziel die Erschließung des Binnenmarktes abseits der zwei Megazentren Moskau und Sankt Petersburg ist, müssen prosperierende bzw. aufstrebende Regionen – von denen es einige wenige gibt – von weniger prosperierenden Regionen differenzieren können, um erfolgreich am Markt zu bestehen.
Aus politischer Sicht kann eine zu große regionale Einkommensdisparität zu erheblichen sozialen und innenpolitischen Spannungen führen. Aufgrund der Erwartungen der Bevölkerung – vor allem der ärmeren Bevölkerungsschicht sowie in den ärmeren Regionen – an die staatlichen Steuerungsmöglichkeiten, kann eine sehr hohe regionale Einkommensdisparität sogar als Politikversagen gewertet werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in fast jedem föderalen Staatsgebilde und auch in Russland es ein mehr oder wenig klar definiertes Politikziel einer gewissen Angleichung der regionalen Lebensstandards gibt. Besonders explizit wird das in Russland regelmäßig unter anderem für den Fernen Osten formuliert.
Regionale Wohlstands- bzw. Einkommenstrends
Die Entwicklung der regionalen Wohlstands- und Einkommensverteilung in Russland kann in zwei Phasen untergliedert werden. Zwischen 1998 und 2006, also vor allem nach dem Ende der tiefen Umgestaltungsrezession der 1990er Jahre (die u. a. in der Wirtschafts- und Finanzkrise von 1998/1999 kulminierte) haben sich die regionalen Einkommensunterschiede zwischen den Regionen Russlands deutlich verstärkt (gemessen am BIP pro Kopf in Rubel). Während das regionale BIP-pro-Kopf in der ärmsten Region im Jahr 1998 noch etwa 6 Prozent des BIP pro Kopf der reichsten Region ausmachte, betrug es 2004 gerade einmal 2,4 Prozent und auch 2006 nur 2,6 Prozent. Seit 2006 hat sich diese Relation dann leicht zu Gunsten der ärmeren Regionen verbessert und lag 2012 wieder knapp über 5 Prozent. Eine gleiche Entwicklung zeigt der Verlauf des regionalen BIP-pro-Kopf in der ärmsten Region im Vergleich zum russischen Landesdurchschnitt auf. Im Jahr 1998 machte diese Kennziffer 20–25 Prozent aus, in den Jahren 2004 und 2006 ist sie bis auf Werte um 15 Prozent abgesunken (in den Jahren 2004 und 2006). Seit dem Jahr 2008 hat diese Kennziffer wieder etwas mehr als 20 Prozent erreicht.
Angesichts der skizzierten Entwicklung im Zeitablauf wird deutlich, dass sich die BIP-pro-Kopf-Divergenz zwischen armen und reichen Regionen Russlands vor allem in den extremen rohstoffgetriebenen Boomjahren auseinanderbewegt hat, während sie vor allem seit den Krisenjahren 2008/2009 und auch gegenwärtig wieder etwas zurückgeht. Dieser jüngste Trend der Angleichung wird allerdings hauptsächlich durch BIP- bzw. Wohlstandsverluste in den reichsten Regionen beeinflusst, die stärker von Finanzmarktturbulenzen und damit auch dem Verfall von Rohstoff- und Vermögenswertpreisen betroffen sind; es handelt sich hier weniger um signifikante BIP-Zuwächse (also ein Aufholen) in den Regionen mit sehr niedrigen BIP-pro-Kopf Niveaus. Das aktuelle Umfeld der gesamtwirtschaftlichen Schwäche (2014 wird ein Jahr der gesamtwirtschaftlichen Stagnation, vorwiegend durch rückläufige Investitionen getrieben) sowie der jüngste Druck auf Vermögenswertpreise in Russland könnte erneut besonders die wohlhabenderen Regionen betreffen und damit rein statistisch die weniger entwickelten Regionen im Vergleich zu diesen etwas besser dastehen lassen. Wobei dies dann wieder kein nachhaltiges Aufholen der ärmeren Regionen wäre, sondern lediglich ein Folgeeffekt der Risiken der einseitigen Wirtschaftsstruktur und extremen Wohlstandskonzentration in Russland.
