Vom Wachstumsoptimismus zum Wachstumspessimismus
Als nach der Wirtschaftskrise 2008 das Wirtschaftswachstum zunächst wieder angezogen hatte, glaubte die politische Führung an eine Wiederholung des Rekordwachstums während des ersten Jahrzehnts, als Russlands Volkswirtschaft bis zur Krise 2008 mit durchschnittlich sieben Prozent pro Jahr gewachsen war. Im Januar 2011 hielt der damalige Präsident Dmitrij Medwedew für die Zukunft sogar ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von acht bis zehn Prozent für möglich. Noch Anfang 2013 gab Medwedew ein jährliches Wirtschaftswachstum von mindestens fünf Prozent als Ziel vor. Der Glaube an die Machbarkeit von Wirtschaftswachstum durch staatliche Dekrete erwies sich jedoch schnell als Illusion. Tatsächlich ist Russlands Wirtschaft 2013 nur um 1,3 Prozent und damit weniger als die der meisten anderen Staaten im postsowjetischen Raum gewachsen. Nur Belarus und die Ukraine, die beide auf Russland als Absatzmarkt angewiesen sind, verzeichneten 2013 ein noch geringeres Wirtschaftswachstum.
Anfang 2014 erhoffte sich Russlands Führung das Einschwenken auf einen Wachstumspfad mit Wachstumsraten von mindestens drei Prozent pro Jahr. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise sind diese Erwartungen jedoch fragwürdig geworden. Russlands Kapitalbesitzer transferieren liquide Mittel ins Ausland, wodurch der Kapitalabfluss 2014 nach Einschätzung des ehemaligen Finanzministers Kudrin mindestens 150 Mrd. US-Dollar erreichen wird (<http://ria.ru/economy/20140327/1001269949.html>). Die dadurch bewirkten vermehrten Käufe von Devisen führen zur Abwertung des Rubels, was Importwaren verteuert und dadurch die Inflationsrate erhöht, ohne dass die Verbilligung der eigenen Exporte einen Exportboom bewirkt. Die Zentralbank reagierte auf die über ihrem Inflationsziel liegende Inflationsrate mit Erhöhung des Leitzinses, was Kredite verteuert und die Investitionsneigung dämpft. Für 2014 und möglicherweise auch für die Folgejahre ist so kein Wirtschaftswachstum zu erwarten, sondern Stagnation plus Inflation (»Stagflation«).
Wachstumslokomotive Erdölexport
Die Dynamik der gesamtwirtschaftlichen Produktion wird in Russland vor allem durch die Veränderung des Warenexports bestimmt. Für diesen hat die Nachfrage nach Energieträgern, darunter an erster Stelle Erdöl und Erdölprodukte (Benzin, Diesel, Schmierstoffe), die über 50 Prozent Anteil am Warenexport ausmachen, besondere Bedeutung. Geringere Bedeutung für die Wachstumsdynamik der Volkswirtschaft hat Erdgas mit einem Exportanteil von 13 Prozent. Der Kohleexport mit einem Anteil von zwei Prozent spielt für die Volkswirtschaft nur eine untergeordnete Rolle (siehe Tabelle 1 auf S. 7).
Die Schwankungen der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts Russlands verlaufen parallel zum Wert des Warenexports, der wiederum weitgehend der Veränderung des Ölpreises folgt (siehe Grafik 1 auf S. 8). Das hat mehrere Gründe: Erstens bedeutet ein Anstieg des Ölpreises vermehrte Gewinne beim Export von Rohöl und Ölprodukten. Zweitens wird die Inbetriebnahme von Ölfeldern mit höheren Förderkosten rentabel, was entsprechende Investitionen in Fördereinrichtungen, Pipelines und Verarbeitungsbetriebe nach sich zieht. Dadurch steigen wiederum die Aufträge an den Maschinen- und Fahrzeugbau, was positive Rückwirkungen auf vorgelagerte Industriezweige, die Beschäftigung und den Konsum hat. Da Ölförderung und Ölexport hoch besteuert werden, können hiermit auch die Staatsausgaben steigen. Der Ölpreis ist die »Lokomotive« der Wirtschaftsentwicklung in Russland. Dieser Zusammenhang ist durch ökonometrische Studien bestätigt worden. Besonders starke positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum Russlands stellten sich ein, als der Erdölpreis zwischen 1999 und 2008 auf das Sechsfache und gleichzeitig die Ölfördermenge in Russland um zwei Drittel stieg. Nach dem Einbruch des Erdölpreises in der zweiten Jahreshälfte 2008 und seit seiner Erholung 2009 und 2010 stagniert der Ölpreis (wenn auch auf hohem Niveau) seit 2011 – und das Wirtschaftswachstum kommt in Russland zum Erliegen, obwohl die Ölförderung immer noch zunimmt (siehe Grafik 2 auf S. 8).
