Putins Rationalität

Von Jens Siegert (Berlin)

Es erinnert an eine Art Besessenheit, mit der sich viele Menschen in Russland ihren tatsächlichen oder imaginierten Feinden widmen. Einer der Lieblingsfeinde ist der ehemalige sicherheitspolitische Berater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, der bis heute, neben Henry Kissinger, als die graue Eminenz der US-Globalstrategen gilt. Was immer Brzezinski sagt, dient zur Illustration der Einkreisung Russland durch den Westen. Denn Brzezinski und seinesgleichen sind dessen geheime Drahtzieher. Vielleicht ist die Fixierung auf Brzezinski in Russland aber auch nur so groß, weil er betreibt, was vieler Russen liebstes Hobby ist: Geopolitik.

Nun wird ihm ja das Bonmot zugeschrieben, Russland sei ohne die Ukraine keine Weltmacht mehr. Allein das hört sich in vielen russischen Ohren wie Beweis und Geständnis zugleich für die finsteren Pläne »des Westens« an. Wenn Brzezinski recht hat (und einiges spricht dafür, auch wenn der Umkehrschluss, Russland sei mit der Ukraine wieder Weltmacht, durchaus zweifelhaft ist), dann entscheidet sich in diesen Wochen und Monaten, ob Russland noch einmal Imperium spielen darf. Ob das gut wäre für das Land und seine Leute, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich hielte es für eine Katastrophe.

Doch hier soll es nicht darum gehen, sondern darum, wie es dazu kommen konnte, obwohl niemand es für möglich gehalten hat (außer einigen obskuranten Wirrköpfen, die wir nun fast täglich im russischen Fernsehen bewundern dürfen).

Putins Politik hat sich von Anfang an durch eine hohe Rationalität ausgezeichnet, die man auch als ständige Kosten-Nutzen-Rechnung charakterisieren könnte. Er hatte das Ziel, Russland wieder zur Großmacht zu machen. Aber gleichzeitig trieb ihn die Erkenntnis, dass das nur möglich sein werde, wenn sich das Land, zumindest solange es schwach ist, an die allgemein geltenden internationalen (vulgo: »westlichen«) und möglichst auch ökonomischen Regeln hält. Ein alternativer Weltenwurf hatte darin zumindest in den 2000er Jahren (noch) keinen Platz. Entsprechend kamen alle Szenarien (an einer Szenariengruppe war auch ich beteiligt), die bis zum Ende der Präsidentschaft Medwedew entwickelt wurden, zu dem Schluss, dass zwei Dinge auf mittlere Sicht eher unwahrscheinlich seien: eine harte Diktatur im Inneren und ein offener Bruch mit dem Westen im Äußeren.

Doch das Unwahrscheinliche (wie uns schien) ist eingetreten. Putin hat direkt nach seinem dritten Amtsantritt 2012 erst im Inneren mit einer immer schärfer werdenden Re-Ideologisierung begonnen und scheint nun auch im Äußeren (mit der Annexion der Krim als Tipping Point) eben die offene Konfrontation mit dem Westen zu suchen. Doch warum? Wohin soll das führen? Und: Kann er Erfolg damit haben? Darauf weiß momentan wohl niemand eine Antwort. Auch ich schreibe hier nur ein paar Ideen, als Beitrag zum gemeinsamen Nachdenken.

Das naheliegendste Motiv für Putins Handeln der vergangenen zwei Jahre ist der Machterhalt. Er hatte sich mit seiner Rückkehr in den Kreml nach der Interimspräsidentschaft von Dmitrij Medwedjew verkalkuliert. Ein viel größerer (und viel wichtigerer) Teil der Bevölkerung als gedacht, fand diese Idee nicht gut. Gründe dafür gab (und gibt) es einige, die Finanz- und Wirtschaftskrise beispielsweise und die trüben Aussichten für die kommenden Jahre oder die vergebliche Hoffnung vieler auf eine Modernisierung des Landes inklusive einer zumindest vorsichtigen politischen Öffnung (oder wenigstens keiner weiteren Verschließung). Sehr wichtig, vielleicht am wichtigsten dürfte aber eine Banalität gewesen sein: Putins anfangs durchaus dynamisches, mit der Zeit aber immer autoritärer werdendes politisches System hatte sich im Laufe der Zeit in eine schnell alternde Diktatur verwandelt, wenn auch eine vorerst, um ein in Moskau umlaufendes Bonmot zu benutzen, weitgehend »vegetarische«.

Alternde Diktaturen, besonders Diktaturen, die an einer Führungsperson hängen, haben nun aber zwei Probleme und einen Vorteil. Die Probleme: Zum einen zeigt die Popularitätskurve des Führers mit der Zeit nach unten. An ihr aber hängen zu großen Teilen Legitimität und Machterhalt. Zwar kann eine gute und einigermaßen gerechte Wirtschaftspolitik hier eine Weile kompensierend wirken, aber einerseits geht es wirtschaftlich immer und überall auf und ab, und andererseits sinkt meist die Problemlösungskompetenz von autokratischen Regimen mit den Jahren.