Regionale Auffächerung und Einkommensniveau im internationalen Vergleich
Die extreme Kennzahl der Unterschiede zwischen ärmster und reichster Region in Russland ist verzerrt durch Extremwerte in beide Richtungen. Die Extreme nach oben werden vor allem durch die Metropolregion Moskau sowie einige Rohstofffördergebiete im Ural und im Fernen Osten (Gebiete Magadan, Sachalin und Tjumen, die Republiken Komi und Republik Jakutien (Sacha), der Autonome Bezirk der Tschuktschen) dargestellt; während zu den die Extremen nach unten Provinzen wie die Republiken Dagestan, Tywa, Adygeja, Altai, Inguschetien, Nordossetien-Alanien, Tschetschenien und Kabardino-Balkarien und das Gebiet Iwanowo gehören.
In absolute Einkommensniveaus übersetzt bedeuten die zuvor skizzierten extremen Wohlstandsdiskrepanzen: Das Pro-Kopf-BIP von 2012 in den wenigen sehr wohlhabenden Regionen Russlands (zu Kaufkraftparitäten) lag etwa auf dem durchschnittlichem Niveau der EU (etwa 30.000 US-Dollar), in einzelnen Rohstoffregionen werden sogar Werte von 40.000 US-Dollar oder mehr erreicht, während das rechnerische durchschnittliche Pro-Kopf-BIP der restlichen Regionen Russlands 2012 im Schnitt etwa auf dem Niveau eines Landes wie Ägypten oder der Ukraine lag (bei 4.000 bis 6.000 US-Dollar). Die ärmsten Regionen Russlands (beispielsweise Dagestan, Nordossetien-Alanien, Tywa) weisen natürlich noch geringere Werte (um die 2.000 US-Dollar) auf. An Hand der skizzierten Wohlstandsniveaus wird auch deutlich, dass eine Region wie Moskau (mit rund 11 Millionen Einwohnern) ein absolutes nominales BIP (in US-Dollar oder Euro) aufweist, das mit dem eines kleineren wohlhabendenden westeuropäischen Landes wie Österreich, Belgien oder Schweden bzw. mit dem eines größeren aufstrebenden EU-Landes wie Polen zu vergleichen ist. Insofern wird auch deutlich, warum Russland für viele internationale Firmen, mit einem Fokus auf Moskau und ggfs. noch ein paar weitere reichere Regionen, durchaus ein sehr interessanter Markt ist – trotz der erheblichen Einkommensunterschiede zum Rest des Landes. Zumal die deutliche Neigung zum demonstrativen Konsum und damit hochpreisigen Gütern in Moskau höher ist als in Österreich oder Schweden.
Ein breiterer Ansatz zur Messung regionaler Unterschiede beim Pro-Kopf-BIP bestärkt das Bild. Das durchschnittliche BIP pro Kopf der fünf ärmsten Region liegt in Relation zu den fünf reichsten Regionen ebenfalls nur bei etwa 9 Prozent, das durchschnittliche BIP pro Kopf der zehn ärmsten Region liegt in Relation zu den zehn reichsten Regionen bei nur etwa 15 Prozent. Die Einkommensdisparitäten in Russland sind auch im internationalen Vergleich sehr hoch. Das Verhältnis des BIP pro Kopf in der ärmsten und reichsten Landesregion liegt in kaum einem anderen bedeutenden aufstrebenden Land auf so niedrigem Niveau wie in Russland. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass eine komplexere statistische Maßzahl wie der regionale Gini-Koeffizient, der die Schere zwischen reichen und armen Regionen misst, in Russland auf dem höchsten Niveau im Vergleich zu anderen (aufstrebenden) Ländern vergleichbaren Entwicklungsstandes liegt. In einer umfassenden Vergleichsstudie der OECD weist Russland für 2007 einen Gini-Koeffizienten von 0,47 auf (der Gini-Koeffizient liegt zwischen 0 und 1, wobei 0 eine Gleichverteilung bedeutet und 1 eine extreme Ungleichverteilung). Alle möglichen Vergleichsländer – mit teils deutlich niedrigeren Einkommensniveaus – weisen Werte unter 0,40 auf: Indien mit 0,39, Mexico mit 0,38, China und Brasilien mit 0,3 oder die Türkei und Südafrika mit Werten von 0,25 und 0,24. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der regionale Gini-Koeffizient bei 0,12. Auch in einem Rohstoffland wie Chile, das von extremen sozialen und regionalen Ungleichheiten geprägt ist, liegt der regionale Gini-Koeffizient bei 0,35. Mit anderen Worten: Auf dem aktuellen Einkommensniveau sollte der regionale Gini-Koeffizient Russlands signifikant niedriger liegen, etwa im Bereich von 0,3 bis 0,35. Zumal sich der regionale Gini-Koeffizient in Russland im Zeitraum von 2000 bis 2007/2010 (wo es die letzten verlässlichen vergleichbaren internationale Daten hierzu gibt) tendenziell verschlechtert hat.