Die Zukunft des Ölpreises und von Russlands Öl- und Gasförderung
Führende Energieforschungseinrichtungen sind übereinstimmend der Ansicht, dass der »reale« Ölpreis (unter Herausrechnung der Inflationsrate in den westlichen Industrieländern) in den kommenden Jahrzehnten das 2008 erreichte Niveau nicht mehr wesentlich überschreiten wird. Die von der OECD getragene Internationale Energieagentur (IEA) nimmt in ihrem Referenzszenario (»New Policies«, bei aktiver Klimaschutzpolitik) an, dass der Ölpreis (der Ölsorte »Brent«) bis 2035 nicht wesentlich über 120 $ pro Barrel (159 l) ansteigen wird (IEA: World Energy Outlook. Paris 2013, S. 491). Die der US-Regierung unterstehende »Energy Information Administration« (EIA) erwartet in ihrem Referenzfall (mittleres Wirtschaftswachstum) einen Anstieg des Ölpreises bis 2035 auf knapp 150 $ pro Barrel (EIA: Annual Energy Outlook 2013, S. 31, <http://www.eia.gov/>). Derlei Prognosen können allerdings historische Ereignisse wie die Ukraine-Krise allerdings nicht einbeziehen, die einen deutlichen Anstieg des Ölpreises zur Folge haben können. Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum in Russland würden sich jedoch nur einstellen, wenn dieser Ölpreisanstieg jahrelang anhielte.
Russlands Ölförderung tendiert zur Stagnation, da überwiegend Erdöl in Feldern gefördert wird, die bereits seit den 1960er Jahren entdeckt worden waren und die nun sämtlich in die Phase des Förderrückgangs eingetreten sind. Für die zukünftige Entwicklung der Ölförderung ist entscheidend, wie rasch die Ausbeutungsrate in diesen Vorkommen absinken wird und wie schnell neue Felder »zur Kompensation« in Betrieb genommen werden können. Wie Russlands Energieminister Aleksandr Nowak im Oktober 2013 verkündete, erwartet man noch bis 2020 eine leichte Zunahme der Erdölförderung auf dann 535 Millionen Tonnen. Die EIA prognostiziert das Maximum der Ölförderung Russlands sogar erst im Jahr 2035 und bei 600 Millionen Tonnen. Es ist aber durchaus möglich, dass das Tempo der Neuerschließung nicht ausreicht, um den Rückgang der Ölförderung auf den erschöpften alten Feldern auszugleichen. Entsprechende pessimistische Prognosen (so von Wojciech Konończuk, siehe Lesetipps) besagen, dass die Ölförderung in Russland bereits ab 2015/2017 fallen wird. Demnach werde sie 2020 bei rund 500 Millionen Tonnen und 2030 nur noch zwischen 400 und 440 Millionen Tonnen liegen. Wenn aber der Westen in Reaktion auf einen Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ein Ölembargo gegenüber Russland verhängen würde, wozu er wegen der Möglichkeit des Ausweichens auf andere Lieferanten in der Lage ist, wäre ein drastischer Rückgang des Erdölexports und der Erdölförderung unausweichlich und ein schwerer und lange anhaltender Einbruch des Wirtschaftswachstums in Russland die Folge.