Das zweite Problem hat etwas mit der Erneuerung der funktionalen Machteliten zu tun. Außerhalb eines engen Kerns von Vertrauten ist die Fluktuation meist hoch. Wenn die Probleme anfangen, ist es oft schon die zweite oder dritte Generation, die die Macht ausübt (aber nicht die Macht selbst besitzt!). Doch diese jüngere Generation ist in der Regel zynischer, daher gröber und nicht selten auch fanatischer als ihre Vorgänger. Im Ergebnis setzt sie beim Machterhalt tendenziell weniger darauf, Zustimmung durch gute Politik zu generieren, sondern manipuliert und setzt direkte Gewalt ein.

Der Vorteil: Der Chef ist inzwischen erfahren und abgebrüht, beherrscht die inneren wie die äußeren Machtspiele aus dem Effeff, hat das mögliche Konkurrentenfeld radikal leer gefegt und wird oft zum (wenn auch kontrollierten) Spieler.

Ähnliches passierte auch mit Putin. Mit dem (wenn auch langsamen) Abbröckeln seiner Popularität seit dem Protestwinter 2011/2012 konfrontiert, wählte er die Vorwärtsverteidigung. Er drängte die gerade erst neu entstandene politische Opposition zurück, ließ zahlreiche Protestierende in Gefängnis und Lager verschwinden, erklärte NGOs, die Geld aus dem Ausland bekommen zu »Agenten« und entwickelte Schritt für Schritt seine neue, dezidiert antiwestliche Ideologie.

Mit Ideologie ist es aber so eine Sache. Selbst wenn der Führer oder die Führungsgruppe selbst nicht zu den Gläubigen gehören (und davon gehe ich bei Putin immer noch aus, jedenfalls wenn wir »glauben« in einem eher engstirnigen, fanatischen Sinn verstehen), müssen sie die sie stützende Ideologie doch überzeugend öffentlich vertreten. Das gilt selbst für so in öffentlich-privater Schizophrenie geübten Gesellschaften wie der russischen. Diese Glaubwürdigkeit wird in Russland heute zusätzlich dadurch gestützt, dass bisher marginale obskurante Ideologen wie Alexander Dugin, politische Clowns wie Sergej Kurginjan oder der Putin-Berater und Wirtschaftswissenschaftler Sergej Glasjew, die sich bis vor nicht allzu langer Zeit noch im marginalen Niemandsland austobten, nun aus den Politiksendungen der staatlichen Fernsehprogramme nicht mehr wegzudenken sind. Es bleibt die vorerst nicht zu beantwortende Frage, wie weit die neue Ideologie Instrument ist und wie weit die politischen Führer sie glauben.

Die Ideologisierung hat im Übrigen noch eine weitere Stoßrichtung: Sie dient der Disziplinierung der eigenen Machteliten. Dabei unterscheidet sich das heutige Russland in einem Punkt grundsätzlich von der Sowjetunion. Die Sowjetunion war ein closed shop. Aller Druck blieb im Kessel. Wer nicht mehr mitmachen wollte oder als gefährlich galt, verschwand im inneren Exil, manchmal in der eigenen Wohnung, oft aber auch im Straflager. Die Möglichkeit Ausreise gab es kaum, wenn doch, war sie endgültig.

Heute scheint Putin auch bisherigen Unterstützern (und Profiteuren dieser Unterstützung) die Wahl zu lassen. Sie können ins Ausland (zu ihrem Geld) gehen oder sie müssen ihr Geld ins Land zurückholen und weiter dazu gehören. Dann aber unter strengerer Kontrolle. Ähnliches gilt, wenn auch unter weniger komfortablen Bedingungen für Menschen, die in Opposition zu Putin stehen. So wie es aussieht, soll so einer, wenn auch momentan sehr unwahrscheinlich erscheinenden Palastrevolte die Grundlage entzogen werden, bevor überhaupt jemand auf diese Idee kommen.

Zum Schluss will ich noch einmal auf Putins Machtdoktrin zurückkommen. Ihre Ratio könnte in den 2000er Jahre so gelautet haben: Modernisierung in mehr oder weniger begrenzter Zusammenarbeit mit dem Westen, um Russland wieder zur Großmacht zu machen, weil eine Modernisierung gegen den Westen unmöglich ist (oder zumindest sehr schwierig, sehr teuer und mit einem hohen Risiko des Scheiterns). Nun scheint sich eine andere Lesart (ein Traum vieler, auch vieler Außenpolitiker) durchzusetzen, die zwar nicht neu ist, aber bisher sowohl intellektuell als auch wirtschaftlich und politisch marginal war: Modernisierung gegen den Westen, weil Russland dazu inzwischen stark genug ist und der Westen viel schwächer als noch vor einem Jahrzehnt (vor der Finanz und Wirtschaftskrise, vor dem Niedergang der USA wegen militärischem und moralischem overstretch durch den Irakkrieg).

Ich glaube nicht, dass eine Modernisierung Russlands gegen den Westen möglich ist. Aber die Stimmung in Russland, auch außerhalb der politischen Eliten, ist anders. Es sieht immer mehr danach aus, dass sie das versuchen werden. Es wird ein teurer Versuch. Für den Westen, vor allem aber für Russland.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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