Weiterhin extreme Einkommensunterschiede – nicht nur zwischen den Regionen
Die extreme Konzentration des Reichtums in Russland an wenigen Orten wird auch deutlich, wenn man die Bevölkerungsanteile der Regionen in Relation zu ihrem Anteil am (aggregierten regionalen) BIP Russlands setzt. In der Hauptstadt Moskau leben ca. 8 Prozent der Bevölkerung Russlands (bzw. befinden sich knapp unter 8 Prozent der Haushalte), während das regionale BIP Moskaus knapp über 20 Prozent des BIP Russlands ausmacht. Damit liegt das regionale Pro-Kopf-BIP Moskaus bei etwa 270 Prozent des Landesdurchschnitts Russlands und das Medianeinkommen in Moskau bei hohen 220 Prozent des Medianeinkommens aller Regionen in Russland. Das regionale Medianeinkommen berücksichtigt, im Gegensatz zum regionalen BIP pro Kopf auch Transferleistungen, die von Moskau an die regionalen Haushalte geleistet werden. Daher liegt das Medianeinkommen in den wirtschaftlich schwächeren Regionen, in Relation zum Landesdurchschnitt, meist über dem regionalen BIP pro Kopf (in Relation zum Landesdurchschnitt). Daher sind die regionalen Diskrepanzen in Russland – gemessen am regionalen Medianeinkommen – etwas geringer als beim regionalen BIP pro Kopf. Zudem ist, rein statistisch gesehen, das Medianeinkommen einer Region weniger abhängig von einzelnen Ausreißern innerhalb der Regionen. Die Zahlen zeigen auch, dass ein Teil der außerordentlichen regionalen wirtschaftlichen Divergenzen in Russland partiell (noch) über Transfers ausgeglichen werden. Die regionalen Diskrepanzen bei weiteren praxisrelevanten Wirtschaftsindikatoren (z. B. bei Pro-Kopf-Umsätzen im Einzelhandel) bleiben trotz Transfers jedoch hoch. Die Niveaus von 270 Prozent des Pro-Kopf-BIP in Moskau im Vergleich mit dem Landesdurchschnitt (bzw. 212 Prozent und 204 Prozent für das Medianeinkommen und die Einzelhandelsumsätze im Vergleich zum Landesschnitt) verweisen nochmals auf die extreme Wohlstandskonzentration dort. Letztere spiegelt in gewisser Weise auch eine extreme »Lohninflation« wider. Beispielsweise verdienen leitende Angestellte bei westlichen Firmen in Moskau oft ein Vielfaches ihrer Kollegen in anderen, auch deutlich wohlhabenderen Ländern.
Bereits die extreme Konzentration in Moskau impliziert, dass es unter den 30 bevölkerungsreichsten Regionen nur noch in vier weiteren Regionen der BIP-Anteil über dem Bevölkerungsanteil liegt. Für den Rest der über 70 Regionen Russlands liegt der BIP-Anteil teils mehr oder weniger deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil. Damit ergibt sich in Bezug auf die regionale BIP-Verteilung Russland ein dramatisches Bild. Über 50 Prozent der Regionen (also etwa 40 Regionen) haben ein regionales Niveau des BIP pro Kopf, das nur bei etwa 50–70 Prozent des Landesdurchschnitts liegt, während zehn bis elf Regionen ein extrem überdurchschnittliches regionales BIP aufweisen. Insgesamt weisen 64 Regionen Russlands ein regionales BIP unter dem Landesdurchschnitt auf, 18 Regionen ein BIP über dem Landesmittel. Hier sind 82 Regionen berücksichtigt, für die es verlässliche langfristige Zeitreihen für wichtige wirtschaftliche Indikatoren gibt, darunter für die im nachfolgenden angestellten Vergleiche. So gibt es für den autonomen Bezirk der Chanten und Mansen sowie den Jamal-Nenzen und für die Region Kamtschatka keine verlässlichen langfristigen Zeitreihen. Das ist zum Teil durch administrative Umgliederungen bedingt.