Bei Erdgas sind die Prognosen übereinstimmend optimistisch. Russlands Regierung wie auch westliche Energieforschungsinstitute gehen von einem Anstieg der Erdgasförderung gegenüber 2012 um rund 150 Mrd. m³ (das entspricht dem Doppelten des Erdgasverbrauchs in Deutschland) zumindest bis 2035 aus; dieser würde nicht von den Produktionsmöglichkeiten in Russland, sondern allenfalls von der Nachfrageentwicklung in Europa und in China begrenzt werden. Freilich tritt in Russland die Bedeutung von Erdgas als Exportprodukt und Mittel zur Generierung von Staatseinnahmen weit hinter dem Erdöl zurück, so dass die steigende Gasförderung einen ausgeprägten Rückgang der Ölförderung nicht ausgleichen könnte. Dass die russische Führung oder gar Gazprom selbst zur »Gaswaffe« (einer Blockade der Gaslieferungen in einzelne EU-Staaten oder die EU insgesamt) greifen könnte und wollte, gehört zu den am meisten kolportierten »Narrativen« im Russlanddiskurs. Wegen der symmetrischen Interdependenz der europäisch-russischen Gasbeziehungen scheidet die »Gaswaffe« sowohl für Russland als Druckmittel als auch für den Westen als Sanktionsinstrument aus. Deswegen sind Überlegungen, die auf Einschränkung der Gasbezüge aus Russland abzielen, unbegründet. Auch weil realistische Alternativen zum Gas aus Russland nicht bestehen, kann davon ausgegangen werden, dass Europa noch für Jahrzehnte der Hauptabsatzmarkt für Erdgas aus Russland bleiben wird.
Eine Einschränkung des Wirtschaftswachstums in Russland durch Rohstoffmangel ist kaum zu erwarten. Doch ist Rohstoffreichtum andererseits auch kein Garant für eine gedeihliche Wirtschaftsentwicklung. Die These vom »Ressourcenfluch« (resource curse) und die verwandte Theorie der »holländischen Krankheit« (Dutch disease) besagen, dass Reichtum an Naturressourcen in einer stark auf Rohstoffexport ausgerichteten Volkswirtschaft negative Wirkungen haben kann, wenn wie in Russland Gesellschaft und Staat nicht regulierend eingreifen. Zu diesen Wirkungen gehören eine ausgeprägte Abhängigkeit von der Weltmarktkonjunktur, eine starke Währung mit der Folge hoher Importe und geringer Exporte von Industriewaren, das Streben nach »mühelosem« Einkommen (»Ressourcenrenten«) und die Verfestigung autoritärer Herrschaft.
Die mit der Ukrainekrise verbundene Kapitalflucht bewirkt eine Abwertung des Rubels bzw. eine Verteuerung der Importgüter. Da das Land außer Rohstoffen (die in US-Dollar abgerechnet werden) aber nur wenige weltmarktfähige Waren anzubieten hat, wird gleichzeitig – trotz der abwertungsbedingten niedrigen Exportpreise der Industriewaren – jedoch kein ausgeprägter Exportboom ausgelöst, der das Wirtschaftswachstum wesentlich positiv beeinflussen könnte.
Investitionen und Investitionsklima
Der »Ölboom« der Jahre 2000–2008 war möglich, weil das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential zu Anfang des Jahrzehnts bei Weitem nicht ausgelastet gewesen war. Die gesamtwirtschaftliche Produktion war der amtlichen Statistik zufolge zwischen 1988 und 1998 um rund 60 Prozent zurückgegangen. Das Produktionspotential (der Kapitalstock, das Sachanlagevermögen) hatte dagegen im selben Zeitraum stagniert, weil selbst die geringen Investitionen der 1990er Jahre (die allerdings höher waren, als von der amtlichen Statistik ausgewiesen wird) zu seinem Erhalt ausreichten. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts bestand daher eine Kapazitätsreserve, die bei vergleichsweise geringen Investitionen in den Folgejahren eine Verdoppelung des BIP zuließ. Seither ist das Produktionspotential nahezu voll ausgelastet und bedarf zu seiner Erneuerung und Erweiterung höherer Investitionen als in den Vorjahren, in denen man noch »aus der Substanz« leben konnte. Bei einer Stagnation des Ölpreises und dem daraus resultierenden schwachen Impuls für das Wirtschaftswachstum sind aber nur niedrige Investitionen zu erwarten, die ihrerseits die gesamtwirtschaftliche Nachfrage dämpfen.