Die regionalen Daten zu den Pro-Kopf-Einzelhandelsumsätzen sind von nahezu der gleichen regionalen Disparität geprägt wie die Daten zum BIP pro Kopf. Gemäß den Daten für 2012 weisen 66 Regionen Russlands Einzelhandelsumsätze unter dem Landesdurchschnitt auf, und nur 16 über dem Landesmittel. Das erscheint schlüssig, denn erst ab der Befriedigung eines gewissen Basiskonsums werden dann höherpreisige Angebote nachgefragt, während in anderen Regionen die Einzelhandelsumsätze kaum über den Basiskonsum hinausgehen. Allerdings ist bei den Einzelhandelsumsätzen pro Kopf die absolute Differenz zwischen ärmeren und reicheren Regionen immerhin etwas geringer als beim BIP pro Kopf, was gewisse ausgleichende Effekte (etwa über Transferleistungen) nahelegt. Das skizzierte Bild zeigt sich auch daran, dass beim BIP pro Kopf die Regionen mit einem Wert unter dem Landesmittel eine durchschnittliche Differenz von 30 Prozentpunkten zum Durchschnitt aufweisen; beim Median-Einkommen beträgt der Wert 13 Prozentpunkte, beim Pro-Kopf-Einzelhandelsumsatz jedoch liegt die Differenz zum Landesschnitt wieder bei 24 Prozentpunkten. Die regionalen Minimalwerte im Vergleich zum Landesdurchschnitt liegen beim BIP pro Kopf bei etwa 20 Prozent oder darunter, beim Median-Einkommen bei 60 Prozent und beim Pro-Kopf-Einzelhandelsumsatz bei knapp 20 Prozent oder leicht darüber.
Gründe für den Verlauf der Divergenzen
Insgesamt sind die extremen regionalen Disparitäten in Russland teils einer durchaus plausiblen historischen und geographisch bedingten Konzentration geschuldet. Hier wäre die Konzentration der Rohstoffförderung im Uralgebiet zu nennen, die Konzentration der Bevölkerung im europäischen Teil Russlands (etwa 70 Prozent der Bevölkerung leben auf 25 Prozent der Landfläche, und das vorwiegend in westlichen Landesteilen) oder die Konzentration der Administration und des Geschäftslebens in Moskau. Allerdings darf das äußerst schwache Aufholen der weniger entwickelten Regionen Russlands über die letzten Jahre auch nicht den Blick darauf verstellen, dass es offenbar tiefere wirtschaftsstrukturelle und institutionelle Gründe für die erheblichen Einkommensdisparitäten in Russland gibt – sowohl zwischen den Regionen als auch innerhalb der Regionen. Die bis dato wenig erfolgreiche Diversifizierung und Modernisierung der russischen Wirtschaft ist sicher nicht förderlich für eine breitere Konvergenz der regionalen Wohlstandsniveaus (die Renten aus dem Rohstoffsektor haben in der Regel nur sehr geringe breitere ökonomische Abstrahleffekte innerhalb einer Region und auf die Nachbarregionen, etwa für weitere Investitionen in anderen Sektoren). Zudem behindern sicher auch allgemeine institutionelle Schwächen in Russland eine breitere Verteilung des Wohlstandes. Wichtige öffentliche Güter (wie Infrastruktur, Bildung) werden weder effizient noch gleichmäßig in den Regionen bereitgestellt.
Der Trend der zunehmenden und dann wieder abnehmenden regionalen Einkommensdivergenz in Russland ist nicht unbedingt durch einen strukturellen Weiterentwicklungsprozess geprägt, wie er durch zunehmende Modernisierung und Industrialisierung zu begründen wäre (wie es etwa die Kuznets-These unterstellt). Vielmehr kann die Entwicklung eher durch ein seit 2008/2009 absolut und relativ zurückgehendes Einkommensniveaus in den (Rohstoff-)Boomregionen erklärt werden, wodurch die ärmsten Regionen zumindest statistisch aufholen konnten. Die ärmeren Regionen haben sich dennoch nicht weiterentwickelt. Hervorzuheben ist in diesem Kontext, dass die schwache regionale BIP- und Einkommensentwicklung im Vergleich zum landesweiten Trend nicht nur auf einzelne benachteiligte »Randregionen« in Russland begrenzt ist. Unter den 30 bevölkerungsreichsten Regionen Russlands, also Regionen mit zumindest jeweils einem Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung, gibt es etliche Regionen die eine deutlich unterproportionale Entwicklung im Vergleich zu den reichsten Regionen bzw. dem Landesdurchschnitt aufweisen. Unter den Regionen mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Entwicklung des BIP pro Kopf befinden sich nicht nur eindeutig (wirtschafts-)historisch oder geographisch ganz periphere Regionen, sondern auch Regionen wie die Gebiete Tula, Rostow, Samara, Saratow, Irkutsk oder Nowosibirsk (zum Teil Regionen die noch heute unter der planwirtschaftlichen Monostrukturproblematik der Sowjetunion leiden, etwa bei der teils extremen Konzentration im Rüstungsbereich).