Die Ukraine-Krise wird gegenläufige Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit haben: Einerseits werden westliche Unternehmen ihre Investitionsvorhaben in Russland kürzen oder ganz fallen lassen und Kapital abziehen. Andererseits werden in Russland Produktionskapazitäten aufgebaut werden müssen, um wegfallende Importe aus der Ukraine (darunter vor allem Rüstungsgüter) zu ersetzen. Auf der Krim laufen zwar Infrastrukturprojekte wie die Schaffung einer Landverbindung zum russischen Festland an. Insgesamt aber dürfte die Investitionstätigkeit unter dem Eindruck der Ukraine-Krise jedoch verhalten bleiben.
Bevölkerung und Humankapital
Neben dem Realkapital ist der Arbeitskräfteeinsatz und dessen Produktivität der zweite wichtige Faktor, der den Umfang der Produktion und des möglichen Wirtschaftswachstums bestimmt. Das Arbeitskräftepotential hängt wiederum von der Bevölkerungsentwicklung ab. Für das nachsowjetische Russland war lange Zeit einerseits eine für Industrieländer typische niedrige Geburtenrate (unter 1,5 Kinder pro Frau), andererseits eine für Industrieländer atypisch hohe Sterblichkeit – vor allem im Alter zwischen 15 und 60 Jahren – kennzeichnend gewesen. Letztere war in erster Linie dafür verantwortlich, dass die Bevölkerung des Landes in den 1990er Jahren abnahm (siehe Grafik 3 auf S. 9). Hinzu kam die Emigration gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die im Westen nicht nur mehr verdienen können, sondern auch der in der Heimat herrschenden Willkür des staatlichen Apparats entgehen wollten. Dieser brain drain wird zwar quantitativ durch die Immigration von Arbeitskräften aus Zentralasien ersetzt, die aber nicht die berufliche Qualifikation der Emigranten aufweisen. Prognosen eines unaufhaltsamen Rückgangs der Bevölkerung haben sich im neuen Jahrtausend nicht bewahrheitet. Seit 2006 stagniert die Bevölkerung Russlands bei rund 143 Millionen, weil Geburten und Immigration zunahmen, während die Zahl der Gestorbenen zurückging (siehe Grafik 3 auf S. 9). Wie sich die Bevölkerung künftig entwickeln wird, kann nur mit einem beträchtlichen Spielraum geschätzt werden. Klar scheint zu sein, dass das Arbeitskräftepotential deutlich abnehmen wird, weil die geburtenstarken Jahrgänge der Spätzeit der Sowjetunion aus dem Erwerbsleben ausscheiden und die nachrückenden Generationen der nach 1990 Geborenen um 40 Prozent zahlenschwächer sind. Selbst der Migrationsüberschuss von rund 300.000 Menschen pro Jahr kann diesen Verlust nicht ausgleichen. Auch die Aufhebung der Visapflicht und der Arbeitsbeschränkungen für Arbeitskräfte aus Zentralasien, die für die Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland gebraucht werden, wird dieses Defizit nicht beseitigen können.