Institutionelle Reformen sind notwendig
Russland steht in Bezug auf seine regionale Differenzierung vor erheblichen Herausforderungen, die durch die sich abzeichnende kurz- und auch mittelfristig eher schwache makroökonomische Entwicklung noch verschärft werden. Und dennoch: Einige wenige russische Regionen – abseits der traditionellen Wirtschafts- und Rohstoffzentren – weisen eine positivere Entwicklung als der skizzierte Gesamttrend auf. In diesem Kontext wird oft auf Regionen wie die Gebiete Kaluga, Uljanowsk, Nischnyj Nowgorod verwiesen. Die positive Entwicklung von etwa fünf bis maximal zehn Regionen über dem Landesdurchschnitt wird durch ein besseres Wirtschafts- und Investitionsumfeld im Vergleich zum erschreckend schlechten Landesdurchschnitt erreicht. Einige erfolgreiche Regionen weisen geringere administrative Hürden, weniger Korruption und ein überdurchschnittliches Ausbildungs- und Qualifizierungsumfeld auf. Allerdings sind solche regionalen Erfolge mit Vorsicht zu bewerten. Zwar basieren in der Regel die Erfolge in solchen Regionen auf einer engagierten Lokal- bzw. Stadtverwaltung und hier vor allem dem persönlichen Engagement einiger weniger Führungspersonen. Allerdings sind solche Entwicklungen in gewisser Weise die Fortsetzung des personalisierten Politiksystems des Gesamtstaates auf Regionalebene.
Die skizzierten extremen regionalen ökonomischen Disparitäten in Russland werden durch einen auch für das Gesamtland gültigen Trend bestätigt. In Relation zu dem hohen durchschnittlichen Einkommensniveau in Russland (weit über dem in anderen großen aufstrebenden Ländern) ist die institutionelle Qualität des Landes – was sich in der Regel auch in dem Ausmaß der regionalen Disparität in einem Land zeigt – eher unter dem Niveau in vergleichbaren Volkswirtschaften. Zudem sind die erheblichen regionalen Einkommensdisparitäten in gewisser Weise ein Spiegelbild des extrem zentralisierten politischen Systems des Landes. Denn der Tendenz nach weisen Länder mit einer größeren Verteilung der Macht im Land in der Regel auch ausgeglichenere regionale Einkommensverteilungen auf.
Zudem sollte der Bezug zwischen den erheblichen regionalen Einkommensdisparitäten und der zunehmend enttäuschenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Russlands insgesamt nicht vernachlässigt werden. Neuere Forschungsarbeiten des Internationalen Währungsfonds – sicher keine Institution, die vorschnell nach Umverteilung ruft – zeigen klar, dass zu große (regionale) Ungleichheit in einem Land ab einem gewissen Grad die langfristige gesamtwirtschaftliche Entwicklung eines Landes hemmt oder aber ein gewisses Maß an Gleichheit ab einem gewissen Niveau eher stetiges Wachstum fördert.