Staatlichen Wachstumspolitik und die Korruption
Für marktwirtschaftliche Reformen als Hauptinstrumente der Wirtschafts- und Wachstumspolitik sprechen sich in Russland die in westlichem ökonomischem Denken geschulten Ökonomen aus, die vorwiegend an den nach 1990 neu gegründeten wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulen tätig sind. Zu ihnen gehören Jewgenij Jasin, der Gründungsvater der Moskauer Hochschule für Ökonomie (»Higher School of Economics«) deren Rektor Jaroslaw Kusminow, der Vizerektor Andrej Jakowlew, der Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und den Staatsdienst Wladimir Mau, der Leiter der Ökonomischen Expertengruppe beim Finanzministerium Jewsej Gurwitsch sowie der im April 2013 nach Frankreich emigrierte ehemalige Rektor der Russischen wirtschaftswissenschaftlichen Hochschule Sergej Gurijew. Ihre wirtschaftspolitischen Positionen werden von wichtigen Staatsfunktionären wie dem Wirtschaftsberater des Präsidenten Andrej Belousow, Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew, der Zentralbankchefin Elvira Nabiullina und der Leiterin der Föderalen Agentur für die Verwaltung des Staatseigentums Olga Dergunowa geteilt, die alle auf Weisung Putins in ihre Ämter berufen wurden.
Ihnen und den Ratschlägen des IWF und der Weltbank ist zu verdanken, dass die Geld-, Finanz- und Privatisierungspolitik Russlands bislang noch eine »liberale« Handschrift aufweist: Die Zentralbank Russlands verfolgt mit ihrer Geldpolitik in erster Linie das Ziel einer Inflationskontrolle (inflation-targeting). Diesem Ziel diente auch die am 25.04.2014 erfolgte Erhöhung des Leitzinssatzes auf 7,5 Prozent (<http://cbr.ru/eng/press/pr.aspx?file=25042014_1335371.htm>). Außerdem erhöhte die Zentralbank die Flexibilität des Wechselkurses, damit »externe Schocks« besser absorbiert werden können, die aus der Volatilität des Ölpreises und damit der Exporteinnahmen resultieren. 2015 will sich die Zentralbank vollständig aus der Regulierung des Wechselkurses zurückziehen und sich darauf konzentrieren, die Inflation in einem im Voraus bekannt gegebenen Umfang zu senken. Sie verzichtet damit auf eine eigenständige Wachstumspolitik, die sie der Fiskalpolitik und der allgemeinen Reformpolitik überantwortet. Ob die Zentralbank allerdings ihre auf makroökonomische Stabilität ausgerichtete Geldpolitik beibehalten kann, wenn es im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise zu einem fundamentalen Kurswechsel der Außen- und Wirtschaftspolitik kommen sollte, ist zweifelhaft.
Die Staatsausgaben orientieren sich seit 2013 am durchschnittlichen Ölpreis der zehn Vorjahre. Die Budgetplanung begrenzt ab 2013 das Haushaltsdefizit auf ein Prozent des BIP, was den Spielraum für fiskalische Ankurbelungspolitik deutlich beschränkt. Die Privatisierung der Staatsunternehmen geht weiter. Wenn sich jedoch Russland nach dem Vorbild der Krim weitere Teile der Ukraine aneignen würde, müsste die Fiskalpolitik ihre Ausrichtung auf finanzielle Stabilität aufgeben. Dann würden nämlich aus dem Staatshaushalt nicht nur vermehrte Ausgaben für das Militär, sondern auch für den Umbau der Infrastruktur sowie Sozialausgaben zur Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Territorien an das in Kernrussland bestehende Niveau finanziert werden müssen; das würde die entsprechenden Aufwendungen für die Integration der Krim um ein Vielfaches übersteigen.
Ganz andere Positionen als die in der Geld- und Finanzpolitik tonangebenden »Liberalen« vertreten Wissenschaftler aus der ehemaligen sowjetischen ökonomisch-mathematischen Schule, die nun an der Russischen Akademie der Wissenschaften tätig sind, beispielsweise Sergej Glasjew und Viktor Iwanter. Sie und Gleichgesinnte wie Michail Deljagin haben sich in dem nach dem ehemaligen Wehrdorf Isborsk im Gebiet Pskov an der Grenze zu Estland benannten Isborsker Klub zusammen gefunden (Isborskij klub, <http://www.dynacon.ru/index.php>), der sich als »Institut des dynamischen Konservativismus« bezeichnet. Nach ihrer Meinung muss die Regierung vor allem den technologischen Fortschritt fördern, damit das Land eine »vorauseilende Entwicklung« einschlägt. Der Staat solle vorausschauend Investitionen in moderne Technologien sowie die Infrastruktur finanzieren. Glasjew stützt sich dabei auf die von Nikolaj Kondratjew nach dem Ersten Weltkrieg begründete Theorie der »langen Wellen« technologischer Neuerungen. Er glaubt, einen Technologiezyklus 2010–2040 identifiziert zu haben, in dem Nanotechnologie, Kernenergie und Heliumanwendungen entwickelt werden, während der Zyklus der Mikroelektronik 2010 seine Wachstumsphase beendet habe. Durch eine entsprechende Industriepolitik, die von einer wachstumsfördernden Geld- und Finanzpolitik flankiert wird, könnte nach seiner Meinung in Russland wieder Wirtschaftswachstum von mindestens sechs Prozent pro Jahr erzeugt werden. Zur Finanzierung sollen die Steuereinnahmen auf die Öl- und Gasexporte herangezogen werden, die im staatlichen Nationalen Wohlfahrtsfonds akkumuliert wurden. Die Regierung hat einige dieser Ideen in abgeschwächter Form aufgegriffen. Mittel im Umfang von rund 30 Mrd. Euro aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds sollen als Kredite in drei mehrjährige Verkehrsprojekte fließen: Zum einen in die Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke Moskau–Kasan, zweitens in eine kostenpflichtige Ringautobahn um Moskau und drittens in die Modernisierung der Transsibirischen Eisenbahnstrecken Transsib und BAM.
Es trifft zwar zu, dass durch die Verausgabung staatlicher Gelder ein die Wirtschaft anregender Effekt erzielt werden kann. Umstritten ist jedoch sowohl in der westlichen wie in der russländischen Fachwelt, wie stark und wie nachhaltig sich ein solcher Impuls auf das Wirtschaftswachstum auswirkt. Die staatliche »Sberbank« schätzt, dass die drei vorgesehenen Projekte das jährliche Wirtschaftswachstum langfristig um ein Drittel Prozent erhöhen würden. Die liberalen Kritiker dieses Vorschlags kommen dagegen zum Ergebnis, dass durch staatliche Verschuldung finanzierte Infrastrukturinvestitionen nur einen kurzfristigen Wachstumseffekt haben werden.
Die Ergebnisse der Industriepolitik werden in Russland in hohem Maße durch die Korruption beeinträchtigt. Diese gilt in Russland als ewiges Übel, gegen das der Staat machtlos zu sein scheint. Sowohl unter Jelzin als auch während Putins erster Präsidentschaft blieb die Korruptionsbekämpfung erfolglos. Immerhin sind – zumindest auf dem Papier – seither einige Fortschritte zu verzeichnen. 2008 war unter der Präsidentschaft Medwedews mit dem »Gesetz zur Bekämpfung der Korruption« erstmals der Straftatbestand der Korruption in das Strafrecht eingeführt worden. Zwei weitere Gesetze regelten 2008 und 2009 ebenfalls erstmals den Zugang zu Informationen der staatlichen Stellen und die Offenlegung von Informationen in der Justiz. Gesetze und Verordnungen müssen darauf hin überprüft werden, ob sie Korruption begünstigen. Inhaber öffentlicher Ämter müssen jährlich ihr Einkommen und Vermögen deklarieren. 2012 trat Russland der UN-Konvention gegen Korruption bei.
Trotz der größeren Offenheit lässt die Praxis der Korruptionsbekämpfung noch sehr zu wünschen übrig. Obwohl die Antikorruptionskonvention der UNO dies verlangt, wurden keine Gesetze zum Schutz von »Whistleblowern« verabschiedet. Russland weigert sich auch, den in Artikel 20 der Konvention formulierten Straftatbestand der »unerlaubten Bereicherung von Amtsträgern« in nationale Gesetzgebung zu übernehmen. Erst dadurch könnte jedoch die illegale Vermehrung des Vermögens von »hohen Tieren« belangt werden, da die vom Gesetz geforderte Deklaration des Vermögens folgenlos bleibt. Die »große Korruption« wird, ebenso wie die »kleine«, in Russland bislang nicht wirksam angegangen. Ebenso wenig wird die erpresserische Übernahme von Unternehmen (das sogenannte »rejderstwo«), die von Amtsträgern begünstigt wird, bekämpft. So lange hohe Ressourcenrenten zu verteilen sind, die Transparenz niedrig ist und die Bestrafung von Korruption ausbleibt, wird sie weiter gedeihen und das Wirtschaftsklima und damit auch das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen.