Die Rolle ausländischer Unternehmen und der Direktinvestitionen
Die zunehmende Expansion einiger klar auf den Binnenmarkt Russlands fokussierter ausländischer Unternehmen in die Regionen widerspricht ebenfalls nicht dem Bild der erheblichen und teils bedenklichen Einkommensdisparitäten in Russland. Meistens fokussieren sich die Regionalstrategien ausländischer Unternehmen eben genau auf sehr wenige weitere Regionen bzw. regionale Zentren. Zumal einige der sich wirtschaftlich besser entwickelnden Regionen Russlands sich eben gerade im Sog des großen Zentrums Moskau entwickeln, was sich (gravitationstheoretisch) hauptsächlich durch Abstrahleffekte und nicht unbedingt nur durch besondere Bedingungen vor Ort erklären lässt. Zumal die Expansion einiger Firmen in weitere Regionen Russlands teils auch der Überpenetration in den ganz großen Ballungsräumen wie Moskau und Sankt Petersburg geschuldet ist. In diesem Kontext gilt zu betonen, dass ca. 40–50 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in Russland in Moskau und Sankt Petersburg konzentriert sind und diese Standorte weiterhin die größte Attraktivität für Investoren haben, obwohl die Investitionsbedingungen in den wenigen wirtschaftlich erfolgreichen Regionen des Landes zum Teil besser sind.
Hohe Neuverschuldung und Schuldendynamik könnte Regionen überfordern
Bis dato werden die extremen regionalen Unterschiede bei der Wirtschaftskraft der Regionen Russlands (noch) partiell durch Transfers ausgeglichen. Allerdings wird der (fiskalische) Umverteilungsspielraum in Russland, etwa über Kredite des Zentralstaates an die Regionen, angesichts der makroökonomischen Wachstumsschwäche sowie der klaren politischen Konzentration der Regierung in Moskau auf ein so genanntes »Verwalten« der akkumulierten Puffer auf zentralstaatlicher Ebene (also der Reservefonds und der hohen Devisenreserven, die für Russland wichtige Puffer darstellen) in den kommenden Jahren eher geringer. Dies zeigt sich unter anderem an dem klaren Bestreben, Kredite der Zentralregierung an die Regionen in den kommenden Jahren eher zu reduzieren. Traditionell wäre ja die Fiskalpolitik ein Element zur Behebung der massiven regionalen wirtschaftlichen Disparitäten. Insofern ist es auch nicht überraschend, dass immer mehr Aufgaben in den Bereichen Soziales, Bildung oder Infrastruktur den Regionen übertragen werden, die diese aber teils nicht wirklich schultern können, da ihnen gleichzeitig angemessene Besteuerungsmöglichkeiten oder alternative Einnahmequellen fehlen.
Damit ist allerdings in den letzten Jahren auch die Verschuldung der Regionen Russland – ausgehend von noch niedrigen Niveaus – deutlich gestiegen. Einige der größeren und prosperierenden Regionen (die ca. 30–40 Prozent der Schuldenaufnahme der Regionen repräsentieren) finanzieren ihre Schuldenaufnahme derzeit vorwiegend über auf Rubel lautende Kapitalmarktinstrumente auf dem lokalen Anleihenmarkt (zu meist noch moderaten Konditionen und mit längeren Laufzeiten). Im Gegensatz dazu finanziert sich das Gros der eher kleineren und/oder auch weniger prosperierenden Regionen Russlands (die ca. 60–70 Prozent der Schuldenaufnahme der Regionen repräsentieren) vorwiegend über Bankkredite. Letztere sind in der Regel eher kurzlaufend und weisen schon heute recht hohe Zinsniveaus auf (v.a. im Vergleich zu Krediten der Zentralregierung an die Regionen). Gerade die Verschuldung über kurzfristige Bankkredite birgt im aktuellen Umfeld der Zinsvolatilität und der steigenden Zinsen in Russland für einige Regionen erhebliche kurzfristige Liquiditäts- und Zinsrisiken. Laut Schätzungen aus der Finanzbranche und von Ratingagenturen hat sich die Verschuldung der Regionen Russland seit der Finanzkrise 2008/2009 mehr als verdoppelt, von etwa 35 Milliarden Dollar auf geschätzte 78 Milliarden Dollar zum Jahresende 2013. Und bei Fortführung aktueller Trends könnte die Verschuldung der Regionen Russlands 2015 ein Niveau von 100 Milliarden Dollar überschreiten (immerhin ca. 5 Prozent des BIP Russlands bzw. die Hälfte der Verschuldung des Zentralstaates).
Bei einer Fortsetzung der aktuellen Verschuldungsdynamik könnten in den Jahren 2015 und 2016 nur noch etwa 15–20 von 83 Regionen in der Lage sein, ohne signifikante ad-hoc-Zuschüsse der Zentralregierung oder Schuldenstreckungen ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Angesichts des 2014 zu erwartenden Einbruchs bei der Unternehmensbesteuerung, die im Schnitt etwa 25 Prozent des Einkommens der Regionen ausmacht, könnte 2014 allerdings wieder eine finanzielle ad-hoc-Unterstützung einiger Regionen notwendig werden. Eine regionale Fiskalpolitik aber, die vor allem auf kurzfristige Bankkredite (oft durch Staatsbanken) und ad-hoc-Kredite der Zentralregierung (die im Schnitt etwa 20 Prozent der Einnahmen der Regionen ausmachen) setzt, wobei letztere oft in einer eher intransparenten und wenig institutionalisierten Weise vergeben werden, erscheint zudem nicht als sinnvoller Rahmen, um eine nachhaltige regionale Ressourcen(um)verteilung zu organisieren.
Die zunehmende Verschuldung der Regionen Russlands ist auch – über die reine Verschuldungsproblematik hinaus – von breiterer ökonomischer Relevanz, da gerade die Regionen selbst durch Investitionen Teile der Engpässe zur weiteren ökonomischen Entwicklung des Gesamtlandes schließen müssten, aber viele Regionen dies in Zukunft wohl immer weniger leisten können. Angesichts der zunehmenden laufenden Finanzierungserfordernisse russischer Regionen könnte auch das Verbot der Finanzierung auf den internationalen Kapitalmärkten aufgehoben werden (die Möglichkeit der Aufnahme von Auslandsschulden wurde den Regionen als Folge der Finanzkrise 1998/1999 größtenteils genommen). Diese Bestrebung ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Regionen Russlands auf den internationalen Kapitalmärkten Gelder zu etwas niedrigeren Zinsen und mit längeren Laufzeiten als auf dem lokalen Markt erhalten könnten. Wobei die Vorgaben für vorgeschlagene Kriterien zur Erlaubnis der Aufnahme von Auslandsschulden auf regionaler Ebene (v.a. der Besitz einer Bonitätseinschätzung auf dem Niveau Russlands, was ja eben gerade durch die Puffer der Zentralregierung gestützt wird) derart strikt sind, dass wohl nur fünf oder sechs der 85 Regionen hierfür in Frage kommen könnten. Damit könnte sich die Diskrepanz zwischen den bereits entwickelten Regionen und dem Rest des Landes mit dieser Maßnahme sogar noch weiter verstärken. Zumal reichere Regionen für die kommenden Jahre gegebenenfalls einiges an Privatisierungspotenzial haben, was für die weniger entwickelten Regionen nicht gilt.
Insgesamt kann die Neuverschuldung in den Regionen Russland in Bezug auf ihre Geschwindigkeit (noch nicht ihre Niveaus) schon in den kommenden Jahren zunehmend problematisch werden, da natürlich auf absehbare Zeit dann auch Anschlussfinanzierungen benötigt werden. Ferner erhöht die Finanzierung über kurzfristige Bankkredite die Abhängigkeit der Regionen von ihren Kreditgebern – oft die großen Staatsbanken –, was durchaus ein politisches Element beinhalten kann; dies gilt besonders im Kontext des für 2014 zu erwartenden deutlichen Wirtschaftsabschwungs; letzterer wird die Einnahmeseite der Regionen (etwa über die Unternehmensbesteuerung) nochmals schwächen. Hier gilt zu beachten, dass auch im Kontext der schwierigen wirtschaftlichen Situation in den Jahren 2008/2009 sich die Zentralregierung in Moskau (direkt oder indirekt) über intransparente ad-hoc-Finanzhilfe zunehmenden Einfluss auf regionaler Ebene verschafft hat.
In Bezug auf die zunehmende Verschuldung der Regionen Russlands ist auch zu beachten, dass die oft auf »Einmaleffekte« (etwa durch Großereignisse) abzielende Politik der Zentralregierung erhebliche Finanzierungs- und vor allem Erhaltungsausgaben für die Regionen impliziert. So sind die Schuldenausgaben einer Region wie Krasnodar unter anderem durch die Winterolympiade von etwa 3 Prozent der Einnahmen im Jahr 2009 auf etwa 50–60 Prozent in 2013 gestiegen. Exemplarisch wurden viele der Olympia-Ausgaben über die staatliche »Wneschekonombank« (VEB) finanziert und einige dieser Engagements werden derzeit schon umstrukturiert. Eine ähnliche Entwicklung wie durch Sotschi in den letzten Jahren droht nun in den elf Austragungsorten (bzw. -regionen) der Fußball-Weltmeisterschaft in vier Jahren (wo Sotschi wieder dabei sein wird). Sollte die Fußball-Weltmeisterschaft annäherungsweise so viel kosten wie vergleichbare Ereignisse in anderen Ländern, könnten Ausgaben zwischen 40–100 Milliarden Dollar anfallen, wovon dann voraussichtlich etwa 30–50 Prozent von den Regionen gestemmt werden müsste. Damit könnte die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 die Verschuldungsproblematik in den Regionen Russlands noch weiter verschärfen.