Wirtschaftliche und politische Modernisierung
Ökonomische Modernisierung, die sich nicht nur auf Industriepolitik und Technologieförderung beschränkt, verlangt, dass in der Wirtschaft formellen Regeln Geltung verschafft, Wettbewerb organisiert und bewahrt wird. Dies kann jedoch kaum gelingen, wenn auf dem Gebiet der Innenpolitik gerade Forderungen dieser Art zurückgewiesen werden. Was aber verhindert eine rasche Modernisierung der Gesellschaft und damit auch der Wirtschaft Russlands?
Nach Richard Sakwa agiert in Russland ein legal-rationaler Verfassungsstaat in enger Verflechtung mit einem neopatrimonialen Verwaltungsstaat. Die Macht ist in Netzwerken zentriert, die sich informeller Praktiken bedienen und die formale verfassungsmäßige Ordnung aushebeln. Im heutigen Russland stehen Sakwa zufolge zumindest drei Weltbilder miteinander in Konkurrenz und blockieren sich gegenseitig: Das erste ist das liberale Weltbild mit der Forderung nach einer »Rückkehr nach Europa« und einer westlichen Standards genügenden politischen Kultur. Dem liberalen steht ein »traditionalistisches« Weltbild entgegen, das von Monarchisten, die sich auf die Zeit des Imperiums berufen bis hin zu Vertretern neosowjetischen Denkens geteilt wird. Das Putin-Regime vertritt eine dazwischen angesiedelte »zentristische« Ideologie. Ihm fehlt jedoch eine eigene wirtschaftspolitische Idee, weswegen es sich mit einer Mischung von liberalen und interventionistischen Ansätzen behilft. Liberale wirtschaftspolitische Ansätze lassen sich in der Politik der Zentralbank, in der Privatisierungspolitik, der Förderung der Klein- und Mittelunternehmen sowie in der Wettbewerbspolitik erkennen. Andererseits werden in der Industriepolitik Zugeständnisse an die traditionalistischen Kräfte gemacht. Die Ukraine-Krise könnte, wenn sie eine grundsätzliche Abwendung Russlands vom Westen zur Folge hat, die interventionistische Richtung begünstigen. An die Spitze einer derartigen Bewegung stehen linksnationale Ökonomen und Politologen unter der Führung von Sergej Glasjew, die eine »Säuberung der Eliten« sowie die Entwicklung einer »effektiven planwirtschaftlichen Marktwirtschaft« bei einer Hinwendung zum kommunistischem China fordern (s. das Manifest des Isborsker Klubs vom 25.04.2014 »Die Ukraine zwischen dem Westen und Russland«, <http://www.dynacon.ru/>).
Wie Wladimir Mau feststellt, besitzt das Putinsche Russland Ähnlichkeiten mit der Sowjetunion vom Anfang der achtziger Jahre. Das Hauptproblem war damals der Widerstand gegen gesellschaftliche Modernisierung und ist es heute ebenfalls. Die reichliche Verfügbarkeit von Naturressourcen behinderte schon damals eine institutionelle und technologische Erneuerung, wie es auch heute der Fall ist. Ein Indikator dafür ist die Dominanz der Rohstoffwirtschaft und die auf Grund der niedrigen Arbeitsproduktivität bestehende Vollbeschäftigung. Wie das Beispiel der Sowjetunion zeigte, könne – so Wladimir Mau – eine derartige Stabilität jedoch schnell in Stagnation umschlagen. Bei weiterer Verschärfung der Ukraine-Krise und drohendem Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen könnte Russlands Wirtschaft tatsächlich schon bald auf dem Weg in die Stagnation sein.
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