Politische und ökonomische Implikationen hoher Einkommensdisparität
Wie im vorliegenden Beitrag dargestellt, sind Russlands Regionen von extremen Disparitäten beim regionalen BIP pro Kopf geprägt, was zum Teil dann über Transfers leicht ausgeglichen wird, sich aber dennoch in relevanten ökonomischen Variablen (wie etwa den regionalen Pro-Kopf-Einzelhandelsumsätzen) zeigt. Hier liegen die Niveaus der Disparitäten nahe bei denen für die BIP-pro-Kopf Werte. Die extremen Einkommensunterschiede in Russland haben alles andere als triviale (sozio-) ökonomische und politische Implikationen. Einerseits ist das Einkommensniveaus in den wenigen prosperierenden Zentren und Regionen auf einem extremen Niveau in Relation zum Entwicklungsstand des Landes. Dies kann für Wirtschaftsakteure, die auf diese Kaufkraft abzielen, durchaus von Interesse sein. Allerdings können Marktauftritte und Marktstrategien, die in den wirtschaftlichen Zentren Russlands funktionieren, nicht einfach in weitere Regionen übertragen werden. Zudem entsteht durch die teils sehr hohen Einkommens- und Lohniveaus in wenigen Regionen ein genereller Lohndruck, zumindest in an die prosperierenden Zentren und Regionen angrenzende Regionen, der für die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamtlandes abträglich ist. Lohnsteigerungen spiegeln zum Beispiel nicht die Produktivitätszuwächse wieder. Zudem erschweren die extremen wirtschaftlichen und sozio-ökonomischen Disparitäten zunehmend die Anschlussfähigkeit der weniger entwickelten Regionen bzw. deren Bevölkerung an die deutlich weiter entwickelten Regionen und die dort lebende Bevölkerung. So liegt die Lebenserwartung in wohlhabenden Regionen wie Moskau oder Sankt Petersburg derzeit schon bei über 70 Jahren, während sie in den ärmeren Regionen des Landes eher bei knapp über 50 Jahren liegt. Auch die Arbeitsmarkterfordernisse in Moskau oder den wenigen weiteren aufstrebenden Regionen Russland (etwa in Bezug auf geforderte IT-Kenntnisse, Fremdsprachenniveau oder generelle Arbeits- und Lebenseinstellung) sind mittlerweile so, dass sie viele Bewohner aus den weniger entwickelten Regionen Russlands nicht mehr erfüllen können. Das limitiert die interregionale Mobilität zunehmend, was dann immer mehr auch sehr limitierte intergenerationale Aufstiegschancen bedeutet; das ist ein klassischer Effekt einer sehr ungleichen regionalen Einkommens- und Wohlstandsverteilung. Damit bergen die skizzierten gewichtigen sozioökonomischen regionalen Divergenzen in Russland erhebliches politisches Mobilisierungspotenzial, das bis dato in dem politisch sehr konzentrierten Staat noch kaum genutzt wird.
Abschließend ist in Bezug auf politische Implikationen auch klar darauf zu verweisen, dass auch die wenigen wirtschaftlich erfolgreicheren Regionen Russlands, trotz eines besseren institutionellen Umfelds als im Landesschnitt, vermutlich nur im bestehenden politischen System reüssieren können. Damit erscheint es fraglich, ob die Regionen Russlands wirklich als Motor der Modernisierung bzw. des politischen und gesellschaftlichen Wandels betrachtet werden können. Dieser Aspekt ist von Relevanz, da es in den letzten Jahren einige Ansätze in diese Richtung gab, etwa bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) oder im Rahmen des »World Economic Forum«, die sich beide, teils auch mit einer solchen Intention, den erfolgreichen Regionen Russlands in besonderer Weise zugewandt haben.